Hamburg. Abendblatt-Report zur Belastung der Polizei: Erst Schüsse stoppen den Mann mit dem Messer. Was das mit den Einsatzkräften macht.
Was macht der Job eines Polizisten oder einer Polizistin mit den Menschen in Uniform? Wie gehen sie mit belastenden Einsätzen um? Wie dem Einsatz an der Rahlstedter Straße Am Rehwinkel, wo ein Mann im Januar 2023 plötzlich ein Messer zieht. Ein gutes Jahr lang hat das Abendblatt für eine Serie eine Polizeieinheit begleitet – die Dienstgruppe A am Polizeikommissariat 38 (PK38) in Rahlstedt. Heute: Der Mann mit dem Messer.
Die Pressemitteilung der Polizei vom 3. Januar 2023 klingt in ihrer Nüchternheit nach etwas Alltäglichem, fast schon Banalem: „Nach den ersten Erkenntnissen waren Beamte des Polizeikommissariats 38 wegen einer Körperverletzung alarmiert worden. Ein 58-jähriger Deutscher, der mit dieser Tat in Zusammenhang stehen soll, trat vor Ort gegenüber den drei Einsatzkräften verbal aggressiv auf. Im Verlauf zog er schließlich ein Messer, mit dem er die Einsatzkräfte bedrohte. Es kam daraufhin zunächst zu einem Pfeffersprayeinsatz und auch zur Abgabe eines Warnschusses. Weil der Angreifer dadurch nicht gestoppt werden konnte, kam es schließlich zur mehrfachen Schussabgabe auf ihn. Letztlich wurde er von den Einsatzkräften überwältigt.“ So weit der entscheidende Absatz.
Polizeiserie Hamburg-Rahlstedt: Statt eines Ausweises zückt der Mann ein Messer
Die Nüchternheit des Berichtes drückt nicht im Geringsten aus, was der Einsatz mit den drei eingesetzten Polizisten gemacht hat. Da die Staatsanwaltschaft noch gegen diese Beamten ermittelt, nennen wir hier nicht deren Namen, sondern nur die Dienstgrade.
Es ist gegen 10.30 Uhr an diesem Wintermorgen. Alles deutet bei dem Anruf auf einen alltäglichen Einsatz hin. Die Rede ist von einem Beziehungsstreit in der kleinen Anliegerstraße. Eine Anzeige soll geschrieben werden. Alles Routine.
Doch dann ist alles anders. Als die beiden Polizisten und ihr neuer Hospitant am Rehwinkel ankommen, sehen sie einen Mann und eine Frau auf dem Rasen vor dem Haus streiten. Der Polizeiobermeister der Streifenwagenbesatzung will die Personalien des Mannes notieren. Statt den Ausweis zu zeigen, wird der immer aggressiver, unflätig, beleidigend. Dann dreht er sich zu seinem Fahrrad um und kramt, wie es den Polizisten vorkommt, in den Satteltaschen. Doch statt den Ausweis herauszuholen, zückt er ein Messer.
Polizeieinsatz in Hamburg-Rahlstedt: Ereignisse überschlagen sich
Jetzt überschlagen sich die Ereignisse. Polizist Nummer zwei, ein Kommissaranwärter, schreit den 58-Jährigen an, die Waffe fallen zu lassen. Der Polizeiobermeister drängt den Hospitanten nach hinten, heraus aus dem Fokus des Messermannes. Die nächste Eskalationsstufe: Die beiden Polizisten versuchen, den Mann mit Pfefferspray auf Abstand zu halten. Dennoch läuft der Mann mit dem Messer auf die Beamten zu. „Es hat sich eine klare Notwehrsituation ergeben“, sagt Einsatzleiter Colin später. Die Polizei stoppt den Angreifer nach einem Warnschuss mit einem Treffer ins Bein und einem in den Fuß. Dadurch verletzt sie ihn nicht lebensgefährlich.
Als er zum Tatort eilt, trifft Einsatzleiter Colin auf extrem gestresste und beanspruchte Kollegen. Der eine weint, der zweite redet wie ein „Wasserfall“, der dritte ist völlig verstört. „Ich habe versucht herauszubekommen, was genau passiert ist. Auf meine Frage haben sie spontan gesagt, dass sie beide geschossen haben, aber wer wie oft geschossen hat, wusste keiner mehr. Ich habe die Waffen entladen und sichergestellt, um später analysieren zu können, mit welcher Waffe geschossen und der Angreifer getroffen wurde“, sagt Hauptkommissar Colin.
Polizei-Hospitant denkt daran, Job aufzugeben
Die zwei Polizisten treiben Sorgen um: Wie geht es dem Mann, den sie niedergeschossen haben? Wie schwer ist er verletzt? Haben sie richtig gehandelt, oder hätte es eine Alternative dazu gegeben, zu schießen? Welche Folgen wird das für sie haben – möglicherweise als Beschuldigte in einem Strafverfahren?
