Altstadt. Ganz Deutschland diskutiert über Hamburgs Aushängeschild – und Sorgenkind. Aber wie ist die Situation am Jungfernstieg wirklich?
- Der frühere Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert war es, der den Jungfernstieg in Hamburg in einer Talkshow zu einem überregionalen Thema machte.
- Seitdem wird deutschlandweit gestritten: Ist es eher Brennpunkt oder Boulevard?
- Einblicke in eine sehr deutsche Debatte.
Der Jungfernstieg ist Hamburgs Prachtboulevard, Aushängeschild – und Sorgenkind. Denn schon seit einigen Jahren zeigt er zwei Gesichter: ein helles als Flaniermeile, Einkaufsstraße und Ausflugsziel, und ein dunkles als sozialer Brennpunkt, Kriminalitätsschwerpunkt, No-go-Area. Spätestens wenn sich der Tag neigt und die Läden schließen, bevölkern gerade im Sommer Jugendliche mit Migrationshintergrund die Treppen am Wasser. Oft gibt es Ärger.
Und damit sind wir schon mittendrin in einerrsehr deutschen Debatte. Der frühere Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert war es, der in der Talkshow „Maischberger“ ein lokales zum überregionalen Thema machte. Die gefühlte Unsicherheit am Jungfernstieg.
Gefühlte Unsicherheit am Jungfernsteig: Bei Maischberger streiten sich Spiegel-Vizechefin und Ulrich Wickert
Empört widersprach ihm die Spiegel-Vizechefin Melanie Amann. „Wer hat Ihnen das erzählt?“, zweifelte sie und sprach von „anekdotischer Evidenz“. Als Wickert von Frauen berichtete, die sich dort nicht mehr hintrauten, wischte das die Journalistin weg mit dem Argument: „Ich weiß jetzt nicht, ob Sie jede Frau in Hamburg gefragt haben“ und nannte seine Behauptung „schwierig“. Sie sei zwei Tage pro Woche in Hamburg und höre davon zu ersten Mal. Was aber vielleicht mehr über den Blick mancher Journalisten auf die Wirklichkeit aussagt als über die Wirklichkeit.
Der Sturm in den sozialen Netzwerken hatte sich gerade erst gelegt, als nun in neuen Rollen die Windmaschinen wieder angeworfen wurden. CDU-Bundestagsmitglied Christoph Ploß, der ungern eine Schlagzeile liegen lässt, stellte sich an den Jungfernstieg und drehte ein kleines Video für den Kurzmeldungsdienst X. Es wurde 1,4 Millionen Mal betrachtet – von Freunden wie Gegnern.
Das Video erinnert ein wenig an den Tankstellen-Clip des damaligen saarländischen Ministerpräsidenten Tobias Hans, der sich im Wahlkampf social-media-wirksam über die hohen Spritpreise ärgerte und auf Stimmen hoffte. In dem Video steht Ploß und kritisiert, am Jungfernstieg spüre man die Folgen der illegalen Migration besonders stark.
Jungfernstieg-Debatte: Medien und politische Gegner fallen über Ploß her
Damit macht der Christdemokrat einen Fehler – denn ob die Migrantenszene sich dort legal oder illegal aufhält, lässt sich sicher nicht im Vorbeigehen klären. Die idyllische Aufnahme am Tage mit vorbeifahrenden Bussen und die alarmistischen Aussagen tragen im Journalismus zudem den Namen: „Bild-Text-Schere“. Allerdings hätte Ploß kaum nachts das Video aufnehmen können.
Entsprechend laut wie empört fielen die Reaktionen in den Medien aus. Der Kölner Stadtanzeiger, nur 356 Kilometer vom Jungfernstieg entfernt, hat das Ploßsche Video gleich einsortiert: „Christoph-ploss-hetzt-gegen-migranten-und-macht-sich-laecherlich“, bei der Frankfurter Rundschau, fast 400 Kilometer entfernt, heißt es: „CDU-Politiker kritisiert Einwanderungspolitik und wird verspottet.“ Auch das Hamburger Abendblatt berichtete über den Spott seiner Gegner.
