Hamburg. Als bekannt wurde, dass an seinem Wohnort in Poppenbüttel eine Unterkunft gebaut werden soll, begann Jan Melzer ein Tagebuch zu schreiben.
Tag 27 – Reise in die Vergangenheit
Ich finde ja, dass diese ganze Flüchtlingsproblematik auf jeden Fall einen positiven Aspekt hat: Die Leute kommen wieder aus dem Quark, man diskutiert wieder, Politik ist plötzlich relevant, Werte werden verhandelt, die Menschen stellen fest, wie gut es tut, zu handeln. So auch ich. Ich bemerke eine neue Wachheit an mir, Interesse für meine Umgebung und auch für mich selbst. Ich hinterfrage mich. Das fühlt sich sehr gesund an. In diesem Zusammenhang entstand in mir das Bedürfnis, die Flüchtlingsvergangenheit meiner Familie zu erforschen. Es ist nämlich so: Mein Vater wurde 1943 in Königsberg/Ostpreußen geboren. Und zum Glück war meine verstorbene Oma so klug, schon 1944 zu fliehen. Ich kam also auf die sehr verspätete Idee, meinen Vater zu interviewen, wie er die Flucht erlebt hat, was er als damals Zweijähriger natürlich nicht beantworten konnte … Stattdessen überreichte er mir eine handgeschriebene Aufzeichnung meiner Oma, die ich hier gekürzt widergeben möchte, um das Flüchtlingsthema aus deutscher Sicht zu bebildern. Sie schrieb 2003:
„1944 gab es zwei Bombenangriffe der Engländer auf Königsberg. Unsere Wohnung am Stadtrand wurde nicht direkt getroffen. Die Fensterscheiben waren dennoch rausgefallen. Mein Mann Kurt, gerade auf Fronturlaub, nagelte mit Pappe die Fenster zu. Anschließend wurden wir evakuiert in ein Heim außerhalb der Stadt. Während Kurts Einsatz in der Sowjetunion klingelte eines Tages eine Familie mit zwei Kindern an unserer Tür und fragte, ob sie für ein paar Wochen bei uns wohnen könne wegen der Bombenangriffe im Rheinland. Wir haben sie aufgenommen. Später nach unserer Flucht in den Westen musste ich immer daran denken, wie schlecht sie uns dort aufgenommen haben. Die Flüchtlinge wurden meistens abweisend behandelt. Als die Front näher rückte, fuhren wir in einem vollkommen überfüllten Zug nach Heidenau bei Dresden. Nach Kriegsende wohnten wir dort in einem Behelfsheim. 1947 kehrte Kurt aus amerikanischer Gefangenschaft heim. Nach einem halben Jahr bekamen wir einen Brief vom Amt, wonach Kurt sich auf „Bergwerkstauglichkeit“ untersuchen lassen musste. Gemeint war der Uranbergbau in Aue. Ein wohlmeinender Arzt schrieb Kurt drei Tage krank, sodass er nach dem Westen fliehen konnte. Ich selbst flüchtete mit einem unserer Kinder (die Große konnte mit meiner Schwester ausreisen). An der Grenzstation schloss ich mich einer Frau an, die den Weg von Schmuggeln her kannte. Wir mussten stundenlang laufen, ich musste den Koffer und das Kind tragen. Im Flüchtlingslager Helmstedt bekamen wir ein Bett in einem Saal mit Männern und Frauen. In Teglingen war es angeblich nicht möglich, für mich und die beiden Kinder ein gemeinsames Zimmer zu bekommen. Nach einiger Zeit weinten die Kinder, weil sie schlecht behandelt wurden. Ich habe die Kinder zu mir genommen, obwohl ich nur ein ganz kleines Dachzimmer hatte.
Die Kinder mussten Kartoffelkäferlarven sammeln, Kurt im Lager zehn Stunden arbeiten für kläglichen Lohn. 1949 erfuhr Kurt, dass in Neusustrum Aufseher gesucht würden und dort Wohnungen in einem Barackenlager angeboten wurden. Die Wohnung war ein großer Fortschritt. In der Hauptbaracke war ein Saal für Geselligkeiten und ein Lebensmittelgeschäft. Wir waren glücklich, wieder als Familie leben zu können. Wir bekamen einen Gemüsegarten. Dort konnten wir Kaninchen, Gänse und Hühner halten. Die Hungerzeit war vorbei. Erika Melzer“
Tag 28 – Kommentar im Abendblatt
Mallorca – ich sitze am Pool. Dabei lese ich wie jeden Tag das Abendblatt auf meinem iPad als ePaper. Ein schöner Zeitvertreib: man bleibt informiert und kann sich so herrlich über den HSV ärgern. Ich mag sowas. Bei meiner Lektüre stolpere ich allerdings am 3. August über einen Kommentar des von mir hochgeschätzten Matthias Iken. „Wettstreit der Freundlichkeiten“. Der stellvertretende Chefredakteur behauptet darin, in der Flüchtlingsdebatte „dominiere nur noch eine Meinung“. Nanü, leben wir im selben Land? Ich nehme eine lebendige Diskussionskultur wahr mit großer Meinungsvielfalt und teilweise gelungener Sachlichkeit. Natürlich auch Hass, Polemik und Hetze, aber Monokultur nun wirklich nicht. Jetzt bin ich aber neugierig.
