Hamburg. Für die Kandidatinnen von SPD, Grünen und CDU stehen die Chancen eher schlecht – sehr gut dagegen für eine FDP-Frau. Der große Überblick.
Dass Hamburg eine international ausgerichtete, weltoffene Stadt ist, gehört zur Grundausstattung des Selbstverständnisses ihrer Institutionen und vieler ihrer Bürgerinnen und Bürger. Und der selbst gesetzte Anspruch ist nicht gerade bescheiden. „Die Freie und Hansestadt Hamburg hat als Welthafenstadt eine ihr durch Geschichte und Lage zugewiesene, besondere Aufgabe gegenüber dem deutschen Volke zu erfüllen. Sie will im Geiste des Friedens eine Mittlerin zwischen allen Erdteilen und Völkern der Welt sein“, lautet der gern zitierte erste Satz der Hamburgischen Verfassung. Beim Blick auf die konkrete politische Einflussnahme des Stadtstaats im Europaparlament fällt die Bilanz allerdings recht nüchtern aus.
Svenja Hahn (FDP) ist derzeit das einzige aktive Hamburger Mitglied des Europaparlaments, und es spricht einiges dafür, dass die 34 Jahre alte Freidemokratin auch nach den Europawahlen am 9. Juni die einzige Hamburger Abgeordnete bleiben wird – jedenfalls unter den etablierten Parteien. Da es in Deutschland (im Gegensatz zu anderen EU-Staaten) keine Sperrklausel von drei oder fünf Prozent gibt, ist Svenja Hahn, die auf Platz zwei der FDP-Bundesliste steht, der Wiedereinzug ins Europaparlament gewissermaßen sicher. Doch wie steht es um die Chancen der Kandidaten der anderen Parteien?
Europawahl 2024: Hamburger SPD-Kandidatin Laura Frick tritt erst auf Platz 19 an
Die SPD erlebte bei der Europawahl vor fünf Jahren ein Desaster: Die Partei verlor in Hamburg 14 Prozentpunkte gegenüber 2009, landete bei 19,8 Prozent und fiel damit auf ein Allzeittief. SPD-Landesvorsitzender Nils Weiland nennt für den 9. Juni zwei Wahlziele seiner Partei. „Wir haben 2019 schlecht abgeschnitten und wollen das Ergebnis verbessern“, sagt Weiland, ohne eine konkrete Prozentzahl zu nennen. „Und wir wollen gerne wieder eine Hamburgerin ins Europaparlament entsenden, aber es wird knapp“, sagt der Sozialdemokrat. In der Tat.
Man muss auf der bundesweiten Liste der SPD für die Europawahl eine ganze Weile nach unten scrollen, ehe die Hamburger SPD ins Spiel kommt. Die 32 Jahre alte Laura Frick, in der Präsidialabteilung der Wirtschaftsbehörde für Regierungs- und Parlamentsangelegenheiten sowie politische Kommunikation zuständig, kandidiert auf Listenplatz 19. Die Berechnung der Wahlchancen von Kandidierenden auf einheitlichen Bundeslisten (alle Parteien bis auf die CDU) ist denkbar einfach. Da Deutschland 96 der 705 Abgeordneten ins Brüsseler und Straßburger Parlament entsendet, entspricht die erreichte Prozentzahl der Partei in etwa der Zahl Abgeordneten, die auf sie entfallen.
Europawahl: Für Bewerberinnen von SPD und Grünen müsste kleines Wunder geschehen
Die SPD kam 2019 bundesweit auf 15,8 Prozent und schickte 16 Männer und Frauen nach Europa. Aktuell liegt die Partei in Umfragen zwischen 14 und gut 15 Prozent. Um die für Laura Frick erforderlichen 19 Prozent zu erreichen, müsste schon ein kleines Wunder geschehen. Vor fünf Jahren scheiterte der langjährige Europaabgeordnete und SPD-Urgestein Knut Fleckenstein auf Listenplatz 18. Warum sind die Hamburger Sozialdemokraten, die den Senat mit stellen und eines der besten Ergebnisse bei Landtagswahlen der vergangenen Jahre erzielt haben, so abgeschlagen unter den 16 Landesverbänden?