Video vom Jungferstieg polarisiert
Das Video war gefundenes Fressen für beißende Kritik: Jennifer Jasberg, grüne Fraktionschefin in der Bürgerschaft, baute es gleich in ihre Pressemitteilung zur arabischen Kulturwoche ein – mit der Überschrift „Nur durch Dialog können wir Polarisierung überwinden“. Darin beklagt sie antimuslimischen Rassismus und pauschale Verurteilungen: „Ein bitteres Beispiel dafür ist neben den unsäglichen und ständigen Äußerungen von AfD-Verantwortlichen auch das Video des CDU-Bundestagsabgeordneten Christoph Ploß, das vergangene Woche auf X veröffentlicht wurde und offen fremdenfeindliche Ansichten verbreitet.“
FDP-Bundesvorstand Michael Kruse ging mit Ploß hart ins Gericht: „Christoph, wann bist Du falsch abgebogen? Ich hab den Eindruck, dass Du weder am Jungfernstieg, noch sonstwo irgendwas merkst – sonst würdest Du solche fremdenfeindlichen Äußerungen nicht tätigen. Problem illegale Migration muss gelöst werden – Dein Verhalten hilft dabei nicht.“
Das wollte Ploß nicht auf sich sitzen lassen: „Diese Unterstellung ist infam. Aber bei solchen Äußerungen wundere ich mich nicht mehr, dass die FDP selbst bei Allensbach mittlerweile unter 5 Prozent gemessen wird“, ruft er dem FDP-Mann zu, der sofort antwortet: „Wir haben in Berlin den Realitätsverlust der CDU-Merkel-Ära zu beheben und räumen seit Jahren Euer Asyl- und Migrationschaos auf.“
Ein Video zeigt: In Deutschland liegen die Nerven blank
Seit einigen Wochen eskaliert jede Debatte über die Migration zur verbalen Saalschlacht. Ein Aktivist hat Ploß inzwischen angezeigt. Die zentrale Botschaft interessierte da niemanden mehr: „Der Jungfernstieg hat sich zum Negativen verändert“, sagte Ploß auch.
Diese Wahrnehmung hat er nicht exklusiv, sie ist auch nicht rassistisch, sondern real. Das hat auch nichts mit dem Aussehen oder der Staatsangehörigkeit der Menschen zu tun, sondern mit ihrem Verhalten.
Viele reden über Zustände am Jungfernstieg – hinter vorgehaltener Hand
Aber das Thema ist heikel: „Es brennt uns wirklich auf den Nägeln“, sagt ein Anrainer. „Ich will kein Öl ins Feuer gießen, aber es sind wirklich die orientierungslosen jungen Zuwanderer, die ihr Glück in Banden und Kriminalität suchen.“ Hinter vorgehaltener Hand sprechen viele über die schwierigen Zustände am Prachtboulevard, nur zitieren lassen will sich niemand.
Jean Jaques de Chapeaurouge, Erster Vorsitzender des Trägerverbundes Projekt Innenstadt, sagt immerhin so viel: „Der Bürger guckt weg, die Stadt laviert.“ Durch die Verkehrsberuhigung habe sich die Situation am Jungfernstieg noch einmal zugespitzt – denn der Individualverkehr bringe zugleich soziale Kontrolle. „Statt des Individualverkehrs ernten wir nun Kriminalität“, sagt Chapeaurouge. „Jungs ohne Orientierung werden leider überall schnell zu einem Problem.“ Die Polizei sei zwar engagiert, aber sie müsse rund um die Uhr präsent sein.
Eine speziell eingerichtete „Soko Alster“ ermittelt am Jungfernstieg
Die Polizei wiederum verweist darauf, vor Ort gut aufgestellt zu sein. In verschiedenen Zusammensetzungen sind dort Beamte der örtlichen Wachen, Zivilfahnder, Jugendschutz und Bereitschaftspolizei im Einsatz. Scheinwerfer leuchten den Jungfernstieg am Abend aus. Die speziell eingerichtete „Soko Alster“, die im Sommer ermittelt, geht Anfang November in die Winterpause. Überhaupt habe sich die Lage zuletzt beruhigt. Das, entgegnen die Anrainer, habe aber vor allem mit der Baustelle zu tun.
