Hamburg. Er wollte CDU-Bürgermeister werden, wurde dann von seiner Partei ausgebootet. Jetzt unterrichtet er wieder – und rechnet noch mal ab.
Vier Jahre lang saß Marcus Weinberg in der Bürgerschaft, 16 Jahre – von 2005 bis 2021 – gehörte er dem Bundestag an. Der 56 Jahre alte Christdemokrat war familienpolitischer Sprecher der Unions-Fraktion, Landesvorsitzender seiner Partei und deren Spitzenkandidat bei der Bürgerschaftswahl 2020. Weinberg fuhr mit 11,2 Prozent das schlechteste Ergebnis aller Zeiten für die CDU ein und fiel danach in Ungnade.
Als Direktkandidat für Altona ohne Absicherung auf der Landesliste verpasste er 2021 den Wiedereinzug in den Bundestag. Jetzt arbeitet der leidenschaftliche Ottenser wieder in seinem alten Beruf: Weinberg unterrichtet Politik und Geschichte am Gymnasium Othmarschen. Ein Gespräch über neue Freiheiten, alte Gegnerschaften und die Schwierigkeit des Loslassens.
Politik Hamburg: Weinberg unterrichtet 18 Stunden pro Woche per Lehrauftrag
Weinberg hat sich nach dem unfreiwilligen Abschied aus der ersten Reihe der Politik Zeit für den Neuanfang genommen. Mit Beginn des Schuljahres ist der Pädagoge in seinen alten Beruf zurückgekehrt: Weinberg unterrichtet per Lehrauftrag 18 Stunden pro Woche Politik und Geschichte am Gymnasium Othmarschen: drei zehnte Klassen, eine sechste, eine siebte und einen Kurs des elften Jahrgangs. „Ich konnte mir schon zu der Zeit, als ich Bundestagsabgeordneter war, gut vorstellen, wieder zu unterrichten. Das hat sich auch bestätigt“, erzählt der Christdemokrat.
Wer mit Weinberg spricht, spürt schnell seine Begeisterung für den Beruf. „Es ist ein tolles Gefühl, nach einer Stunde Geschichte in einer zehnten Klasse rauszugehen und sich zu sagen: Für die Schülerinnen und Schüler war es ein Erkenntnisgewinn. Ich konnte sie mit den Epochen der Geschichte verwickeln und wichtige Lerninhalte und Lernziele vermitteln. Das hat für mich mittlerweile einen höheren Stellenwert als irgendwelche wiederkehrenden Diskussionen im CDU-Landesvorstand über ein komplettes Genderverbot“, sagt Weinberg mit einem kleinen Seitenhieb auf seine Parteifreunde.
Der Christdemokrat bringt seine Erfahrungen als Politiker im Unterricht ein
Der Ottenser, der vor seiner Zeit als Abgeordneter an der Katholischen Bonifatiusschule in Wilhelmsburg unterrichtet hat, weiß um das günstige Umfeld seines neuen Arbeitsplatzes im Westen Hamburgs: „Das Gymnasium Othmarschen ist eine tolle Schule, sehr gut organisiert und mit engagierten Kolleginnen und Kollegen. Die Schülerinnen und Schüler sind lernbegierig und interessiert.“
Den Fächern sei Dank – Weinberg kann und will seine Erfahrungen als Politiker in den Unterricht einbringen. „Ich erzähle schon mal, wie Föderalismus praktisch funktioniert oder wie Koalitionsgespräche geführt werden. Das führt weg vom abstrakten Lernstoff hin zu der Frage, wie es wirklich ist. Da merkt man, dass die Schülerinnen und Schüler sofort noch interessierter sind“, sagt Weinberg. „Ein Lehrer sollte immer authentisch sein und sich nicht verstellen. Schüler merken das.“ Vielen ist er ohnehin bekannt. Jahrelang hingen seine Wahlplakate in Altona und den Elbvororten und nicht nur dort.
