Als bekannt wurde, dass an seinem Wohnort in Poppenbüttel eine Unterkunft gebaut werden soll, begann Jan Melzer ein Tagebuch zu schreiben.

Meine neuen Nachbarn: Spaziergang am Feld in der Nachbarschaft in Poppenbüttel, wo die Unterkünfte für sie errichtet werden sollen. Die Trauer sitzt tief. Der Duft des sonnenbeschienenen Feldes überfällt mich wie ein serbisches Klageweib. Dieses Feld wird weichen müssen. Nicht wegen des Flüchtlingsheimes, sondern weil Hamburg Bauland braucht. Das steht schon seit 2008 fest. Dennoch ist es schmerzlich, dass die Natur immer zurückweichen muss. Hamburg will wachsen, dafür müssen Opfer gebracht werden. Doch warum gerade hier? Warum wird mir mein Idyll genommen? Und dann noch als Krönung mit einem Flüchtlingsheim?

Tag acht – wie nennen wir die Nachbarn?

Ich reiße mich zusammen: Auch unsere Siedlung wurde 2001 auf einer Baumschule errichtet und es hat die Anwohner alles andere als begeistert, als sie erfuhren, dass sie nicht mehr auf junge Bäume, sondern auf eine große Mehrfamilien-Siedlung gucken dürfen. Manche waren so sauer, dass sie uns als „Bulgaren-Siedlung“ beschimpften. Was dieselben Menschen jetzt wohl über die Planung des Flüchtlings-Dorfes denken? In unserer Siedlung wohnen übrigens lauter Banker, Ärzte, Grafiker, Manager, Lehrer und Informatiker aus China, Griechenland, Iran, Polen und natürlich vor allem aus Deutschland. Aber kein einziger Bulgare. Was ist an Bulgaren so besonders schlimm? Und wie nennen wir die möglichen Flüchtlinge aus Syrien, wenn sie neben uns wohnen?

Lesen Sie hier den ersten Teil des Tagebuchs

Tag neun – Einwanderungsland

Noch ein Tag bis zur Informationsveranstaltung über die „Öffentliche Unterbringung“, sprich: das Flüchtlingsheim auf meinem Nachbargrundstück. Ich vertreibe mir die Nervosität mit der Lektüre des Abendblattes. „Deutschland ist nach den USA das zweitbeliebteste Einwanderungsland. Die CDU spricht manchmal darüber nicht so gern. Aber das lernen wir auch noch,“ steht da als Zitat des Tages. Ich stutze. Es ist von Angela Merkel, ich mag sie dafür. Einwanderungsland, das klingt nach Aufbruch, Treck nach Westen, Zehntausende von Iren, Deutschen, Polen, die nach Amerika aufbrechen, um ihr großes Glück zu machen. Einwanderungsland, das ist Sehnsuchtsort. Warum soll das nicht Deutschland sein? Ich empfinde das als Kompliment. Schaut her, denke ich, so weit haben wir es gebracht!

Im Gegenzug brauchen wir dringend die Einwanderung von Fachkräften, wenn wir unsere Hightech-Wirtschaft am Laufen halten wollen, die unsere vielen kinderlosen Rentner ernährt.

Und jetzt werde ich vielleicht das Einwanderungsland hautnah auf meinem Nachbargrundstück erleben.

Halt! Einwanderer und Flüchtlinge sind nicht dasselbe! Flüchtlinge sind nicht a priori gekommen, um zu bleiben, Einwanderer schon. Richtig.