Iken schreibt, früher seien es die Ausländerfeinde gewesen, die leugneten, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei und Migranten als „Scheinasylanten“ verunglimpften (komisch, in meiner Wahrnehmung tun sie das immer noch). Heute würden sehr viel sympathischere Menschen die Debatte beherrschen, die mit ihrer grenzenlosen Begeisterung viele Mitbürger überforderten. Differenzierte Denker, Mahner und Zweifler kämen viel zu wenig zu Wort und würden schnell als Rechtsradikale abgestempelt, da würden viele lieber schweigen … Wie bitte?! Ich differenziere, mahne und zweifle mir hier im Abendblatt seit Monaten einen Wolf und noch niemand, wirklich niemand hat mich jemals als rechtsradikal beschimpft. Und das, wo ich schon öfters bemerkt habe, was für ein großer Mist es ist, dass auf unser Nachbargrundstück ein Flüchtlingsheim kommt. Ich habe lediglich die Notwendigkeit akzeptiert. Grenzenlos begeistert bin ich echt nicht.
Der Kommentar weiter: „Als kürzlich bei einer Informationsveranstaltung zur Erstunterbringung ein Anwohner leise anmerkte, er habe Angst um seine kleinen Kinder, wurde er niedergepfiffen. Für eine Demokratie ist es gefährlich (…), wenn Vorbehalte und Ängste nicht mehr ausgesprochen werden dürfen.“ Richtig, ich stimme vollkommen zu. Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden.
Aber ich kann den Satz „ich habe Angst um meine kleinen Kinder“ nicht so stehen lassen. Hier zeigt sich die feine Grenzlinie zwischen differenzierter Kritik und der Saat des Bösen. Ich bin nicht naiv: Anstieg der Kriminalität, mögliche Belästigung von Anwohnern, Diebstahl, Wertminderung des Wohneigentums, das sind bedenkenswerte Ängste. Armut und Verwahrlosung können Probleme erzeugen. Darüber MÜSSEN wir reden. Reden dürfen. Aber bei „ich hab Angst um meine kleinen Kinder“ hört es für mich auf. Die Flüchtlinge sind doch keine Monster. Solche Bilder in die Welt zu setzen ist gefährlich und wahrscheinlich die Wiederholung durch mich hier bereits schädlich. Insofern finde ich die Pfiffe gegen den Redner gut. Ansonsten, und das als versöhnlicher Abschluss, bin ich Ikens Meinung: Wir müssen aufhören, uns zu beschimpfen und mehr zuhören! Hass ist keine Lösung.
Tag 29 – Die Rückkehr zum Feld
Aus dem Urlaub auf Mallorca zurück gehe ich mal wieder an meinem geliebten Rapsfeld spazieren, auf dem Anfang 2016 das Flüchtlingslager entstehen soll. Ich habe mir ja fest vorgenommen, mich nicht über den Verlust der Idylle zu ärgern, sondern lieber die verbleibende Zeit zu genießen. Es kommt mir ein bisschen so vor, als würde ich einen sterbenskranken Verwandten besuchen, solange der noch lebt. Eigentlich gelingt es mir ganz gut, ich erfreue mich normalerweise an der Rapsblüte und kann die Trauer im Griff behalten. Und nun das: Das Feld ist gemäht! Karg und grau starren mich die Halme an. Steppe. Damit hatte ich nicht gerechnet: Der Bauer muss ja auch mal ernten. Reichlich dumm von mir. Mit voller Wucht überfallen mich wieder die verdrängten Gefühle. Dazu kommt die Unsicherheit, was die Flüchtlingszahlen angeht. 800.000 Menschen sollen dieses Jahr nach Deutschland kommen, hat unser Innenminister gesagt. Die Zahlen explodieren. Wann hört das auf? Bis zu welcher Zahl können wir das bewältigen?
Die Insel Kos in Griechenland wird überschwemmt von Flüchtlingen, hoffnungslos überfüllte Züge kommen wie einst aus der DDR aus Mazedonien. Hat der Bauer geerntet, weil es jetzt früher losgeht? Kommen jetzt 3000 statt 500 wegen der blanken Not? Ich merke, wie wenig ich mich doch an den Gedanken gewöhnt habe, dass sich hier bald alles radikal verändert. Durchatmen. Natürlich sind das alles völlig haltlose Spekulationen und es möge bitte niemand deswegen den Behörden die Türen einrennen. Aber ich kann an diesem Beispiel gut erkennen, wie tief meine Verunsicherung sitzt.