Zu viel Bürokratie und Verwaltung laste auf den Schulen, sagt Weinberg
Aber die Begeisterung für das Unterrichten verstellt dem langjährigen Bildungspolitiker nicht den Blick auf die Realitäten an den Schulen. „Die Rahmenbedingungen für Lehrerinnen und Lehrer sind weiterhin schwierig. Schule ist immer noch nicht ganz auskömmlich finanziert. Bei Fensterreden am Sonntag ist immer von der großen Bedeutung der Bildung die Rede, aber bei der konkreten Umsetzung fehlt es weiterhin an den notwendigen Mitteln“, sagt Weinberg. Immerhin: „Aber es hat sich vieles positiv verändert – gerade auch in Hamburg.“
Dennoch: Noch immer laste zu viel Bürokratie und Verwaltung auf dem Schulsystem. Das Lehrerarbeitszeitmodell bilde die gewachsenen Aufgaben der Lehrerinnen und Lehrer finanziell nicht ganz ab. Und gerade an Schulen mit heterogener Schülerschaft würden verstärkt Sonder- und Sozialpädagogen benötigt, so Weinberg. Und dann komme auch noch die aktuelle PISA-Studie mit den für Deutschland wenig schmeichelhaften Ergebnissen hinzu.
Der Christdemokrat lehnt das strikte Festhalten an der Schuldenbremse ab
Zwar weist Weinberg darauf hin, dass es nicht nur um Lesen, Schreiben und Rechnen gehen darf, sondern auch die Vermittlung von sozialen Kompetenzen und demokratischem Bewusstsein im Blick bleiben muss. „Aber es gibt einen erkennbaren Verbesserungsbedarf bei den Basiskompetenzen. Wir müssen in den nächsten Jahren vor allem in die Bereiche Vorschule und frühkindliche Bildung investieren. Das kostet viel Geld“, sagt der Lehrer und fügt hinzu: „Da kann ich nicht sagen, die heutige Schuldenbremse wollen wir selbst für dringend notwendige Investitionen nicht antasten, und auch nur temporäre und begrenzte Steuererhöhungen für diese wichtigen Aufgaben wollen wir nicht einmal andiskutieren.“
Fast automatisch ist Marcus Weinberg während des Gesprächs vom Lehrer in die Rolle des Politikers geschlüpft. Und schon sitzt er fast wieder im Bundestag oder streitet sich mit seinen Parteifreunden. Denn das strikte Festhalten an der Schuldenbremse und das Nein zu jedweden Steuererhöhungen ist das Mantra des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz und auch der Hamburger CDU, der Weinberg nach wie vor angehört.
Weinberg warnt seine Partei davor, in Populismus zu verfallen
„Wenn ich die Schuldenbremse selbst für dringend notwendige Investitionen nicht anpassen will und auf temporär begrenzte Steuererhöhungen von vornherein verzichte, muss ich sagen, wie ich die notwendigen Investitionen denn dann realistisch finanzieren will. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht dem Populismus verfallen“, sagt Weinberg an die Adresse seiner Partei. „Es kann in der Oppositionsarbeit nicht nur darum gehen, wie ich bei der nächsten Wahl möglichst viele Wähler gewinnen kann. Es gibt eine hohe Verantwortung aller demokratischen Parteien gerade im Hinblick auf die zunehmenden rechtsextremen Tendenzen, Stichwort AfD.“
Bei allem Engagement für das Unterrichten in der Schule meldet sich der Politiker in Weinberg immer wieder und gewissermaßen ungefragt zu Wort. „Wir brauchen einen deutschen New Deal für die Transformationsprozesse der nächsten Jahre. Die Schuldenbremse in der heutigen Ausgestaltung stellt eher eine Blockade für die dringend zu tätigen Investitionen dar“, so Weinberg. Es gehe um einen zweistelligen Milliardenbetrag nicht nur für die Bildung, auch für die Bereiche Integration, Klimaschutz, Infrastruktur und Digitalisierung.
