Altstadt. Hamburgs Innenstadt setzte lange auf Einzelhandel und Filialisten. Da könnte die Krise zur Chance werden. Ein Stadtspaziergang mit dem Oberbaudirektor.

Matthias Iken

Früher war das Leben überschaubarer. Wer einkaufen wollte, fuhr in die Stadt. Wer arbeiten musste, ebenso. Jetzt reicht der Gang zum Computer. Hier bestellen wir, was immer wir benötigen oder holen das Büro per Mausklick an den Küchentisch. Das Internet ist der größte Motor der Stadtveränderung im 21. Jahrhundert. Für Hamburgs City, die Stadt der Kontore und Einzelhändler, gilt das ganz besonders. Sie wird sich wandeln müssen. Und sie wandelt sich.

Die Notwendigkeit erklären schon Statistiken. Der Onlinehandel hat sich seit der Jahrtausendwende fast versiebzigfacht. Lag der Umsatz im Jahr 2000 noch bei bescheidenen 1,3 Milliarden Euro, ist er inzwischen auf rund 88 Milliarden Euro gestiegen, die Pandemie brachte einen zusätzlichen Wachstumsschub. Jetzt allerdings zeigen sich die Grenzen des Wachstums. Nur rund drei Prozent Zuwachs sollen es 2024 werden, die Verschiebung von Marktanteilen vom Einzel- zum Onlinehändler kommt zum Erliegen. Inzwischen wird aber fast jeder fünfte Euro im Handel im Internet abgewickelt, in Bereichen wie Mode oder Elektronikartikel liegt der Anteil sogar bei rund 40 Prozent.

Bis vor Kurzem war jedes zweite Geschäft ein Modeladen

Für Hamburg sind das keine guten Nachrichten – gerade Mode war mit einem Anteil von 50 bis 70 Prozent eines der zentralen Angebote der Innenstadt. Und mit dem Ende für den Kaufhof und Karstadt-Sport an der Mönckebergstraße sind gleich zwei Schneidezähne aus dem schmucken Gebiss der Innenstadt herausgefallen. Zeit für neue Ideen, neue Ansätze, neue Wege.

Das Neue ist die Jobbeschreibung der Innenstadtkoordinatorin Prof. Elke Pahl-Weber, die in der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen angesiedelt ist. Mit ihrem Team aus fünf Mitarbeitern auf zwei Vollzeitstellen will sie den Wandel begleiten und coachen. 500 Sprechstunden haben sie und ihr Team in ihrem neuen Kontor in der Rathausstraße abgehalten, Pahl-Weber allein 100 Einzelgespräche geführt.

Julia Erdmann, Gründerin des Beratungsunternehmens JES Socialtecture, und Oberbaudirektor Franz-Josef Höing beim Stadtspaziergang zum Thema Einzelhandel.
Julia Erdmann, Gründerin des Beratungsunternehmens JES Socialtecture, und Oberbaudirektor Franz-Josef Höing beim Stadtspaziergang zum Thema Einzelhandel. © FUNKE Foto Services | Mark Sandten

„Es kommt vor, dass ich wie eine Maklerin angesprochen werde, um Flächen zu finden. Da versuche ich dann auch zu vermitteln“, sagt die Stadtplanerin und Hochschullehrerin. Derzeit hilft sie, Projektideen auf den Weg zu bringen – darunter auch die Ansiedlung einer internationalen Hotelfachschule nach New Yorker Vorbild mit dem Schwerpunkt Kreuzfahrt.

Autohäuser, Radläden oder Möbelgeschäfte ziehen in die Innenstadt

Zugleich geht es ihr darum, die großen Trends aufzuzeigen, die unsere Städte umkrempeln. Einer ist unübersehbar: Autohäuser, Radläden oder Möbelgeschäfte – früher meist am Rande der Stadt beheimatet – drängen plötzlich in die Innenstädte. „Und das ist erst der Anfang“, sagt Julia Erdmann, Architektin und Gründerin des Beratungsunternehmens JES Socialtecture. „Einkaufen wird zum Event. Und auch Haustechnik wird cool.“

Daran glaubt auch das Unternehmen Saturn/MediaMarkt. Das Kaufhaus und wichtiger Frequenzbringer am Eingang der Mö wirkt wie ein letzter Mohikaner vergangener Kaufhauszeiten und wurde von manchen längst totgesagt. Doch der Anbieter von Batterien, Vinyl-Schallplatten und Waschmaschinen glaubt an den Standort. Tatsächlich sind hier in der Mönckebergstraße Ost/Spitalerstraße bei Frequenzzählungen 2023 wieder 26,6 Millionen Passanten gezählt worden, fast so viel wie vor Corona.