Am härtesten trifft es den Hospitanten, erzählt dessen Einsatzleiter. „Man war dabei, eine Anzeige aufzunehmen – und auf einmal wird man mit einem Messer angegriffen. Das konnte er nicht verstehen. Er hatte Angst. Seine erste Reaktion war, kündigen zu wollen. Das ist dann doch ausgeblieben“, sagt Einsatzleiter Colin.
Wie den Polizisten nach belastenden Einsätzen geholfen wird
Geholfen, mit der Stress- und Belastungssituation umzugehen, hat den dreien das Team von der „Psychosozialen Notfallversorgung für Einsatzkräfte“. Erfahrene Polizisten arbeiten hier, Psychologen, Seelsorger, psychosoziale Fachkräfte. Sie werden gerufen, wenn hoher psychischer Druck droht Polizisten krank zu machen. Wie beispielsweise nach dem Amoklauf im Gebetshaus der Zeugen Jehovas. Oder auch nach den Schüssen Am Rehwinkel.
Die Polizisten in dem Team nennen sich „Peers“. Sie sind da, wenn Reden als Erste Hilfe nötig ist. Diese Peers arbeiten im Hauptjob an den Wachen oder im Präsidium, „nebenbei“ engagieren sie sich als Ansprechpartner mit Rufbereitschaft. Eine von ihnen ist Hauptkommissarin Sandra Brieger. „Als Kollegen und Kolleginnen wissen wir, wie solche Einsätze ablaufen, welche Ängste und Gefühle man dabei entwickelt, wie es einem danach geht“, sagt die erfahrene Polizistin.
Wenn Polizeieinsätze krank machen
Der Job kann einem Menschen alles abverlangen: schwere Unfälle, Kindstötungen, Suizide, brutale Überfälle – oder auch Schusswaffengebrauch. Die Gefahr ist groß, dass sich die teils grausamen Bilder ins Gedächtnis brennen und immer wieder abgerufen werden. Das Risiko einer posttraumatischen Belastungsstörung ist bei Polizisten deutlich höher als in den meisten anderen Berufsgruppen. Wer die Bilder nicht möglichst schnell wieder loswird, erkrankt: kann nicht mehr vernünftig schlafen, wird von innerer Unruhe getrieben, ist erschöpft, gereizt oder appetitlos. Die Ursachen sind die gleichen, die Folgen können von Mensch zu Mensch variieren.
2016 hat die Polizei das Projekt Peers gestartet. Seither wurde die Gruppe zu mehr als 300 Einsätzen gerufen, um 1000 Kolleginnen und Kollegen zu helfen. Die Zahlen zeigen: Das Angebot spricht sich herum, viele Polizisten an den Wachen, bei der Bereitschaftspolizei und im LKA lassen sich nach für sie belastenden Einsätzen auf die helfenden Gespräche ein.
Belastende Polizeieinsätze: Einstellung zu Hilfsangebot hat sich verändert
Lange sei es verpönt gewesen, mit psychischen Erkrankungen auszufallen, sagt Frau Brieger. Damit war man schnell als wenig belastbar verschrien. Die Einstellung zu dem Thema hat sich längst gewandelt. Sandra Brieger und ihre Kollegen bereiten die Einsatzkräfte darauf vor, was sie in Stunden, Tagen oder Wochen an sich feststellen könnten: Ruhelosigkeit, Schlafstörungen, Ängste oder Gereiztheit.
Sie seien keine Psychologen, sagt Sandra Brieger, sondern Kolleginnen und Kollegen, die mit Betroffenen in vertraulichen Gesprächen deren Erfahrungen und Gefühle sortierten. Wenn die Betroffenen es wünschen, übernehmen im nächsten Schritt Psychologen, Therapeuten oder Seelsorger die weitere Betreuung.
Einer dieser Psychologen hat auch Am Rehwinkel geholfen, den belastenden Einsatz aufzuarbeiten und sich einen „Eispanzer“ zuzulegen, wie es hieß. Was den Polizisten auch geholfen hat: das Wissen, dass der niedergeschossene Mann überlebt hat und dass sie in der Analyse des Einsatzes keinen Fehler in ihrem Verhalten erkennen.
Bundeslagebild des BKA: Angriffe auf Hamburger Polizisten nehmen zu
Die Zahl der Hamburger Polizisten, die wie Am Rehwinkel angegriffen oder Opfer einer anderen Straftat werden, steigt seit Jahren. Registrierte die Polizei 2019 noch 1939 Fälle, waren es 2020 bereits 2068. 2021 stieg die Zahl auf 2329. Und für das vergangene Jahr weist das sogenannte Bundeslagebild des BKA für Hamburg 2571 Polizistinnen oder Polizisten aus, die verletzt, genötigt, bedroht oder angegriffen wurden.
