Hamburg. Schusswaffeneinsatz gegen 39-Jährigen: Nach vielen Gewalttaten reagieren Polizisten nun vorsichtiger. Debatte über Einführung von Tasern.
Die Schüsse auf einen psychisch kranken 39-Jährigen am Sonntag auf dem Kiez und die tödlichen Schüsse auf einen 51-Jährigen in der Nacht zum Freitag in Rahlstedt lassen die Diskussion um die Einführung von Elektroschockpistolen, sogenannte Taser, wieder aufleben. „Es lässt sich darüber streiten, ob der Einsatz eines Tasers zumindest bei dem Vorfall auf dem Kiez eine Option gewesen wäre“, sagt Thomas Jungfer, Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG).
Fakt für ihn aber sei, dass sich die Polizei vermehrt psychisch gestörten Menschen gegenüber sieht, bei denen sich der Einsatz von Reizgas als wirkungslos entpuppt. Der niedergeschossene 39-Jährige wurde mittlerweile aus dem Krankenhaus entlassen und in die Psychiatrie eingewiesen. Am Montagnachmittag erließ ein Haftrichter einen Unterbringungsbeschluss für ihn. Gegen ihn werden wegen versuchten Totschlags und Straftaten nach dem Waffengesetz ermittelt.
Polizei Hamburg hat immer häufiger mit psychisch Gestörten zu tun
Am Sonntagmittag war der 39-jährige André G. auf dem Kiez mit einem Schieferhammer und einem Brandsatz auf Polizisten losgegangen. Aufnahmen zeigen: Der Mann, der bei der Polizei als schizophren bekannt ist, reagierte nicht auf Reizgas, welches ein Polizist zunächst auf ihn sprühte. Als er den Brandsatz, den er in der Hand hatte, zünden wollte, wurden Schüsse als Warnung und gezielt abgegeben. Die Schützen waren drei Beamte: ein Hamburger Revierführer, ein Verbindungsbeamter aus Nordrhein-Westfalen und ein Bereitschaftspolizist aus Schleswig-Holstein.
Von einer Polizeikugel im Bein getroffen, brach der Mann zusammen. Der 39-Jährige war am Montag bereits wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden. Am Nachmittag führte ihn die Staatsanwaltschaft beim Haftrichter vor. „Es ist die einstweilige Unterbringung des Betroffenen angeordnet worden“, so Oberstaatsanwältin Lindy Oechtering. „Ihm werden versuchter Totschlag und Straftaten nach dem Waffengesetz zur Last gelegt. Er hat im Rahmen der Vorführung keine Angaben zum Tatvorwurf gemacht.“
Polizei: Für dynamische Situationen wie auf Kiez sei Taser ungeeignet
„Der Einsatz eines Tasers ist in so einer dynamischen Situation ungeeignet“, meint Polizeisprecherin Sandra Levgrün. Die Elektroschockpistole sei bei statischen Situationen geeignet. Für den Einsatz sei ein aus drei bis vier Beamten bestehendes, eingespieltes Team notwendig. In Hamburg sind deswegen bislang lediglich das Spezialeinsatzkommando (SEK) und die Unterstützungseinheit (USE) mit Tasern ausgerüstet.
Jungfer sieht das anders: Der Taser sei eine Ergänzung, die eine Lücke zwischen Pfefferspray, Schlagstock und Schusswaffe schließen solle. „Gerade in einer Situation wie auf dem Kiez kann man, schon mit Blick auf die Gefährdung Dritter, eine Schusswaffe nur eingeschränkt einsetzen“, argumentiert der Polizeigewerkschafter. „Ein Taser ist da, mit Blick auf Unbeteiligte, eine vielleicht bessere Option.“
Bundespolizei zieht aus Vorfall in Hamburg Konsequenzen
Kritik an dem Einsatz will er nicht äußern. „In so einer Situation müssen die Beamten innerhalb kürzester Zeit entscheiden. Im konkreten Fall ist nach meinem Kenntnisstand der Einsatz bilderbuchmäßig und völlig gerechtfertigt abgelaufen“, so Jungfer. Man habe gezielt auf die Beine geschossen, um den Mann zu stoppen.
