Hamburg. Wieso die Abstimmung an diesem Sonntag ein wichtiger Testlauf ist. Die Chancen, Risiken und Strategien der Parteien – eine Analyse.

Die Bezirkswahlen vor fünf Jahren hatten ein politisches Beben zur Folge: Eine „historische Niederlage“, ein „katastrophales Ergebnis“ für die einen, die SPD – ein „Wahltriumph“, ein „irrer Hammer“ (Katharina Fegebank) für die anderen, die Grünen. Manche sprachen bereits von einer Zeitenwende. Die Grünen hatten die sieggewohnten Sozialdemokraten landesweit klar von Platz eins verdrängt und vier der sieben Bezirke als stärkste Kraft erobert. Dass SPD und Grüne bereits damals zusammen im Rathaus regierten, machte die Sache nicht einfacher.

Getragen vom Hype, der auch vom Aufkommen der Fridays-for-Future-Bewegung entfacht wurde, entschlossen sich die Grünen nach den Bezirks- wie auch den parallelen Europawahlen, zur Bürgerschaftswahl wenige Monate später erstmals eine Bürgermeisterkandidatin mit Katharina Fegebank aufzustellen und so den Koalitionspartner SPD direkt herauszufordern. Das Ergebnis ist bekannt: Sozialdemokrat Peter Tschentscher ist nach wie vor Erster Bürgermeister und Fegebank die Zweite Bürgermeisterin, auch wenn die Grünen bei der Bürgerschaftswahl im Februar 2020 mit 24,2 Prozent ein Allzeithoch bei Landtagswahlen einfahren konnten.

Wahlen: In Bezirken werden neue Konstellationen ausprobiert – mit Signalwirkung fürs Rathaus

Und 2024? Wieder wird die Bürgerschaft in neun Monaten gewählt, wieder blicken die Rathausparteien mit Spannung auf die kommunale Ebene. Die Bezirkswahlen sind nicht nur ein wichtiger Stimmungstest für die Entscheidung auf Landesebene. In den Bezirken werden in der Folge des Wählervotums bisweilen auch neue politische Konstellationen und Kombinationen ausprobiert – mit Signalwirkung für das Rathaus.

Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass eine ähnliche Umkehrung der politischen Machtverhältnisse wie 2019 diesmal nicht zu erwarten ist. Das Pendel der Wählergunst wird kaum mit voller Wucht zurückschlagen und die alte Rangordnung mit deutlichem Abstand zugunsten der SPD wiederherstellen. Andererseits: Die Grünen werden es schwer haben, an den Sensationserfolg vor fünf Jahren direkt anzuknüpfen. Und: Die CDU dürfte sich nach dem Debakel bei der Bürgerschaftswahl mit dem Allzeittief von 11,2 Prozent erholen und auf der Prozentskala nach oben klettern.

Die Grünen wurden bei den Bezirkswahlen 2019 mit 31,3 Prozent stärkste Kraft

Die drei großen Parteien könnten also enger zusammenrücken, bezogen auf die Stimmanteile. Schließlich ist das Gewicht von Linken, AfD und FDP nicht zu unterschätzen, die zusammen 2019 ein knappes Viertel der Wählerstimmen für sich verbuchen konnten. Anders als bei den Europawahlen tritt das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) bei den Bezirkswahlen nicht an.

Ein Blick auf die Ausgangslage hilft, die Perspektiven zu verdeutlichen: Landesweit gerechnet landeten die Grünen bei der Bezirkswahl 2019 bei 31,3 Prozent (plus 13,1 Prozentpunkte), gefolgt von der SPD mit 24 Prozent und umgekehrtem Trend (minus 11,2 Prozentpunkte). Auch die CDU musste mit 7,2 Prozentpunkten Verluste hinnehmen und kam auf 18,2 Prozent. Die Linke erreichte zehn Prozent (plus 0,5 Punkte), die AfD 6,3 Prozent (plus 1,8 Punkte) und die FDP 6,6 Prozent (plus 2,7 Prozentpunkte).

Eine Frage ist, wie die Wähler die von den Grünen vorangetriebene Verkehrswende bewerten

„Wir wollen insgesamt stärkste Kraft bleiben, und in vier Bezirken sieht es damit gut aus: In Eimsbüttel, Nord und Mitte, auch in Altona, aber da wird es spannend“, zeigt sich die Grünen-Landesvorsitzende Maryam Blumenthal zuversichtlich. In Altona, wo mit wechselnden Mehrheiten regiert wird, lag zuletzt Bezirksamtsleiterin Stefanie von Berg (Grüne) mit SPD und CDU über Kreuz. Von Bergs Wiederwahl, die 2025 ansteht, ist durchaus ungewiss.