Frequenzzählungen zeigen, dass es aufwärts geht

Diesen Einblick gibt der neue interaktive Datentisch bei der Innenstadtkoordinatorin. Während der Pandemie 2021 kamen nur noch 15,7 Millionen Menschen in diesen Teil der Stadt. Gerade hat der Elektronikhändler den Mietvertrag um zehn Jahre verlängert. „Wir glauben an das Konzept und die Zukunft des Handels“, sagt Sultan Kaya, Geschäftsführer Saturn Mönckebergstraße. Nun will sich das Technikkaufhaus auf 15.000 Quadratmetern neu erfinden und online und offline besser vernetzen.

Das Technikkaufhaus Saturn am Eingang der Mönckebergstraße wird derzeit aufgehübscht und bekommt eine Dachterrasse und eine Arena für Gamer.
Das Technikkaufhaus Saturn am Eingang der Mönckebergstraße wird derzeit aufgehübscht und bekommt eine Dachterrasse und eine Arena für Gamer. © FUNKE Foto Services | Mark Sandten

Im Erdgeschoss werden sich ab September Technikmarken wie Apple, Sony oder Sonos in einem Boutique-Konzept präsentieren – wie es schon heute die Luxusmarken in manchen Kaufhäusern tun. „Dabei geht es um das Erleben, Ausprobieren, um das Fühlen“, sagt Kaya. „Wir sind nicht nur Konsumtempel, wir wollen uns der Gesellschaft öffnen.“ Das soll auch architektonisch geschehen, die abgeklebten Scheiben im Erdgeschoss verschwinden, das Haus öffnet sich zu den Langen Mühren, die ganze Ecke am Eingang der City soll attraktiver und lebendiger werden.

Das Technikkaufhaus Saturn/MediaMarkt erfindet sich neu

Ins Untergeschoss zieht die Marke Decathlon, unter dem Dach wird Xperion auf 3500 Quadratmetern eine Arena fürs Gaming bauen. Das Konzept verbindet Erlebnis, Event und Gastronomie. „Das soll ein Grund sein, für junge Menschen ins Kaufhaus zu kommen“, beschreibt Sebastian Knaup, Geschäftsführer Xperion. Er rechnet mit 2500 bis 3000 Jugendlichen und jungen Erwachsenen am Tag, auch Spiele der virtuellen E-Bundesliga können dann an der Mö stattfinden.

Das Kalkül dahinter: „Wir wollen die Marke Saturn positiv aufladen.“ Er will den 15 Millionen der jungen Generationen, die ohne Hertie, Horten und Karstadt sozialisiert wurden, das Konzept Kaufhaus näherbringen. Und setzt darauf, dass die Gamer von heute die Waschmaschinenkäufer von morgen werden.

Ganz neu ist die Idee nicht: Kaufhäuser waren auch schon vor Jahrzehnten Erlebnisräume und Ausflugsziele. Nun wird das Konzept modernisiert. Das Saturn-Dach, wo jetzt noch Autos parken, wird für neue Nutzungen geöffnet – für einen Weihnachtsmarkt, für kleinere Veranstaltungen, für Gastronomie. Von der cleveren Luftnummer verspricht sich Hamburgs Oberbaudirektor Franz-Josef Höing einiges: „Wir müssen die Dachwelten neu erschließen“, sagt er.

Vom Elfenbeinturm in den Saturn: Die Kunst zieht ins Technikkaufhaus

Sogar die Kunst zieht ins Technikkaufhaus ein – vom Elfenbeinturm in den Saturn. Der Oberbaudirektor hat die Hochschule für Bildende Kunst und den Betreiber zusammengebracht. Die jungen Künstler bekommen einen 70-Quadratmeter-Raum im Erdgeschoss. „Kunst hat oft Vorbehalte gegen Unternehmen“, sagt Martin Köttering von der HFBK. „Hier aber wurden uns keine Schranken gesetzt. Wir bekommen einen kritischen Resonanzraum.“

Solche innovativen Brückenschläge beleben die Stadt. „Das muss Schule machen. Wir müssen den Handel mit anderen Angeboten verschränken“, sagt Höing. Auch im Erdgeschoss wird die wenig charmante Ecke am Innenstadteingang aufgewertet. Die Parkplätze in den Langen Mühren verschwinden, die Baustelle am früheren Kaufhof soll in Containern gastronomisch bespielt werden.