Also alles in Butter? Auch die Ermittler sprechen von einem Brennpunkt Jungfernstieg. „Vor allem die gute Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln bei gleichzeitig attraktivem Umfeld hat ihn zum zentralen Treffpunkt gemacht“, sagt ein Polizist. Begonnen hatte es 2015. Damals stellt der Apple-Store den ins Land geströmten Flüchtlingen kostenloses WLAN zur Verfügung – für viele junge Menschen damals eine dankbar angenommene Verbindung in die Heimat.
Brennpunkt Jungfernstieg – eine sich selbst erfüllende Prophezeiung
Doch noch im selben Jahr kippte die Stimmung: In der Silvesternacht kam es wie in Köln auf der Domplatte, allerdings in deutlich kleinerem Umfang, zu sexuellen Übergriffen auf junge Frauen. Seitdem gilt der Jungfernstieg als Brennpunkt, als Unruheherd, und die Warnungen davor in den sozialen Medien wurden eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Normalbürger blieben dem Ort seither fern, Krawallbrüder hingegen zogen derlei Meldungen magisch an. Die Lage verschärfte sich über die Jahre. 2019 erließ die Stadt deshalb dort ein Böllerverbot.
Nach Recherchen des Abendblatts ist der Jungfernstieg längst ein Treffpunkt von jungen Menschen fast ausschließlich mit Migrationshintergrund, wobei illegale Einwanderer keine große Rolle spielen. Die meisten Besucher sind zwischen 14 bis 20 Jahren alt, darunter sind viele Afghanen, Iraner, Pakistani oder Syrer.
Jugendliche fliehen aus beengten Wohnverhältnissen
Inzwischen tauchen auch vermehrt Ukrainer und Jugendliche mit Wurzeln in anderen ehemaligen Staaten der früheren Sowjetunion dort auf. Viele von ihnen leben in Einrichtungen von fördern & wohnen, oftmals in Folgeunterkünften für Flüchtlinge, aber auch in Jugendwohnungen. Der Jungfernstieg ist für sie nicht nur Treffpunkt, sondern auch Fluchtpunkt aus beengten und schwierigen Wohnverhältnissen. „Ich kann einen Jugendlichen, der mit vier Brüdern und seinen Eltern in zwei Zimmer lebt, verstehen“, sagte eine Beamtin. „Der will nur raus.“ Um es klar zu sagen: Es ist nicht verboten, sich zu dort treffen. Dafür sind öffentliche Plätze da.
Nach und nach haben sich Gruppierungen gebildet wie die 315er, benannt nach der Nummer in einem Jenfelder Parkhaus, der zuvor ihr Treffpunkt war. Diese Jugendgruppe fällt immer wieder negativ auf. Ihr Rädelsführer stammt aus Afghanistan und lebt legal hier. Er reiste als Kind 2015 nach Deutschland ein, saß aber wegen schweren Raubs, Drogenhandels und Körperverletzung bereits in Haft; seine Aufenthaltserlaubnis wurde de facto trotzdem verlängert. Die weiteren Köpfe der Bande sind zwei Afghanen und ein Syrer.
Polizei setzt nun auf das Tatort- statt das Wohnortprinzip
Auch einige Deutsche treffen sich dort, vor allem junge Mädchen und Frauen, die aber eher eine untergeordnete Rolle spielen. Manche von ihnen benehmen sich bei Auseinandersetzungen wie „Cheerleader“, sie bejubeln und bepöbeln die jungen Männer, wenn sie sich streiten. Im Internet kursieren Videos, die bei diesen Auseinandersetzungen gedreht wurden.
