Hamburg. Viele warten in Hamburg wochenlang auf angemessene Betreuung – und rutschen dadurch womöglich in Kriminalität oder Extremismus.
Zuletzt hatten sie immer wieder für negative Schlagzeilen gesorgt: Kinder und Jugendliche, die beim Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) in der Feuerbergstraße untergebracht sind. So hatten Mädchen in der Notaufnahme eines Krankenhauses randaliert, und ein Elfjähriger aus dem KJND soll für Dutzende Wohnungseinbrüche verantwortlich sein. Die Linke sieht für solche Vorkommnisse nun auch eine indirekte Verantwortung beim Senat. Denn neue Zahlen zeigten, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge oft wochenlang auf eine adäquate Betreuung warteten und in der Feuerbergstraße lediglich quasi verwahrt würden.
„Hamburg lässt minderjährige unbegleitete Geflüchtete komplett im Stich“, sagte Linken-Flüchtlingspolitikerin Carola Ensslen mit Blick auf Senatsantworten auf Kleine Anfragen ihrer Fraktion. „Ganz auf sich allein gestellt werden sie erst mal dem Prozedere der Altersfeststellung ausgesetzt, obwohl Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verlangt, dass ihnen bereits hier eine Vertretung ihrer Interessen beiseitegestellt werden müsste.“
Flüchtlinge Hamburg: Ein Vormund betreut 50 Jugendliche
Bei der Betreuung der jungen Flüchtlinge liege „ein Totalversagen vor“, so Ensslen. So sähen die offiziellen Amtsvormünder „ihre jeweils 50 betreuten Minderjährigen maximal dreimal pro Jahr“. Das sei „viel zu wenig, viel zu spät“. Wenn die jungen Menschen nicht von Beginn an richtig begleitet würden, berge dies die Gefahr, „dass uns junge Menschen an Menschenfänger verloren gehen oder abgleiten in Sucht, Islamismus oder Kriminalität“.
Ein dramatisches Bild der Situation in der Feuerbergstraße zeichnet auch Axel Limberg, der sich seit Jahren als ehrenamtlicher Vormund für junge Geflüchtete einsetzt und dafür kürzlich mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt wurde. „Die Lage in der Feuerbergstraße ist sehr, sehr schwierig – nicht nur für die Jugendlichen, sondern auch für die dort Beschäftigten“, sagte Limberg dem Abendblatt.
KJND Feuerbergstraße: Manche werden hier erst traumatisiert
„Die Jugendlichen kommen hier an und sind völlig entwurzelt: weg von Familie und Freunden, von der Heimat und der Kultur. Viele sind traumatisiert, auch weil sie während der Flucht schutzlos Dinge über sich ergehen lassen mussten. Nun werden sie in der Feuerbergstraße lediglich verwahrt. Ich kenne Jugendliche, die dort einmal mehr traumatisiert wurden.“
Für die Entwicklung und Integration der Jugendlichen sei eine deutsche Vertrauensperson elementar. „Diese Vertrauensperson könnte die Vormündin bzw. der Vormund sein. Doch bei nur drei oder vier Kontakten die bei Amtsvormundschaften jährlich stattfinden? Keine Chance.“
Rund 1300 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Hamburg
Limberg plädiert dafür, dass die Stadt neben den ehrenamtlichen Vormündern und den als Vormünder eingesetzten Behördenmitarbeitern auch stärker auf berufliche Vormünder setzen sollte. „Ich weiß, dass bei den Berufsvormündern noch Kapazitäten vorhanden sind und sie diesen Beruf auch als Berufung betrachten, also echt gut sind“, sagte Limberg. „Einige Jugendliche könnten von einem auf den anderen Tag Vormünder bekommen, wenn Rechtspflege und Jugendamt unkompliziert schnelle Entscheidungen treffen würden.“
In Hamburg leben derzeit laut Senat gut 1300 minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. Knapp die Hälfte der Vormundschaften werden in der Sozialbehörde geführt. Ein Amtsvormund darf für bis zu 50 junge Flüchtlinge als Vormund verantwortlich sein. Oft verbringen die Jugendlichen laut den Senatsangaben viele Wochen in der überbelegten Feuerbergstraße, bis sie in passende Einrichtungen der Jugendhilfe vermittelt werden können.
Sozialbehörde spricht von „hoher Belastungssituation“ durch Flüchtlinge
„Wir haben bereits seit längerer Zeit eine hohe Belastungssituation in den verschieden Jugendhilfe-Angeboten der Stadt Hamburg“, sagte Sozialbehördensprecher Wolfgang Arnhold. „Die Folgen des Ukraine-Krieges und anderer Konflikte auf der Welt verursachen seit geraumer große Fluchtbewegungen, die auch dafür sorgen, dass hohe Zahlen an unbegleiteten minderjährigen Ausländerinnen und Ausländern nach Hamburg kommen.“
Auch für diese Kinder gelte aber: „In Deutschland haben Minderjährige vor Vollendung des 18. Lebensjahres Anspruch auf den besonderen Schutz des Staates. Diesen Schutzanspruch setzen wir in Hamburg konsequent um.“ Das Jugendhilfe-System greife von der ersten Minute der Ankunft an. Es könne „also nicht die Rede davon sein, dass wir die Kinder und Jugendlichen im Stich lassen“.
Flüchtlinge Hamburg: Sozialbehörde weist Vorwürfe zurück
Vielmehr gebe es in Hamburg „ein klar standardisiertes Verfahren für Kinder und Jugendliche, die ohne Sorgeberechtigte einreisen“. Sie würden zunächst vorläufig durch den Fachdienst Flüchtlinge beim KJND in Obhut genommen, so Arnhold. „In diesem Rahmen findet in Zweifelsfällen das behördliche Verfahren zur Altersfeststellung statt.“
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Der ehrenamtliche Vormund Axel Limberg fordert angesichts der großen Probleme ein Umdenken von der Stadt. „Die Verantwortlichen in den Behörden befinden sich gerade in einem Hamsterrad. Natürlich kommt man dabei nicht auf die besten Lösungsansätze, logisch“, sagte Limberg. „Ich schlage einen runden Tisch mit Expertinnen und Experten abseits von Politik und Behörden vor. Mit dem geschulten Blick von außen kämen viele kreative Ideen zur Befriedung der Situation auf den Tisch. Dieser runde Tisch ließe sich noch im August organisieren. Die Sozialbehörde hat meine Nummer.“
Flüchtlinge Hamburg: So profitiert die Stadt von der Integration
Denn, so Limberg: „Eine reiche Millionenmetropole soll es nicht schaffen, 1300 Jugendliche ordentlich zu versorgen und zu betreuen? Da weigere ich mich, das zu glauben.“ Denn auch die Stadt habe viele Vorteile, wenn die Integration der jungen Flüchtlinge gelinge.
Das belegt Limberg am Beispiel von fünf jungen Menschen, die hier als Flüchtlinge ankamen. „Einer repariert jetzt Kräne im Hafen – ohne ihn würden wir Waschmaschinen und Kühlschränke nicht bekommen“, erzählt der Träger des Bundesverdienstkreuzes. „Ein anderer ist der beste Zahnreiniger der Stadt. Der dritte ist Chefelektriker einer Schokoladenfabrik in Wandsbek. Und zwei andere machen sich gerade auf den Weg, Politiker zu werden.“