Setzt man die Anzahl der Fälle in Relation zu den Einwohnern – die Statistik spricht hier von der Häufigkeitszahl –, rangiert Hamburg auf Platz zwei. Nur in Berlin wurden 2022 noch (deutlich) mehr Polizisten im Einsatz Opfer einer Straftat. Zum Vergleich: In Bayern war 2022 das Risiko für Einsatzkräfte, angegriffen oder angegangen zu werden, gerade einmal halb so groß wie in Hamburg.
Polizistin bei Einsatz in Barmbeker Klinik verletzt
Womit Polizisten in Hamburg im Einsatz konfrontiert sind, zeigt auch dieser Fall aus dem Jahr 2022: Im Januar forderte das AK Barmbek Hilfe an. Ein „unter dem Einfluss berauschender Mittel stehender Mann“ weigerte sich, die Ausnüchterungszelle zu verlassen. Sofort ging der Mann auf die zwei herbeigerufenen Beamten los, verletzte die Polizistin mit zig Tritten gegen Kopf und Oberkörper, zum Schluss knickte er ihr noch zwei Finger um. Die Folgen für die Polizistin: Schädelprellung, Kapselriss in der Hand, Blockade der Halswirbelsäule.
Der langjährige Hamburger Polizeipräsident Ralf Martin Meyer hat erwartbar „kein Verständnis“ für Angriffe auf Polizisten. Die steigenden Zahlen zeigten, wie wichtig „entschiedenes Vorgehen“ gegen die Täter sei. „Aber wir dürfen uns deswegen auch nicht das Berufsbild des Polizisten schlechtreden lassen.“
Meyer hat sich in seiner zehnjährigen Präsidentenzeit mit den im Einsatz verletzten Polizisten ausgetauscht. „Ganz oft hörte ich dann: ‚Ich weiß, dass das zu meinem Beruf gehört.‘ Die allermeisten attackierten Kolleginnen und Kollegen gingen damit sehr professionell um.“
Warum die Zahl der Angriffe auf Polizeibeamte steigt
Nicht nur in Hamburg, auch bundesweit steigt die Zahl der Angriffe auf Polizisten. Nach fast 90.000 Opfern in Uniform im Jahr 2021 zählte das Bundesinnenministerium 2022 mehr als 96.000 Polizisten als Opfer einer Straftat. Das ist ein Plus von 8,6 Prozent. Den deutlichen Anstieg schreibt das BKA dem „Aufleben des sozialen Lebens nach dem Wegfall der Corona-Einschränkungen“ zu. Laut BKA waren die Verdächtigen 2022 meist männlich (84,1 Prozent), deutsch (69,9) älter als 25 Jahre (71,8), oft polizeilich bekannt (74,2), mehr als jeder Zweite war betrunken (50,5).
Einen weiteren Grund für den Anstieg sieht das BKA in den aktuellen Krisen und ihren Folgen. „Je mehr Menschen Belastungssituationen erleben, desto wahrscheinlicher werden Gewalttaten im sozialen Umfeld – aber auch gegen Repräsentantinnen und Repräsentanten des Staates“, heißt es im Bundeslagebild. Die Rede ist von sinkender Frustrationstoleranz und Impulskontrolle und von einer reduzierten Fähigkeit, Konfliktsituationen empathisch und gewaltfrei zu lösen.
Staatsanwaltschaft hat Verfahren noch immer nicht abgeschlossen
Wie beim Angriff mit einem Messer auf die Polizisten am 3. Januar in Rahlstedt. Aber waren die Schüsse auf den Mann tatsächlich nötig? Gab es keine Alternative, ihn zu stoppen? Haben sich alle korrekt verhalten? Die Fragen haben die eingesetzten Polizisten für sich klar beantwortet. Aber sieht das auch die Hamburger Staatsanwaltschaft so?
Die Polizei hatte, wie immer in solchen Fällen, ein internes Verfahren gegen ihre eigenen Leute angestrengt. So wurden Waffen, Handschuhe und Bekleidung sichergestellt, um sie auf Schmauchspuren zu untersuchen. Nur: Selbst nach fast einem Jahr dauern die offiziellen Ermittlungen noch immer an.
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Wann und mit welchem Ergebnis sie abgeschlossen sein werden, „kann derzeit nicht prognostiziert werden“, teilte die Staatsanwaltschaft kurz vor Weihnachten mit. Sie hat den Vorgang Ende Oktober von der DIE übernommen hat, der Dienststelle Interne Ermittlungen. Dass es so lange dauere, „nerve“, hieß es dazu am PK 38.
Abgeschlossen, aber noch nicht rechtskräftig ist das Verfahren gegen den 58-Jährigen. Das Amtsgericht Wandsbek hat den Mann Mitte Dezember zu einer Freiheitsstrafe von elf Monaten verurteilt.