Die Innenstädte hatten sich weltweit ins Sterbenslangweilige gesiegt

Schaut man sich um, könnte Hamburgs Innenstadt mehr Originalität vertragen. Wohin auch das Auge blickt, sieht es Flaggschiffgeschäfte und Filialisten, große, aber eben auch austauschbare Namen sind die Nachbarn: Zara, Adidas, H&M und die Hamburger Schuhmarke Görtz. Die europäischen Einkaufsstraßen haben sich vielleicht nicht zu Tode, aber ins Sterbenslangweilige gesiegt: Die internationalen Marken haben den Bummel austauschbar gemacht – Hamburg, Stockholm, Madrid, es ist zu oft die Wiederholung des Immergleichen. Zugleich zeigt die Krise, dass Innenstadt mehr ist als eine große Verkaufsfläche: Lebensraum, Kulturraum, Erlebnisraum.

So soll das neue Gebäude an der Mönckebergstraße 9 mit Geschäften und Hotel aussehen, das derzeit im Bau ist.
So soll das neue Gebäude an der Mönckebergstraße 9 mit Geschäften und Hotel aussehen, das derzeit im Bau ist. © ARGE Mönckebergstraße 9, Sergison Bates architects rethmeierschlaich architekten, Secchi Smith. | ARGE Mönckebergstraße 9, Sergison Bates architects rethmeierschlaich architekten, Secchi Smith.

Nur 300 Meter weiter Richtung Rathaus drehen sich die Kräne an der Mönckebergstraße 9. Dort thronte einst das große C&A-Warenhaus mit 20.000 Quadratmeter Verkaufsfläche. Der Nachkriegsbau ist längst abgeräumt, nun entsteht dort bis zum ersten Quartal 2026 ein ästhetischer Backsteinbau mit dem ambitionierten Namen Elisen-Palais. „Der Bau aus den Sechzigerjahren war nicht mehr marktgerecht“, sagt Jörg Schmidt, Asset Manager des Projektentwicklers Redevco. „Wir haben uns die Frage gestellt, wie viele Etagen die Mö verträgt.“ Seine Rechnung ist einfach: Pro Etage verliert der Händler zwischen 40 und 50 Prozent an Umsatz, die Kosten aber sinken nicht mit. Deshalb setzt das neue Schmuckstück hinter der Rotklinkerfassade auf eine Mischnutzung mit Einzelhandel, Hotels, Büros und Gastronomie. „Wir wollten keine 08/15-Architektur“, sagt Schmidt.

Die Bugenhagenstraße wird wieder zu einer Adresse

Der Handel zieht in drei Geschosse im Elisen-Palais – das sogenannte Basement, das Erd- und das erste Obergeschoss. Mehrere Eingänge ermöglichen drei verschiedene Ladenkonzepte, auch ein Lebensmittelhändler, der in diesem Teil der City fehlt, soll dort einziehen. „Das Interesse ist groß. Aber jeder guckt, wie sich das Überseequartier entwickelt.“ Trotzdem glaubt Schmidt an die Mö. Das wird ein Topstandort bleiben.

Bereits vertraglich vereinbart ist der Einzug eines Hotelkomplexes. Dort vermietet der Anbieter StayKoook 73 Apartments; das Hyatt kehrt mit einem Vier-Sterne-Hotel und 192 Zimmern in die City zurück. Im achten Geschoss ist ein Restaurant mit Dachterrasse geplant, Ausblick auf die HafenCity inklusive. Zudem wird es zum Kontorhausviertel hin eine ebenerdige Außengastronomie geben. Höing hofft auch auf städtebauliche Impulse: „Damit machen wir die Bugenhagenstraße wieder zu einer Adresse. Bislang gleicht sie einem Dienstboteneingang.“