Er ist ein Anhänger des liberalen Kurses von Angela Merkel und Ole von Beust
„Die CDU-Ministerpräsidenten, die die Probleme täglich im Land und in den Kommunen erleben, sehen das anders als die CDU-Spitze“, sagt der frühere CDU-Spitzenkandidat. Man tritt Weinberg nicht zu nahe, wenn man ihn als Merkelianer und entschlossenen Unterstützer des liberalen Kurses von Ole von Beust bezeichnet. Es ist daher aus seiner Sicht keine Frage, dass sich die politischen Koordinaten der Bundes-CDU wie auch des Hamburger Sprengels in den vergangenen zwei, drei Jahren deutlich verschoben haben.
Weinberg war trotz seiner herausgehobenen Ämter immer ein wenig Außenseiter in der Hamburger CDU. Glühender Fan des FC St. Pauli und überzeugter Bewohner (zusammen mit seiner Freundin und den beiden gemeinsamen Kindern) des eher „linken“ Stadtteils Ottensen, um nur zwei Beispiele zu nennen. Und er ist nach wie vor zutiefst überzeugt von der Idee, dass die Union in Hamburg Wahlen nur gewinnen kann, wenn sie die liberale bürgerliche Mitte der Stadt anspricht.
Weinberg warb im Wahlkampf für die schon einmal gescheiterte Stadtbahn
Als Spitzenkandidat im Bürgerschaftswahlkampf 2020 warb Weinberg für die (schon einmal gescheiterte) Einführung der Stadtbahn, ein 365-Euro-Ticket für den öffentlichen Nahverkehr oder Bildungshäuser als Zusammenschluss von Kitas und Grundschulen. Alles Punkte, die die Kernwählerschaft der CDU generell nicht vor Begeisterung von den Sitzen reißen und an die Wahlurnen treiben.
Belastet ihn das schlechte Wahlergebnis von 11,2 Prozent auch heute noch? „Ja. Man hatte die Verantwortung und kann es nicht mehr ändern. Auch wenn ,unglücklich‘ und ,ärgerlich‘ keine ausgewiesenen politischen Kategorien sind, so verbinden diese Begriffe vieles mit dem Ergebnis“, sagt Weinberg. Im Dezember 2019, wenige Wochen vor der Wahl, habe die Union noch bei 17 Prozent in Umfragen gelegen. „Doch dann brach alles ein, die umstrittene Wahl eines FDP-Politikers zum Ministerpräsidenten in Thüringen mit Stimmen von CDU und AfD, die Performance der Bundes-CDU und der Bundestrend im Keller.“
Nach der verlorenen Wahl galt der Christdemokrat als Sündenbock
Nach dem Wahldesaster 2020 war Weinberg mit seinem eher liberalen und grün-freundlichen Kurs der Sündenbock oder der „Störenfried Nr. 1“, wie er selbst sagt. Die bundespolitischen Einflüsse wurden von seinen Kritikern als weniger bedeutend angesehen. Der Bundestagsabgeordnete und damalige Landesvorsitzende Christoph Ploß und der neue Bürgerschaftsfraktionschef und jetzige Parteichef Dennis Thering trieben eine konservative Wende mit der Rückbesinnung auf CDU-Kernthemen voran.
Um zu beschreiben, was seitdem aus seinem Landesverband geworden ist, wird Weinberg zunächst ungewohnt blumig. „Mit meiner politischen Melodie – das Christlich-Soziale und Integrative betonend, unterlegt mit liberalen Tönen – stand ich in der Hamburger CDU mal in der ersten Reihe. Heute bestimmen andere Melodien und Tonlagen die Musik“, sagt der Ottenser.
Der Ex-Spitzenkandidat wirft seiner Partei „Populismus und Kulturkampf“ vor
Doch die alte Kampfeslust ist nicht erloschen. Das Konzept der liberalen Großstadtpartei sei „ad acta gelegt worden, und zwar auf eine nicht integrative Art und Weise“, so Weinberg. Anhänger des liberalen Flügels zogen sich zurück. „Inhaltlich gab es eine frische Brise Populismus und Kulturkampf – von der Bekämpfung der Frauenquote bis zum Genderverbot. Das war die gewollte radikale Neuaufstellung. Nicht mein Ding“, sagt der Christdemokrat.