Aber vielleicht sind Flüchtlinge die besseren Einwanderer, denn Flüchtlinge fliehen oft wegen ihrer intelligenten und friedlichen Meinung. Mein Beispiel sind da immer die Iraner: Alle Iraner in Deutschland, die ich kennenlernen durfte, sind ausnahmslos hochintelligente und feine Menschen. Ich glaube, dass zuallererst die gebildeten und freiheitlich denkenden Schichten vor einer gruseligen Diktatur wie der Khomeinis fliehen und dass Deutschland durch die iranische Zuwanderung in den letzten Jahrzehnten gewonnen hat. Und das ist nur ein Beispiel. Der berühmteste deutsche Flüchtling nach Amerika etwa war Albert Einstein. Das hat den USA gewiss nicht geschadet. Und ganz böse kann man sagen, dass über die Mauer vor allem die Aktiven rübergemacht haben. Deswegen nannte man die übrigen dann DDR: „Der Doofe Rest“… (Entschuldigung, blöder Witz!)

Ich gebe mich der Hoffnung hin, dass syrische Intellektuelle auf meinem Nachbargrundstück eine neue, strahlende Zukunft im Einwanderungsland Deutschland beginnen. Hoffentlich habe ich recht.

Tag zehn – zweiter Spaziergang am Feld

Gestern Abend war die große Informationsveranstaltung über das Flüchtlingsheim auf unserem Nachbarfeld, an der ich wegen eines Geschäftstermins nicht teilnehmen konnte. Ich warte gespannt, dass meine Frau von der Arbeit wiederkommt, um mir von dem Treffen zu berichten. Um meine Aufregung zu zerstreuen, gehe ich erneut am Feld spazieren.

Verdammt, diese Trauer über die verlorene Natur sitzt doch sehr tief. Im Geiste singe ich Rudi Carrells schmerzvolles Lied „Mein Dorf, was ist aus dir geworden, was hat man bloß mit dir gemacht“. Mir kommen dabei fast die Tränen.

Plötzlich verstehe ich all die Rainbow-Warrior von Greenpeace in ihrer Wut gegen den Raubbau des Menschen an der Natur. Ich habe Gewaltfantasien gegen die Bauarbeiter, die hier bald anrücken werden.

Und spätestens hier erschrecke ich mich. Die Bauarbeiter können am allerwenigsten dafür. Gut, Augen auf bei der Berufswahl, aber die Entscheidungen treffen ja nun wirklich andere! Vielleicht sogar ich selbst, denn ich war immer stolz darauf, dass Hamburg eine aufstrebende Stadt ist. Jetzt strebt sie halt nebenan. „Nutz’ jo nix“, wie der Hamburger sagt.

Ich beschließe, mir nicht diesen schönen Sommer mit negativen Gefühlen zu versauen und lieber die letzten Wochen an diesem schönen Feld zu genießen.

Tag elf – Informationsveranstaltung

Ich konnte aus beruflichen Gründen an der Informationsveranstaltung über unser Flüchtlingsheim leider nicht teilnehmen. Stattdessen habe ich meine wunderbare Frau gebeten, mich zu vertreten. Extrem aufgewühlt erstattet sie mir Bericht:

„Auf dem Weg ist mir mulmig, viele Leute strömen in die Richtung mit einer Art aufrechter Haltung, die mir Sorgen bereitet. Ist auch das einfach ein Vorurteil und sie wollen alle nur – wie ich – sich informieren und Präsenz zeigen?

Vor Ort ist es überfüllt, keine Möglichkeit, der Veranstaltung beizuwohnen. Draußen versucht ein Bezirksamtsleiter die Massen zu beruhigen, es soll einen zweiten Termin nach den Sommerferien geben. Einige Eckpunkte gibt er preis: keine Bebauung bis 2016, der Pachtvertrag mit dem Bauern läuft bis Ende 2015. Dann wird es zunächst Container geben, danach (ca. 2018) 170 Ein- bis Zweizimmerwohnungen. 500 Menschen sollen untergebracht werden.

Die Reaktion der Menschen macht mir Angst, es wird gepöbelt, dazwischengerufen, die Stimmung ist ziemlich aufgeheizt. Aus der Aula kommt eine Frau rausgelaufen: „Hau du doch ab“, ruft sie und ich frage mich, welche Position sie wohl einnimmt.