Noch drehen sich auf dem Grundstück des früheren C&A-Gebäudes die Kräne – hier entsteht das Elisen-Palais.
Noch drehen sich auf dem Grundstück des früheren C&A-Gebäudes die Kräne – hier entsteht das Elisen-Palais. © FUNKE Foto Services | Mark Sandten

Der Abgesang auf die City könnte etwas zu früh angestimmt worden sein. Der Leerstand ist meist nur ein vorübergehendes Phänomen. Händler sind kreativ: So hat das inhabergeführte Modegeschäft Thomas i-Punkt im denkmalgeschützten Hulbe-Haus kurzerhand eine Etage in ein attraktives Café verwandelt. Zugleich drängen neue Konzepte in die Innenstadt, so zum Beispiel auch Elektro-Fahrradanbieter.

Internetplattformen ziehen in die City - weil es nicht ohne Showroom geht

Oder Internetmarken, die aus dem Virtuellen ins Echte drängen, ihrerseits einen Flagshipstore beziehen. Das Zalando Outlet ist in die Großen Bleichen gezogen, der Online-Möbelhändler Westwing zeigt seine Möbel am Jungfernstieg. „Die Kunden haben den Wunsch, einmal auf dem Sofa Probe zu sitzen und reisen aus dem Umland, aus Hannover oder Flensburg an“, sagt die Innenstadtkoordinatorin Elke Pahl-Weber. Online und offline müssen nicht immer Gegenspieler sein, manchmal verschmelzen die Nutzungen.

Am Ballindamm hat Hamburgs Unternehmenshoffnung 1komma5 Grad ein großes Verkaufsbüro bezogen. Das Start-up setzt voll auf die Energiewende, berät, plant und installiert für seine Kunden klimaverträgliche Lösungen und ist inzwischen mehr als 500 Millionen Euro wert.

Auch hier machen die Passantenzählungen Mut: Im Bereich Mönckebergstraße West, Ballindamm und Jungfernstieg Ost liegt die Zahl der Besucher mit 16,7 Millionen 2023 schon wieder fünf Prozent über dem Stand von 2019. „Der Ballindamm kommt wieder“, sagt Höing. „Er bleibt aber noch etwas unter seinen Möglichkeiten.“

Der Ballindamm wartet noch darauf, wachgeküsst zu werden

Das ist höflich formuliert – welche Stadt mit diesem Panorama würde eine derart attraktive Westlage im Sommer nicht zu einer Gastromeile machen? Mit dem CIU und dem Grill Royal ist ein Anfang gemacht, das prächtige Gebäude von Hapag-Lloyd aber verweigert sich noch dem Aufbruch an Hamburgs Prachtstraße. Dort stehen im Souterrain Wasserkästen. Wasserkästen mit Wasserblick. Erkenne den Fehler.

Wie ein Aufbruch funktionieren kann, lässt sich am Deutschlandhaus an der Dammtorstraße besichtigen. Das alte Gebäude mit seiner bewegten Geschichte wurde nach Plänen von Hadi Teherani neu erschaffen und öffnet sich nun zum Gänsemarkt und zur Staatsoper. Während das Äußere die Tradition mit seiner Backsteinfassade behutsam aufgreift, besticht das Innere mit einer großen, lichtdurchfluteten Freifläche.

Der Zehngeschosser mit seinen fast 50.000 Quadratmetern Grundfläche ist fast komplett vermietet – darunter an die Haspa. Von den sieben Einzelhandelsflächen sind fünf vergeben, eine davon an den Showroom von Aston Martin. „Es lassen sich durchaus hohe Mieten erzielen, wenn man attraktive Flächen anbietet“, sagt Guido Wiese, Geschäftsführer des Entwicklers AGB Development. Das ist aber kein Selbstläufer mehr: „Man muss sich kümmern und die eigene Kompetenz einbringen. Jetzt trennt sich die Spreu vom Weizen.“

Guido Wiese, Geschäftsführer des Entwicklers AGB Development, vor dem Deutschlandhaus, das gerade fertig geworden ist
Guido Wiese, Geschäftsführer des Entwicklers AGB Development, vor dem Deutschlandhaus, das gerade fertig geworden ist © Matthias Iken | Matthias Iken

Auch Gastronomie oder Blumenanbieter gibt es jetzt im Deutschlandhaus. „Wir haben vor der Entwicklung hier Passanten gezählt – das war früher bestenfalls eine 1b-Lage. Der Neubau hat die Lage deutlich aufgewertet“, sagt Wiese. Diese Entwicklung liegt auch im Interesse der Stadtentwicklung – denn der Valentinskamp stoppt bislang die Bummler wie eine Mauer aus. „Es ist noch nicht bei allen in der mentalen Topografie angekommen, dass es hier weitergeht“, sagt Höing.