Die Bundespolizei hat aus dem Vorfall bereits Konsequenzen gezogen. Das für den Hauptbahnhof geltende Waffenverbot wurde ausgeweitet und eine entsprechende Allgemeinverfügung erlassen. Die neue Verfügung gilt nun auch inklusive aller S-Bahnhöfe und im Bahnhof Hamburg-Altona am 19. Juni, 29. Juni, 5. Juli, 9. Juli und 14. Juli in der Zeit zwischen 12 Uhr und 24 Uhr. Verboten sind gefährliche Werkzeuge, Schusswaffen, Schreckschusswaffen, Hieb-, Stoß- und Stichwaffen und Messer aller Art.
Man werde, so hieß es von der Bundespolizei, entsprechende Kontrollen durchführen. Wer erwischt wird, dem drohen neben einem Bußgeld oder eine Strafanzeige auch ein Beförderungsverbot. Ein Waffenverbot für U-Bahnhöfe oder an anderen Plätzen ist bislang nicht geplant. Die Reeperbahn und angrenzende Straßen, wo der 39-Jährige angeschossen wurde, sind dagegen bereits seit 2007 Waffenverbotszonen.
Häufung von Schusswaffeneinsätzen machen die Polizisten noch vorsichtiger
Intern dürften die beiden Hamburger Fälle zu einer weiteren Sensibilisierung der Einsatzkräfte führen – es macht sie noch vorsichtiger. Denn es gibt bundesweit weitere Fälle innerhalb kurzer Zeit, bei dem Polizisten Schusswaffen gegen Menschen einsetzen mussten. In Mannheim erschossen Polizisten Ende Mai einen Islamisten bei einer Messerattacke. Vergangenen Freitag erschossen Polizisten in Sachsen-Anhalt einen 23 Jahre alten Afghanen, der zunächst Gäste einer EM-Party attackierte und dann auf die eintreffenden Beamten losging.
„Wir reden viel von Terroranschlägen und Drohnenangriffen“, sagt ein Beamter. In der Praxis seien es aber psychisch gestörte Menschen, mit denen die Polizei es vermehrt zu tun bekommen. Ein weiteres Problem: Solche auffälligen Personen seien nur schwer „von der Straße zu bekommen“. Solange von einem Arzt keine Fremd- oder Eigengefährdung attestiert wird, hat die Polizei keine Handhabe. Die Betroffenen selbst können sich nur freiwillig behandeln lassen. Der angeschossene 39-Jährige soll mehrfach in Lüneburg in der Psychiatrie behandelt, aber immer wieder entlassen worden sein.
Das Problem für die Polizei: Statistisch werden Einsätze wegen psychisch auffälligen Personen nicht erfasst. Selbst über Taten, bei denen es zu Gewaltdelikten durch psychisch erkrankte Personen kam, gibt es keine gesonderte Erfassung.
„Wir werden absehbar auch in der Zukunft vermehrt mit einem Gegenüber, das sich in einem psychischen Ausnahmezustand befindet, konfrontiert sein“, so Jungfer. Ein Taser sei auch für den Betroffenen das „mildere Mittel“. Zwar gebe es ein Restrisiko. Bei dem Einsatz der Schusswaffe oder auch des Schlagstocks sei es laut Jungfer deutlich größer.
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Bei der Polizei beschäftigt man sich bereits länger mit dem Thema „Täter im psychischen Ausnahmezustand“. Hier hat die Polizei oft zu wenig Informationen. Man könne, so äußerte es Polizeipräsident Falk Schnabel gegenüber dem Abendblatt, nicht passgenau reagieren und Eskalationen vermeiden, wenn man zu wenig über eine solche Person wisse.