Blumenthal rechnet mit „guten Ergebnissen“ auch in Wandsbek, Bergedorf und Harburg – den drei Bezirken, in denen die SPD 2019 stärkste Kraft wurde. „Ich glaube allerdings nicht, dass wir landesweit die gleiche Prozentzahl holen wie vor fünf Jahren. Wir könnten schon etwas verlieren, aber das betrifft nicht nur uns“, sagt die Grünen-Politikerin. Eine wichtige Frage wird sein, wie die Wählerinnen und Wähler die von den Grünen vorangetriebene Mobilitätswende, konkret unter anderem den Abbau von Parkraum für Autos, bewerten.

Hamburgs Sozialdemokraten hoffen, in mehr als drei Bezirken vorn zu liegen

Immer wieder hatten Anwohner vor allem in den dicht besiedelten Quartieren in Eimsbüttel oder Hamburg-Nord dagegen protestiert, wenn Autostellplätze zugunsten zum Beispiel von Abstellflächen für Fahrräder abgebaut wurden. „Es gibt da sehr geteilte Meinungen“, gibt Blumenthal ihre Eindrücke aus dem Wahlkampf wieder. „Aber ich glaube nicht, dass das ein großes Problem für uns wird. Und viele finden die Mobilitätswende auch richtig super.“ Eher seien die vielen Baustellen ein Aufregerthema. Da helfe es häufig zu erklären, warum Sperrungen an dieser oder jener Stelle erforderlich seien.

Die Sozialdemokraten geben sich angesichts ihres häufig formulierten Selbstanspruchs beinahe bescheiden. „Wir wollen unser miserables Ergebnis von 2019 verbessern. Es wäre sehr schön, wenn wir wieder in mehr als drei Bezirken stärkste Kraft würden“, sagt der SPD-Landesvorsitzende Nils Weiland. In welchen der vier „grünen“ Bezirke Weiland die SPD am ehesten vorne sieht, will er dann aber nicht sagen. „Dazu gibt es zu viele Unwägbarkeiten“, so der Sozialdemokrat.

Die grüne Dominanz im Bezirk Hamburg-Mitte war nach wenigen Wochen verloren

Dabei ist wichtig hinzuzufügen, dass die Grünen zwar vor fünf Jahren mit 29,3 zu 27 Prozent die jahrzehntelange SPD-Bastion Hamburg-Mitte geschleift haben, aber ihre Dominanz schon wenige Wochen nach der Wahl verloren, weil die Grünen-Fraktion zerbrach und sechs Abgeordnete die Partei verließen. Nutznießer war die SPD, und so wurde Anfang 2022 der Sozialdemokrat Ralf Neubauer zum neuen Bezirksamtsleiter gewählt. In Mitte regiert übrigens eine Deutschland-Koalition aus SPD, CDU und FDP – ein Novum. Auch ein Modell?

Wie sich die SPD überhaupt das eine oder andere Mal als eine Art Stabilitätsanker (zum eigenen Vorteil) auf Bezirksebene erwies, so etwa in Wandsbek, als es gelang, einen von drei abtrünnigen Grünen zum Eintritt in die SPD zu bewegen und so die knappe rot-grüne Mehrheit in der Bezirksversammlung zu retten. In der Verkehrspolitik arbeiten SPD und Grüne zwar in mehreren Bezirken gemeinsam an der Mobilitätswende, und doch versucht die SPD immer mal wieder, sich als Stimme der Vernunft und Bremserin zu positionieren, wenn der grüne Veränderungseifer in starken Bürgerprotest mündete. So geschehen bei der ursprünglich geplanten Verengung von vier auf zwei Fahrspuren beim Berner Heerweg in Farmsen-Berne oder der zurückgenommenen Verkehrsberuhigung im Volksdorfer Ortskern. Und so fügt SPD-Landeschef Weiland dann doch noch einen Satz hinzu – in aller Bescheidenheit: „Wenn wir insgesamt stärkste Partei werden, entspräche das unserem Selbstverständnis.“

Wahlen: SPD dürfte unter schlechtem Erscheinungsbild der Ampel-Koalition stärker leiden

Schwer einzuschätzen ist der Einfluss der schlechten Performance der Ampel-Regierung in Berlin auf die Bezirkswahlen. Das rot-grüne Rathaus-Bündnis hat es geschafft, sich ein Stück weit von den jeweiligen Parteifreunden in Berlin abzugrenzen und sogar inhaltlich bei Entscheidungen im Bundesrat abzukoppeln. Trotzdem dürfte die verbreitet negative Einschätzung der Ampel-Leistungen sich auch in der Bezirkswahl niederschlagen. Dabei könnte die SPD stärker als die Grünen durch die Wählerinnen und Wähler in Mithaftung genommen werden, weil der erste Repräsentant der Bundes-SPD, Bundeskanzler Olaf Scholz, als früherer Erster Bürgermeister vielen nach wie vor auch mit umstrittenen Entscheidungen und Handlungen sehr präsent ist. Stichworte Elbtower und Cum-Ex-Skandal.

