Hamburg. Der Ex-Spitzenkandidat rechnet mit den Christdemokraten in Hamburg ab. Warum der Familienpolitiker jetzt einen Schlussstrich zieht.
- Marcus Weinberg war Spitzenkandidat der CDU bei der Bürgerschaftswahl 2020.
- Nach 38 Jahren verlässt er nun die Partei.
- Im Abendblatt-Gespräch erläutert er die Gründe für seinen Austritt.
Paukenschlag für die Hamburger CDU: Marcus Weinberg, Spitzenkandidat bei der Bürgerschaftswahl 2020 und langjähriger Bundestagsabgeordneter, kehrt seiner Partei den Rücken und tritt nach 38 Jahren Mitgliedschaft aus. Dem Schritt vorausgegangen war eine „sehr lange und reifliche Überlegung“, wie Weinberg im exklusiven Gespräch mit dem Abendblatt erläutert. Mit dem Austritt des 57 Jahre alten Lehrers geht ein Entfremdungsprozess zwischen ihm und der Partei auf Landes- und auf Bundesebene zu Ende, der sich seit der historischen Niederlage der CDU bei der Bürgerschaftswahl 2020 immer weiter beschleunigt hatte. Unter Weinbergs Führung hatte die Union mit 11,2 Prozent das schlechteste Ergebnis aller Zeiten eingefahren.
Weinberg gehörte dem christlich-sozialen und liberalen Flügel seiner Partei an und war lange Landesvorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), der früheren Sozialausschüsse. „Meine gesellschaftliche Haltung, die auf Zusammenhalt und Solidarität statt auf Populismus und Polarisierung setzt, mein Politikverständnis, das auf Ausgleich und eine politische Gesamtverantwortung allen Menschen gegenüber statt auf eine verengte Wählerklientelpolitik setzt, waren immer unverzichtbare Voraussetzungen zur Bindung an die CDU“, sagt Weinberg und fügt hinzu: „Diese Bindungselemente als Identifikation sind nicht mehr mit der heutigen CDU so gegeben, dass sie für mich tragfähig sind.“
CDU Hamburg: Hamburgs Ex-Spitzenkandidat Marcus Weinberg verlässt die Partei
Der frühere Kreisvorsitzende der Altonaer CDU saß während der Kanzlerschaft von Angela Merkel (CDU) von 2005 bis 2021 im Bundestag und war zuletzt familienpolitischer Sprecher der Unionsfraktion (und viele Jahre Kapitän des FC Bundestags). Weinberg, zuvor Bürgerschaftsabgeordneter, unterstützte den liberalen Kurs des damaligen Ersten Bürgermeisters Ole von Beust (CDU) und befürwortete ausdrücklich die von den Grünen im schwarz-grünen Koalitionsvertrag durchgesetzte Primarschulreform, die später per Volksentscheid gekippt wurde. „Am ,großen Gesamtbild‘ von Ole von Beust und Angela Merkel habe ich voller Überzeugung meine kleinen Pinselstriche gezogen. Ich spürte immer, auch bei allen durchaus vorhandenen Fehlern, das insgesamt positive Wirken der Gesamtverantwortung den Menschen gegenüber – auch über die eigene Wählerschaft hinaus“, sagt Weinberg rückblickend.
„Heute erkenne ich bei der gesellschaftspolitischen Haltung, beim politischen Auftreten und bei der inhaltlichen Positionierung der CDU in zunehmendem Maße Linien und Ausrichtungen, die nicht meine sind und die ich nicht länger als Mitglied tragen kann“, sagt Weinberg. Konkret hat ihn zum Beispiel jüngst die aus seiner Sicht populistische Aussage des CDU-Generalsekretärs Carsten Linnemann empört, der sich dafür ausgesprochen hat, mehr als 100.000 Menschen das Bürgergeld zu streichen, weil sie angeblich grundsätzlich nicht bereit seien, eine Arbeit anzunehmen. Weinberg hält auch Linnemanns Zahl für viel zu hoch.
Weinberg hatte in einer Notsituation die Spitzenkandidatur für die Wahl 2020 übernommen
Doch auch mit seinen bisherigen Hamburger Parteifreunden liegt Weinberg über Kreuz. „Das Konzept der liberalen Großstadtpartei ist ad acta gelegt worden, und zwar nicht auf eine integrative Art und Weise. Inhaltlich gab es eine frische Brise Populismus und Kulturkampf – von der Bekämpfung der Frauenquote bis zum Genderverbot. Das war eine radikale Neuaufstellung. Nicht mein Ding“, hatte Weinberg bereits im Gespräch mit dem Abendblatt Anfang dieses Jahres gesagt. Die CDU unterstützt seit Anfang 2023 auf Betreiben des damaligen Landesvorsitzenden Christoph Ploß die Volksinitiative „Schluss mit der Gendersprache in Verwaltung und Bildung“, deren Volksbegehren derzeit läuft. Weinberg hatte sich bei dem entsprechenden Beschluss des CDU-Landesvorstands mit wenigen anderen Mitgliedern enthalten.