Die Stadthöfe zeigen, wie clevere Innenstadtaufwertung funktioniert

Wenn die weggerissene Gänsemarkt-Passage wie geplant als Hofkonzept neu entsteht, dürfte die Ecke noch lebendiger werden. Das Konzept von Signa ist zwar an der Pleite des Immobilienkonzerns zunächst gescheitert, aber nicht vom Tisch. Die Architekten von BiwerMau haben ein Ensemble aus drei Gebäuden entworfen, dass nicht nur den Gänsemarkt mit den Colonnaden verbindet, sondern auch attraktive Durchgänge und Höfe schafft.

Was Höfe zu leisten vermögen, zeigen die neuen Stadthöfe. Es brauchte etwas Zeit, bis die Hamburger, aber auch die Mieter das neue Ensemble zwischen Stadthausbrücke, Neuem Wall, Bleichenbrücke und Große Bleichen angenommen haben. Aber die Geduld der Eigentümerin, der Stadthöfe GmbH & Co. KG, hat sich ausgezahlt. Tanja Zuther-Grauerholz, frühere Projektleiterin und maßgeblich an der Entstehung der Stadthöfe beteiligt, blickt inzwischen auf fast vollständig vermietete Flächen in den acht Gebäuden und den vier Höfen.

Tanja Zuther-Grauerholz im Palaishof, dem Durchgang zum Neuen Wall
Tanja Zuther-Grauerholz im Palaishof, dem Durchgang zum Neuen Wall © Matthias Iken | Matthias Iken

Diese neue Struktur aus den alten Häusern haben David Chipperfield Architects herausgearbeitet. Sie verbinden Straßen und arbeiten eine Stärke der europäischen Stadt heraus, sie überraschen, entführen, verführen Hamburger und Touristen zugleich. „Das ist die Zukunft der City, ein Gegenpol zum Internet“, sagt die Expertin. „Ins Internet können alle, ein Bummel muss zum Erlebnis werden.“

Die Passantenzahlen in dem Gebiet zwischen Neuem Wall, den Großen Bleichen und der Poststraße sind das Wachstumsviertel der Stadt. Kamen 2019 hier 19,4 Millionen Besucher, waren es 2023 schon 22,8 Millionen. Die Corona-Delle mit nur 13 Millionen Euro ist längst vergessen.

Im Sommer brummt die Außengastronomie, im Winter der Weihnachtsmarkt

Im Sommer brummt in den Stadthöfen die Außengastronomie, im Winter ist der Weihnachtsmarkt der vielleicht schönste der Stadt. Das Hotelkonzept hat der Eigner einfach selbst umgesetzt, nachdem alle Ketten abwinkten, und hat mit dem Tortue einen großen Erfolg gelandet. Viele Möbelgeschäfte und inhabergeführte Konzepte sind hier heimisch geworden. „Man muss die Miete so gestalten, dass sich die Mieter wohlfühlen“, sagt Managerin Zuther-Grauerholz. Auf der anderen Seite muss der Vermieter die Erträge erwirtschaften, dass es funktioniert.

Derzeit wird überall der Anspruch der Vermieter und die Leistungsfähigkeit der Mieter neu austariert. Aber die Stadthöfe zeigen, dass es klappen kann.

Aus dem alten Verlagsgebäude soll ein junges Quartier werden

Auf eine ähnliche Erfolgsgeschichte hofft Hanjo Hautz, Geschäftsführer der Momeni Holding, die für das Vermietungskonzept im Springerquartier zuständig ist. Das neue Areal wartet darauf, wachgeküsst zu werden, die City West scheint hier zu enden.