Wahlumfragen für die Bezirksebene gibt es fast nicht. Das Institut Wahlkreisprognose taxierte SPD und Grüne Anfang April hamburgweit auf jeweils 28 Prozent, die CDU auf 20 Prozent. Damals lag die SPD in vier Bezirken vorn: Wandsbek, Bergedorf und Harburg wie gehabt und zusätzlich in Mitte, während die Grünen sich in Eimsbüttel, Altona und Nord an der Spitze behaupten konnten. Dabei gelang es der CDU in zwei Bezirken – Harburg und Bergedorf – in die rot-grüne Phalanx vorzustoßen und den zweiten Platz zu belegen. In Nord waren SPD und CDU fast gleichauf. Allerdings gelten die Prognosen des Instituts, das Wahlergebnisse, Umfragen und sozioökonomische Daten zusammenführt, nicht immer als treffsicher.

CDU-Landesvorsitzender Thering sieht Chance, „in die eine oder andere Koalition“ einzutreten

„Wir haben 2019 relativ gut abgeschnitten, wollen aber unser Ergebnis überall verbessern“, gibt Dennis Thering, CDU-Landesvorsitzender und Bürgerschaftsfraktionschef, als Wahlziel aus. Auch wenn Thering das nicht sagt, bei manchen Christdemokraten keimt die Hoffnung, in einem oder zwei Bezirken sogar stärkste Kraft zu werden. Nach Lage der Dinge könnte das am ehesten in Bergedorf und Wandsbek gelingen. Dort, im mit Abstand größten Bezirk Wandsbek, stellte die Union bis 2011 die Bezirksamtsleiterin.

Fast noch wichtiger ist die Bündnisfrage. „Ich sehe die Chance, dass wir in die eine oder andere Koalition eintreten“, sagt Thering. Das ist relativ bescheiden formuliert, aber natürlich steckt den Christdemokraten noch das 11,2-Prozent-Desaster der letzten Bürgerschaftswahl in den Knochen. Strategisch gesehen bedeutet die Beteiligung der Union an weiteren Koalitionen auf Bezirksebene über Hamburg-Mitte hinaus einen Schritt in Richtung Regierungsfähigkeit im Rathaus.

Schwarz-Grün übt bei CDU und Grünen nach wie vor einen gewissen Reiz aus

Programmatisch und inhaltlich steht die CDU der SPD näher als den Grünen und möchte sich von daher den Sozialdemokraten gern als der verlässlichere Partner empfehlen. Andererseits übt auf Grüne wie Christdemokraten Schwarz-Grün einen gewissen Reiz aus, weil die bisweilen zu einer gewissen Arroganz der Macht neigenden Sozialdemokraten dann ausgebootet wären. Diejenigen, die schon länger im Rathaus Politik machen, haben nicht vergessen, dass das erste schwarz-grüne Bündnis 2004 in Altona zustande kam. Der Bezirk war Testlabor und lieferte die Blaupause für ein damals neues politisches Modell, das dann 2008 im Rathaus Schule machte. Es war das erste schwarz-grüne Bündnis auf Landesebene. (Grüne und Christdemokraten verstehen sich immer noch ganz gut in Altona.)

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Nun ist diese Kombination heute realistischerweise nur vorstellbar, wenn die Grünen bei der Bürgerschaftswahl stärkste Kraft werden, nach jetziger Lage nicht die wahrscheinlichste Option. Und selbstverständlich haben Christdemokraten und Grüne nicht vergessen, an welchen inneren Widersprüchen und wie kläglich Schwarz-Grün letztlich nach nur zweieinhalb Jahren scheiterte, was keine Empfehlung für eine Neuauflage ist.

Wahlen 2024 Hamburg: Sozialdemokraten wird an Aufwertung der Opposition nicht gelegen sein

Die SPD wird es sich trotz mancher inhaltlichen Überschneidungen dreimal überlegen, ehe sie die CDU ohne Not in eine Koalition in einem Bezirk einlädt. Das wäre eine Aufwertung der Opposition, an der den Sozialdemokraten nicht gelegen sein kann. Zudem hat sich Bürgermeister Tschentscher klar für eine Fortsetzung von Rot-Grün im Rathaus ausgesprochen. Bezeichnenderweise gibt es eine Koalitionsaussage seitens der Grünen (bislang) nicht. Nicht unerheblich für die Frage, welche Bündnisse nach der Wahl in den Bezirken möglich sind, ist das Abschneiden von Linken, AfD und FDP.

Offen ist zum Beispiel, ob die Linke davon profitiert, dass das BSW nicht bei den Bezirkswahlen antritt und so das gute Ergebnis von 2019 mit 10,7 Prozent noch einmal erreichen kann. Die AfD wird voraussichtlich trotz einiger Rückschläge zuletzt die 6,3 Prozent von 2019 verbessern können. Vor fünf Jahren lag die FDP in allen Bezirken deutlich über der Dreiprozenthürde. Geht es nach der Präsenz der Liberalen auf Plakaten am Straßenrand, dann sollte der Sprung in alle Bezirksparlamente erneut möglich sein.