Rückblende: Weinberg hatte in einer Notsituation der Partei die Spitzenkandidatur für die Wahl 2020 übernommen, nachdem die designierte CDU-Herausforderin von Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD), Aygül Özkan, aufgrund einer schweren Erkrankung absagen musste und weitere denkbare Kandidaten abgewinkt hatten. Weinberg verfolgte als Bürgermeisterkandidat den Ole-von-Beust-Kurs und suchte auch programmatisch eine Annäherung an die Grünen, unter anderem mit der Forderung nach der Einführung einer Stadtbahn und einem 365-Euro-Ticket für den ÖPNV. Letztlich war der Wahlkampf aus CDU-Sicht überlagert von dem Zweikampf um das Bürgermeisteramt zwischen Katharina Fegebank (Grüne) und Amtsinhaber Tschentscher, deren Parteien in Umfragen deutlich führten.
Nach der Wahlniederlage gab es für den anerkannten Fachpolitiker keinen sicheren Listenplatz mehr
Nach dem Wahldesaster fiel Weinberg gewissermaßen in Ungnade. Die Strategie einer moderaten, liberalen und grün-freundlichen Politik wurde als Ursache für die großen Stimmenverluste ausgemacht. „Ich war plötzlich der Störenfried Nummer eins“, sagt Weinberg. Für die CDU negative bundespolitische Einflüsse, die es auch gab, wurden für nicht so gravierend erachtet. Kurz vor der Hamburger Wahl hatte sich der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit den Stimmen von AfD und CDU zum Ministerpräsidenten von Thüringen wählen lassen, was einen bundesweiten Sturm der Empörung auslöste.
Weinbergs Pech war, dass er trotz des Listenplatzes eins nicht in die Bürgerschaft gewählt wurde, weil ausschließlich die über die Wahlkreise gewählten Kandidaten ins Parlament einzogen. Als es wenig später um die Aufstellung der Landesliste für die Bundestagswahl 2021 ging, gab es für den in Berlin anerkannten Fachpolitiker keinen sicheren Listenplatz mehr. Als Direktkandidat in seinem Wahlkreis hatte er das Nachsehen gegen die Grünenpolitikerin Linda Heitmann. Das bedeutete das politische Aus innerhalb weniger Monate. Inzwischen unterrichtet Weinberg wieder – Politik und Geschichte am Gymnasium Othmarschen.
Abrechnung: „Als Konformist tauge ich nicht, und eine Karteileiche werde ich nicht werden“
Auch inhaltlich konnte Weinberg kaum mehr etwas bewegen. Bei der Beratung des neuen Grundsatzprogramms der Partei im Jahr 2022 scheiterte er mit dem Antrag, den Bau einer Stadtbahn wenigstens noch einmal zu prüfen. Auch bei einer Reihe weiterer Vorschläge zur Bildungs- und Sozialpolitik konnte er sich nicht durchsetzen. „Für politische ,Grenzgänger‘ und gelegentlich Andersdenkende wie mich sind die Räume für die Belebung der Debatten seit wenigen Jahren in der CDU sehr verengt“, sagt der Pädagoge.
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„Zu viel Konformismus und die Absolutheit der Geschlossenheit können langfristig das konstruktive Moment des politisch Unterschiedlichen aufhalten. Meine Überzeugungen einer sozialethischen Grundverantwortung der Politik und einer liberalen und offenen Gesellschaft dringen nicht mehr durch“, resümiert der langjährige Christdemokrat.
CDU Hamburg: Politische Zukunft lässt der Gymnasiallehrer und FC-St.-Pauli-Fan offen
„Als Konformist tauge ich nicht, und eine Karteileiche werde ich nicht werden“, sagt Weinberg, der immer ein bisschen Außenseiter in der CDU war. Er lebt mit seiner Freundin und den beiden gemeinsamen Kindern im eher „linken“ Stadtteil Ottensen und ist ein glühender Fan und Dauerkarten-Inhaber des FC St. Pauli, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Für Partei- und Fraktionschef Dennis Thering bedeuten diese Tage ein Wechselbad der Gefühle: Vor Kurzem erst konnte der designierte Spitzenkandidat für die Bürgerschaftswahl im März 2025 den spektakulären Übertritt von Anna von Treuenfels-Frowein, FDP-Spitzenkandidatin bei der Bürgerschaftswahl 2020, zur CDU verkünden. Jetzt verliert die Partei einen der profiliertesten Vertreter des christlich-sozialen und liberalen Flügels. Weinberg will für seine politischen Ideen weiterkämpfen. „Wie und in welcher Form das Engagement aussieht, wird sich ergeben“, sagt der 57-Jährige, der ehrenamtlicher Landesvorsitzender des Arbeiter-Samariter-Bundes ist.