Hanjo Hautz, Geschäftsführer der Momeni Holding, im Springer-Quartier. Mit dem Ende der Bauarbeiten in der Kaiser-Wilhelm-Straße dürfte sich auch dieses Viertel beleben.
Hanjo Hautz, Geschäftsführer der Momeni Holding, im Springer-Quartier. Mit dem Ende der Bauarbeiten in der Kaiser-Wilhelm-Straße dürfte sich auch dieses Viertel beleben. © Matthias Iken | Matthias Iken

„Der Sprung über die Fuhlentwiete klappt noch nicht, die Leute laufen quasi vor eine Wand“, beschreibt Höing das Phänomen. Vergrößert hat diese Barriere die Baustelle, die seit vier Jahren die Kaiser-Wilhelm-Straße lahmlegt. Der Mensch wie der Hamburger ist ein Gewohnheitstier. Er denkt noch immer, dort an der Caffamacherreihe sei wie in den Jahrzehnten zuvor nicht viel zu holen. Sie irren sich.

Teile des alten Verlagsgebäudes, nach dem Umzug von Springer nach Berlin ohnehin nicht mehr benötigt, wurden abgerissen, die Erdgeschosszonen geöffnet, und mit der Springertwiete gibt es nun sogar einen neuen Durchgang. Hier kann man Zitate Hamburger Größen an den Lampen lesen. „Hamburger geben nicht auf“ (Uwe Seeler) oder „Irgendwie, irgendwo, irgendwann“ (Nena).

In der City bilden sich mehr und mehr Cluster – etwa für Mode oder Möbel

Das sind auch schöne Losungen für die Immobilienbranche. Seit zwei Jahren ist das Springer-Quartier fertig, die 53 Wohnungen sind alle vermietet, aber in den Erdgeschossflächen fehlen noch manche Mieter. „2500 Mitarbeiter arbeiten im Springer-Quartier, sie müssen essen und einkaufen“, rechnet Hautz vor. Er verweist auf die nötige Geduld und das richtige Händchen bei der Auswahl. Er kann sich gut vorstellen, dass die Möbelmeile, die längst nicht mehr im Vorort, sondern an der Stadthausbrücke verläuft, weiter nach Westen zieht. „In der City bilden sich Cluster. Das hier ist eine gute Lage für Showrooms, Galerien, Einrichter“, sagt er.

Auch die Textilkünstlerin Lea Theres Lahr-Thiele stellt in den neuen Flächen das FABRIC Future Fashion Lab an den Großen Bleichen 21 aus.
Auch die Textilkünstlerin Lea Theres Lahr-Thiele stellt in den neuen Flächen das FABRIC Future Fashion Lab an den Großen Bleichen 21 aus. © Matthias Iken | Matthias Iken

Klar ist: Hamburg wandelt sich. Neue Zeiten bringen neue Herausforderungen und neue Chancen. Die Stadtexpertin Julia Erdmann von JES Socialtecture erwartet nach der Verkehrs- und Energiewende auch eine Textilwende. „Fashion war in Hamburg dominant, aber das ändert sich.“ Während der Luxus- und Premiumbereich weiter funktioniere, werden sich in anderen Bereichen neue Trends durchsetzen: „Secondhand und Vintage bekommen einen anderen Stellenwert und drängen heraus aus der Nische“, aber auch das Reparieren oder das Leasen von Kleidung werde interessant. Damit krempelt sich auch die Einzelhandelsszene um.

Die Modewerkstätten sind ein Beispiel für die Wandlung der Innenstadt

Einen ganz neuen Ansatz verfolgt das FABRIC Future Fashion Lab an den Großen Bleichen 21. Hier haben sich Designer, Unternehmer, Labels und die Hochschule zusammengeschlossen, um die Zukunft der Textilbranche zu gestalten. In der Galeria-Passage wird auf drei Stockwerken nachhaltige Mode entworfen, produziert und verkauft. Es ist das Gegenteil von Fast Fashion, dem Fast Food der Kleiderimperien. Es ist Slow Fashion. „FABRIC zeigt die Entwicklungsrichtung für den Wandel der Innenstadt“, sagt die Innenstadtkoordinatorin, die am Zustandekommen dieses „Prototyps“ für künftige Nutzungen mitgewirkt hat.