Für Weinberg war kein Platz mehr in Führungsfunktionen der Partei. Der Bruch erfolgte insofern auch in personeller Hinsicht. Als Spitzenkandidat hatte er den Einzug in die Bürgerschaft verpasst. Als es wenige Monate später um die Aufstellung der Landesliste für die Bundestagswahl 2021 ging, wurde Weinbergs Isolation deutlich. Für ihn, den im Bundestag anerkannten Fachpolitiker, gab es keinen sicheren Listenplatz mehr. „Ich habe letztlich gar nicht mehr kandidiert, weil es sinnlos gewesen wäre. Die Messe war schon gelesen und vororchestriert“, sagt Weinberg heute.
„Eine Achterbahnfahrt, die abwärts führt, allerdings ohne Gleise“
Der Ottenser trat als Direktkandidat in seinem Wahlkreis Altona/Elbvororte an, konnte sich aber nicht durchsetzen. Das war‘s – das politische Aus innerhalb weniger Monate. „Zum Schluss war es dann wie eine Achterbahnfahrt, die abwärts führt, allerdings ohne Gleise“, sagt er sarkastisch.
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Weinberg war in der Not als Spitzenkandidat für die Bürgerschaftswahl eingesprungen. Fühlt er sich schlecht behandelt von seiner Partei? „Ich war derjenige, der sich in die Pflicht hat nehmen lassen. Andere waren nicht bereit. Erst nach der Wahl, als der Mohr seine Schuldigkeit getan hatte, tauchten viele wieder auf. Es geht immer um zukünftige Mandate und Posten“, sagt Weinberg. „Naiv war mein Glaube, dass ich für meinen Einsatz auch einen gewissen Respekt oder Anerkennung erhalten würde. In Berlin hatte ich eine hohe Anerkennung als Fachpolitiker, eine hohe Wertschätzung als Kollege und war Kapitän des FC Bundestages, das vierthöchste Amt des Staates“, wie er lachend hinzufügt. „Da ist es schon bitter, wenn man dann mitbekommt, wie einem zu Hause die Kleider vom Leibe gerissen werden.“
Weinberg gibt jetzt seine letzten Ämter und Mandate in der CDU ab
Geholfen hätten ihm in dieser belastenden Situation seine „großartige Familie“, seine Tätigkeit als Lehrer und das ehrenamtliche Engagement als Landesvorsitzender des Arbeiter-Samariter-Bundes. „Jetzt bin ich an einem Punkt, an dem ich meine letzten politischen Ämter in der CDU Hamburg abgebe. Das heißt aber nicht, dass ich mit der Politik insgesamt aufhöre“, sagt der 56-Jährige. Weinberg kandidiert jetzt im Januar nicht mehr als Vorsitzender des CDU-Ortsverbands 15 – Ottensen/Bahrenfeld und er wird auch den Posten als Landesvorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) niederlegen. Damit gehört er dann auch nicht mehr dem CDU-Landesvorstand an.
„Mit der Abgabe der letzten Mandate und Funktionen ist nun eine Zäsur erfolgt“, sagt er. Und wie geht es weiter? Weinberg versucht, mit einem Scherz abzulenken. „St. Pauli wird in die Erste Liga aufsteigen, die Dauerkarte ist gesichert“, sagt er lachend. Und im Ernst? Er sei der Partei dankbar, die ihm alle Möglichkeiten gegeben habe. Er fühle sich den unverrückbaren Grundwerten der CDU wie Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität verpflichtet, auch wenn die immer wieder zu interpretieren und am Konkreten neu zu beschreiben seien.
Politik Hamburg: Die Frage, ob er die Partei verlassen wird, lässt Weinberg offen
„Die Partei hat sich neu justiert, und die Beschreibung der Grundwerte werde ich mir anschauen“, sagt Weinberg und fügt hinzu: „Richtig ist, dass man, wenn man von der ersten Reihe über die zweite und am Ende in die letzte Reihe geht, auch immer näher am Ausgang sitzt.“ Die offene Frage ist, ob Marcus Weinberg den Ausgang finden will und die CDU verlässt.