SPD-Landeschef Weiland will nicht ausschließen, dass „Eigen- und Fremdwahrnehmung“ auseinanderklaffen können, wenn es um die Bedeutung der Stadt für Europa geht. Aber entscheidend sei etwas anderes. „Bei der Aufstellung der Bundesliste für die Europawahl geht es sehr stark nach der Größe der Landesverbände. Und in Zeiten der Knappheit ist sich erst recht jeder selbst der Nächste“, sagt Weiland. Aus der SPD ist zu hören, dass die Hamburger vor der Nominierung versucht haben, Bündnisse auf Gegenseitigkeit mit anderen Landesverbänden zu schließen. So hatte Laura Frick versucht, auf einem aussichtsreicheren Platz weiter vorn auf der Liste zu kandidieren, scheiterte aber.
Die Grünen schafften vor fünf Jahren ein Allzeithoch, die CDU fiel auf ein Allzeittief
Die Problemlage bei den Grünen, dem SPD-Koalitionspartner im Rathaus, ist ähnlich, die Ausgangslage aber komplett anders. Die Grünen müssen zumindest den Versuch unternehmen, das Sensationsergebnis vor fünf Jahren zu verteidigen. Damals holte die Partei bundesweit 20,5 Prozent und in Hamburg mit 31,1 Prozent das zweitbeste Landesergebnis. „Wir knüpfen an das sehr gute Ergebnis von 2019 an und sind zuversichtlich, dass wir ein gutes Ergebnis erzielen werden – besser als auf Bundesebene“, sagt die Grünen-Landesvorsitzende Maryam Blumenthal. In Umfragen liegen die Grünen bundesweit derzeit ähnlich wie die SPD zwischen 13 und 15 Prozent.
Tatsächlich könnte es für die Grünen erneut einen deutlichen Landes-Bonus geben. Der aktuelle Trend des Instituts Wahlkreisprognose sieht die Grünen bei der Europawahl in Hamburg bei 26 Prozent, gefolgt von der CDU mit 20,5 Prozent und der SPD mit 17,5 Prozent. Aber wie bei der SPD ist das Landesergebnis nicht maßgeblich für die Frage, wer Europaabgeordneter wird. Für die Hamburger Grünen kandidiert die mit 25 Jahren jüngste Bürgerschaftsabgeordnete Rosa Domm auf Platz 21 für das Europaparlament und dürfte damit auf ein ähnliches Wunder hoffen müssen wie SPD-Kandidatin Laura Frick.
Europawahl 2024: CDU tritt wegen der Regionalpartei CSU mit 15 Länderlisten an
Auch Grünen-Chefin Blumenthal weist wie Weiland für die SPD darauf hin, dass Hamburg ein kleiner Landesverband sei, nennt aber einen weiteren Grund für die ungünstige Platzierung von Rosa Domm auf der Bundesliste. „Letztes Mal zog Platz 21 noch, und jetzt ging es im Vorfeld der Listenaufstellung darum, zu klären, wer von den Abgeordneten gute Arbeit geleistet hat. Viele wollen erneut kandidieren, und ein bisschen Kontinuität in der Parlamentsarbeit tut auch gut“, sagt Blumenthal und zeigt damit ein gewisses Verständnis für das Prozedere.
Ganz anders ist die Lage bei der CDU: Da die Partei wegen der separaten Liste der CSU in Bayern in jedem der 15 weiteren Bundesländer mit eigenen Listen antritt, sind zwei Faktoren für die Vergabe der CDU-Mandate entscheidend: die Wahlbeteiligung und das Wahlergebnis der Union in jedem Land im Vergleich zu den anderen. „Wir wollen stärker abschneiden als bei der letzten Wahl. Ich bin guten Mutes. Wir haben eine großartige Kandidatin, und ich habe ein gutes Gefühl“, sagte der CDU-Landesvorsitzende und Bürgerschaftsfraktionschef Dennis Thering.