Kreativ-Gesellschaft-Geschäftsführer Egbert Rühl,  Innenstadtkoordinatorin Elke Pahl-Weber und Kultursenator Carsten Brosda haben vor Kurzem das Future Fashion Lab eröffnet, einen neuen Ort für nachhaltige Mode.
Kreativ-Gesellschaft-Geschäftsführer Egbert Rühl, Innenstadtkoordinatorin Elke Pahl-Weber und Kultursenator Carsten Brosda haben vor Kurzem das Future Fashion Lab eröffnet, einen neuen Ort für nachhaltige Mode. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Im Keller stehen die Nähmaschinen, Drucker, Cutter der gläsernen Werkstatt, im Erdgeschoss gibt es einen Kaffee, dort und im ersten Obergeschoss werden die Handwerkswaren in einem Pop-up-Store an den Mann und die Frau gebracht. Der Anstoß kam dabei nicht von der Kammer, sondern von der Kreativgesellschaft. Sie hat schon mit dem Programm Frei_Fläche Zwischennutzungen in leer stehenden Immobilien wie dem Jupiter ermöglicht, die die City beleben und angehenden Unternehmern eine Spielfläche bieten, um herauszufinden, ob ihr Geschäftsmodell funktioniert.

„Das ist ein superspannender Ort“, sagt Egbert Rühl von der Kreativgesellschaft. „Das soll ein Hub, ein Zentrum für Mode werden.“ Er gibt der Mode Raum zum Werden und den Kunden Raum zum Staunen. Hier ist die Welt der Manufakturwaren, der ausgefallenen Kollektionen, der Experimente.

Hier treffen zwei zusammen, die sich neu erfinden müssen: Textilwirtschaft und Passagen

Lea Theres Lahr-Thiele ist eine Textilkünstlerin, die sich der Idee des Zero Waste, der kompletten Müllvermeidung verpflichtet fühlt. Mittels Lasertechnik schöpft sie aus aussortierten Materialien ausgefallene Mode. Christian Adler, der lange eine Boutique in Ottensen betrieb, zeigt seine Kollektionen im kreativen Kontext. Interessierte können den Modeschöpfern nicht nur bei der Arbeit zuschauen, sondern auch einen Termin vereinbaren. 

Hier treffen zwei zusammen, die sich neu erfinden müssen: Die Textilwirtschaft und die Passagen – denn diese Konsumtempel hatten einst zwei Funktionen – unabhängig vom Hamburger Schietwetter das Flanieren zu ermöglichen und die Stadtfläche zu erweitern, um noch mehr Läden anzubieten. Die Vermehrung der Quadratmeter aber ist keine Strategie von morgen – auch angesichts des Überseequartiers mit seinen 80.500 Quadratmeter Ladenfläche zusätzlich.

Vielerorts beginnen die Mieten zu sinken – eine Chance für die City

Es geht nicht mehr um Quantität, sondern um Qualität. Die Innenstadt verwandelt sich vom reinen Verkaufstresen zur Manufaktur. In der Krise liegt eine Chance: Die Gewerbemieten haben sich längst – das zeigen Analysen der Immobilienexperten von Bulwien-Gesa – von den Wohnmieten entkoppelt. In den vergangenen Jahren sind sie kaum noch gestiegen, zuletzt sanken sie sogar.

Diese und viele weitere Texte finden sich auch im Buch zur Stadtentwicklung „Was wird aus Hamburg?“, das Anfang Oktober bei Ellert & Richter erscheint. Jetzt vorbestellen auf abendblatt.de/shop 
Diese und viele weitere Texte finden sich auch im Buch zur Stadtentwicklung „Was wird aus Hamburg?“, das Anfang Oktober bei Ellert & Richter erscheint. Jetzt vorbestellen auf abendblatt.de/shop  © Ellert & Richter Verlag | Ellert & Richter Verlag

„Zunehmend entdecken gastronomische und diskontierende Einzelhandelskonzepte die innerstädtischen Lagen für sich, aber auch Modeanbieter konnten zuletzt wieder hohe Vermietungsquoten erzielen“, heißt es in einer aktuellen Analyse. Die Nachfrage nach großen Flächen ab 2000 Quadratmetern und mittleren Flächen ab 250 Quadratmetern zieht demnach wieder an, oft aber bei sinkenden Mieten, weil die Vermieter zu Zugeständnissen bereit sind. „Einige werden sich an niedrigere Mieten gewöhnen müssen“, prophezeit auch Höing.

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Wenn aber die Mieten sinken, wachsen die Möglichkeiten. Und zugleich bedeutet es: Der Vermieter muss sich intensiver kümmern, die Mieter werden anspruchsvoller. Das müssen keine schlechten Nachrichten für Hamburg sein – ganz im Gegenteil.