Einige junge Leute im Antifa-Look diskutieren mit einer älteren Dame. Diese Art von Austausch macht mir etwas Mut. Eine Frau in Strickjacke und Perlenkette hat eine Unterschriftensammlung gegen das Flüchtlingsheim dabei. „Ich möchte etwas tun. Wenn nachher hier alles im Eimer ist, kann ich wenigstens sagen: Ich habe mich gewehrt.“ Ich finde diese Einstellung furchtbar und schimpfe deswegen in mich hinein. Hatte doch versprochen, mich zusammenzureißen … Hat fast geklappt.“

Meine Frau ist echt seelisch angefressen nach dieser Veranstaltung. So wie wahrscheinlich alle, die dabei waren, egal welche Position sie haben. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie das auf sich genommen hat. Und ich frage mich: Was macht diese ganze Sache mit uns allen?

Tag zwölf – Der gute Unternehmer

Wow, ich bin echt begeistert, als ich diese Nachricht auf Facebook lese: Eugen Block, der große Hamburger Steak-Verkäufer, wandelt spontan seine alte Firmenzentrale in Barmbek für 150 Flüchtlinge um! Echt großartig! Eigentlich wollte der Mann auf dem Gelände Wohnungen bauen und so seine alte Zentrale versilbern, aber jetzt stoppt er diese Pläne und lässt die Flüchtlinge für zwei Jahre in den alten Häusern wohnen. „Mensch, Eugen Block!“ denke ich und meine es genau so. Jetzt schäme ich mich für die wütenden Bürger hier in Poppenbüttel bei der Informationsveranstaltung. In Barmbek geht so etwas. Ein reicher Mann kann so etwas.

Können wir es auch? Bei meinem heutigen Spaziergang habe ich die vielen dicken Porsches und Geländewagen in der Nähe unserer Luxusrestaurants an der Alster gesehen und mich gefragt, ob ein bisschen Armut dem Stadtteil möglicherweise sogar gut tut. Immerhin entsteht das Flüchtlingsheim direkt gegenüber dem Golfplatz. Was für eine Ironie …

Tag 13 – Veröffentlichung im Hamburger Abendblatt

Jetzt ist es so weit, mein Tagebuch erscheint im Abendblatt. In einer Tranche von sieben Tageseinträgen bekomme ich eine ganze Seite. Mit Foto! Mir ist mulmig. Ich lese den Text noch einmal durch. Ein zweites Mal. Ein drittes. Was ist mit mir los? Ich habe Angst! Angst, etwas Falsches zu sagen, Angst, mich danach im Stadtteil nicht mehr blicken lassen zu können. Bin ich zu links? Bin ich zu rechts? Ich habe versucht, Verständnis für alle Seiten zu zeigen, nein, ich HABE Verständnis für alle Seiten und ziehe dennoch unterm Strich die Schlussfolgerung, dass die Flüchtlinge unsere Hilfe brauchen. Auch wenn es schmerzt. Dazu stehe ich. Auch zu meinem Schmerz und meiner Trauer. Warum fühle ich mich mulmig? Wovor habe ich Angst?

Ich meine: Es geht hier um Themen, die uns sehr sehr nahe gehen: Das Sicherheitsbedürfnis, der mögliche Wertverlust des Eigentums, die Zerstörung der Natur, das Elend der Flüchtlinge, die Gerechtigkeit mit anderen Stadtteilen, die Ohnmacht gegenüber dem Staat, der einfach so über Poppenbüttel bestimmen kann. All dies setzt hohe Emotionen frei, die legitim sind und vielleicht auch mal raus müssen. Wichtig ist nur, dass wir den anderen wegen einer anderen Meinung nicht in unserer Wertschätzung herabstufen. Verachten. Hassen.

Ja, das ist es, wovor ich Angst habe. Nicht mehr gemocht zu werden. Dieses Thema eignet sich dazu, Freundschaften zu zerstören …

Lesen Sie hier die weiteren Teile:

Teil 1

Teil 3

Teil 4

Teil 5