Als Reaktion auf die Verfestigung der Szene und viele strafbare Vorfälle gründete die Polizei im Sommer 2023 die Soko „Alster“, die aus sechs Beamten besteht. Sie ermittelt nicht nach dem Wohnort-, sondern dem Tatortprinzip. Damit lassen sich die Fälle vom Jungfernstieg bündeln und Rädelsführer ausfindig gemacht werden, auch in der Hoffnung, dass die Richter sie aus dem Verkehr ziehen.
Immer wieder taucht der Jungfernstieg in den Polizeimeldungen auf
Um die Szene zu zerstreuen, setzt die Polizei auch längere Aufenthaltsverbote durch. Derzeit dürfen acht Personen sich nicht am Jungfernstieg aufhalten. Diese Maßnahmen scheinen Wirkung zu zeigen. 2024 gilt als „ruhiger“ als in den Vorjahren. Trotzdem kommt es immer wieder zu Vorfällen.
Erst Ende August gerieten dort zwei Gruppen aneinander. Dabei erlitten zwei 18 und 22 Jahre alte Tschetschenen Stichverletzungen. Täter war eine Gruppe, deren Aussehen laut Polizei „als überwiegend nordafrikanisch/arabisch“ beschrieben wurde. Die Mordkommission hat die Ermittlungen übernommen.
Bereits im Februar waren Jugendliche am Jungfernstieg Ecke Ballindamm von einer Gruppe junger, offensichtlich alkoholisierter Männer attackiert worden. Ein 17-Jähriger erlitt dabei eine Stichverletzung in der Schulter. Die Tat war einer der Gründe, die in die Winterpause gegangene Soko „Alster“ früher als geplant wieder in Aktion zu setzen.
Messer, Waffen und Prügeleien am Jungfernstieg
Anfang Mai wurde ein 29-Jähriger aus dem Obdachlosenmilieu bei einer Auseinandersetzung mit Jugendlichen verletzt, bei der Messer und abgebrochene Glasflaschen als Waffen benutzt wurden. Polizisten nahmen im Rahmen einer Fahndung einen 19 Jahre alten Syrer fest, der blutbefleckte Kleidung trug und ein Messer bei sich hatte.
In den Vorjahren kam es regelmäßig zu Auseinandersetzungen. Im April 2023 trat ein 19-Jähriger einem Polizisten die Kniescheibe heraus. Bei der Festnahme fanden die Ermittler bei seiner 16-jährigen Freundin eine Machete. 2021 attackierten Jugendliche an der Europa Passage mehrere Wachmänner. Dabei brach ein 59-Jähriger zusammen, der an einer Vorerkrankung litt, und fiel ins Koma.
Das Unbehagen hat sich über Jahre aufgestaut und ist weit verbreitet
Weit über die Grenzen der Stadt schrieb 2018 ein Doppelmord in der U-Bahn-Station Jungfernstieg Schlagzeilen: Dabei hatte ein 33-jähriger Mann aus dem Niger seine Ex-Freundin und das gemeinsame Kind massakriert. Der Täter war als Mitglied der Flüchtlingsgruppe, die sich „Lampedusa in Hamburg“ nannte, in die Stadt gekommen.
Weder diese Tat noch die Schlägerei aus dem August haben mit dem Jungfernstieg-Publikum zu tun – aber in der Wahrnehmung vieler Hamburger vermischen sich die Fälle. Und selbst weit entfernt liegende Taten vermengen sich zu einem diffusen Gefühl der Unsicherheit. Es ist ein weit verbreitetes Unbehagen, das sich über Jahre aufgestaut hat und sich nun – auch wegen der hitziger werdenden Debatten – Bahn bricht.
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Der Jungfernstieg ist in der Realität keine No-go-Area, aber er wird es in der Wahrnehmung vieler Bürger.
Denn eine Frage stellen sich viele Hamburger, die in diesem Sommer in einer anderen Metropole Urlaub gemacht haben: Warum haben weder Kopenhagen noch Stockholm, weder Warschau noch Budapest dieses Hamburger Problem?