Auch für CDU-Kandidatin Freya von Kerssenbrock wird es eng werden
CDU-Spitzenkandidatin ist die 37 Jahre alte Richterin Freya von Kerssenbrock, Tochter des CDU-Politikers Trutz Graf Kerssenbrock, die im Kompetenzteam des gescheiterten CDU-Bürgermeister-Kandidaten Marcus Weinberg 2019/20 für die Bereiche „Freiheit und Gerechtigkeit“ zuständig war. Kerssenbrocks Chancen bei der Europawahl lassen sich nicht so klar prognostizieren wie etwa bei den Kandidatinnen von SPD und Grünen. Aber ein Vergleich könnte helfen: Der frühere CDU-Landesvorsitzende Roland Heintze war 2014 und 2019 als Spitzenkandidat bei den Europawahlen gescheitert. Vor fünf Jahren landete die Elb-Union bei 17,7 Prozent (Wahlbeteiligung: 61,9 Prozent) und vor zehn Jahren bei 24,6 Prozent (Wahlbeteiligung: 43,5 Prozent) – gereicht hat es in beiden Fällen nicht. Jetzt steht die Hamburger CDU laut dem Trend des Instituts Wahlkreisprognose bei 20,5 Prozent.
Für die rechtspopulistische AfD tritt der Hamburger Tomasz Froelich bei der Europawahl an. Der 35 Jahre alte Berater der AfD-Delegation im Europaparlament ist stellvertretender Bundesvorsitzender der vom Bundesamt für Verfassungsschutz seit April 2023 als gesichert rechtsextremistisch eingestuften Jungen Alternative. Froelich, der auf Listenplatz zwölf kandidiert, könnte den Sprung nach Brüssel und Straßburg schaffen. Die AfD kommt derzeit in Umfragen auf 14 bis 15 Prozent. Es wäre das erste Mal, dass ein Hamburger AfD-Mitglied in das Europaparlament einzieht.
Hamburger Fabio De Masi ist BSW-Spitzenkandidat und tritt für Berliner Landesverband an
Ebenfalls auf Platz zwölf, aber mit deutlich schlechteren Chancen tritt David Stoop für die Linke an. Der 40 Jahre alte frühere Landesvorsitzende seiner Partei ist stellvertretender Bürgerschaftsfraktionschef und Haushaltsexperte. Da die Linke derzeit zwischen drei und vier Prozent in Umfragen pendelt, dürfte der Weg nach Brüssel für Stoop versperrt sein.
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Stoops früherer Parteifreund Fabio De Masi hat dagegen allen Grund, seinen Koffer für Brüssel schon zu packen. De Masi hat die Linke, für die er im Bundestag saß, verlassen und sich dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) angeschlossen. Der 40 Jahre alte Deutsch-Italiener, der in Hamburg lebt, ist BSW-Spitzenkandidat, tritt aber für den Berliner Landesverband an. De Masi, der von 2014 bis 2017 als Linken-Politiker bereits dem Europaparlament angehörte, hat sich als hartnäckiger parlamentarischer Aufklärer im Cum-Ex-Skandal auch in Hamburg einen Namen gemacht. Da das BSW in Umfragen zwischen vier und sechs Prozent gehandelt wird, dürfte De Masis Rückkehr ins EU-Parlament relativ sicher sein.
Für FDP-Frau Svenja Hahn ist der erneute Einzug ins Europaparlament so gut wie sicher
Vor fünf Jahren wurde neben der FDP-Politikerin Svenja Hahn auch Nico Semsrott für viele überraschend als einziger weiterer Hamburger ins Europarlament gewählt. Der heute 38 Jahre alte Comedian (unter anderem in der „heute show“) trat auf Platz zwei für die Satirepartei „Die Partei“ an. Vor drei Jahren hatte Semsrott, der nicht wieder kandidiert, die Partei verlassen, aber sein Mandat behalten.
Seit Gründung des Europaparlaments 1979 schickten die Hamburger Landesverbände von SPD und CDU stets Abgeordnete nach Brüssel und Straßburg. Die CDU-Serie riss bereits vor zehn Jahren, die SPD-Serie vor fünf Jahren. Auch die Hamburger Grünen waren zeitweise in Europa vertreten. Während die parlamentarische Repräsentation Hamburgs in Europa ausbaufähig ist, findet die Stadt auf exekutiver Ebene nicht zuletzt wegen der Bedeutung des Hafens Gehör bei den Brüsseler Institutionen.