Tag 30 – Hilferuf aus Ohlstedt
Nachricht über Whatsapp von meiner Freundin Hülya: In Ohlstedt entsteht gerade das Not-Zeltlager für Flüchtlinge auf dem Ohlstedter Platz mithilfe der Bundeswehr. Und dort fehlen Kinderbetten. Klar, denke ich, dadurch dass unsere Armee zum Glück keine Kindersoldaten beschäftigt, hat es die logische Folge, dass es für Bundeswehr-Zelte keine Kinderbetten gibt. Voreilig urteile ich: Jetzt haben die Ohlstedter Bürger etwas Angst, dass deswegen nur junge Männer ins Zeltlager kommen. Viele Familien schicken ihre jungen Männer los, um eine neue Zukunft zu suchen. Und viele Deutsche (auch meine hier geborene Freundin Hülya), so meine ich, haben die vielleicht nicht ganz ungerechtfertigte Sorge, dass zu viele junge Männer auf einem Haufen früher oder später zu Ärger führen. Die Fußballszene verfügt da über recht unerquickliche Erfahrungen mit ihren Hooligans ... Machen wir uns nichts vor: Zu viel Testosteron auf einem Haufen ist nicht ideal. Also braucht Ohlstedt Kinderbetten. Denke ich.
Mich beschleicht ein ganz blödes Gefühl: Wenn das mit den Kinderbetten klappt und die syrischen Familien nach Ohlstedt ziehen, was wird dann aus unseren Containern am Poppenbütteler Berg?! Uns sind schon lange syrische Familien in Aussicht gestellt worden. Kommen nur noch junge männliche Eritreer, weil die eigentlich geplante Bundeswehr-Zeltstadt in Ohlstedt plötzlich familientauglich geworden ist? Ein Familien-Battle zwischen Poppenbüttel und Ohlstedt? Wie in einer Karikatur: Eine fünfköpfige südländische Familie steht in der Mitte und an beiden Seiten zerren jeweils ein Poppenbütteler und ein Ohlstedter … „Blödsinn“, sagt Hülya, „wir Muddis hatten halt gleich notleidende Kids vor Augen.“ Mein lieber Scholli, was für ein Quark entsteht bloß in meinen grauen Zellen durch diese ganze Situation. Und was für eine Ironie, in meinen eigenen Ängsten von der norddeutschen Hülya ausgebremst zu werden.
Kleine Anekdote am Rande: Die Bürgerinitiative Ohlstedt hatte die helfenden Soldaten so toll mit Kaffee und Kuchen versorgt, dass der Kommandant beim Abschied liebevoll-ironisch sagte: „Jetzt brauche ich ja ewig, um meine Männer wieder abzuhärten!“
Tag 31 – Ortstermin: Zeltlager in Ohlstedt
Es regnet wie Sau, echtes Hamburger Schietwetter. Ich mache mich spontan auf den Weg zum Zeltlager auf dem Ohlstedter Platz. Ich will mit eigenen Augen sehen, was die Bundeswehr da aufgebaut hat. Und als alter Camper (13 Jahre hintereinander Campingplatz Rantum auf Sylt) halte ich Regenwetter dafür besonders geeignet. Ich muss an dieser Stelle auch einmal in Richtung links schimpfen: Ich fühle mich als leidenschaftlicher Zelter persönlich angegriffen, wenn jemand behauptet, Zelte seien menschenunwürdig! Was soll der Quatsch? Die Zelte hier haben Holzfußboden und Heizung, ich habe Fotos in der Zeitung gesehen! Schon mal in Wacken gewesen?! Also ehrlich, die Ansprüchlichkeit mancher Zeitgenossen regt mich manchmal auf. So.
Ich parke in der kleinen Straße und gehe am nagelneuen festen Zaun vorbei. Dahinter die großen Zelte der Bundeswehr über denen Stimmen und Kinderlachen schweben. Das mit den Kinderbetten hat also geklappt. Ich dringe durch den Regen vor und entdecke am Eingang den kleinen W-E-L-C-O-M-E-Stand der Bürgerinitiative. Meine Schüchternheit ist wie weggeblasen. Wirklich tolle Leute. Ein stattlicher Mann nimmt all die Bürger in Empfang, die ihre Hilfe anbieten. Dieser andauernde Strom an Hilfsbereitschaft haut mich um. Brauchen Sie Bettwäsche? Brauchen Sie jemanden für diesen Stand? Eine drahtige Frau mit Klemmbrett thront über allem wie ein römischer Feldherr und koordiniert. Die ist ein Profi. Keine Anfrage aus dem um sie herum wuselnden Haufen aus Bürgern, Ehrenamtlichen und Flüchtlingen entgeht ihr. Von rechts kommen Jung-Eritreer aus dem Waschhaus. Mit Kulturtaschen unter dem Arm! Jetzt fühle ich mich wie beim Camping. Die Atmosphäre ist friedlich. Dennoch spüre ich genau, dass mein Urlaubs-Vergleich sehr zynisch ist. Kriegsversehrte humpeln vorbei. Mütter halten verängstigte Kinder. Der Seebär vom Welcome-Stand sagt erschüttert: „Sie müssen hier nur mal zwei Stunden sitzen, dann wissen Sie, wie gut es uns in Deutschland geht! Dieses Elend!“ Im Hintergrund sieht man Einfamilienhäuser, deren Grundstücke direkt an den Platz grenzen. Daneben eine Baustelle: „Neubauten in ruhiger Umgebung“. Es bleibt kompliziert.