Hamburg. Am 18. Juli 2010 trat Bürgermeister von Beust zurück, und Hamburg lehnte per Volksentscheid die sechsjährige Primarschule ab.

An diesem sonnigen Sonntagmorgen, dem 18. Juli 2010, klingelte am Ende der Tiefgaragenausfahrt das Handy. „Moin, Ole von Beust. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich heute Nachmittag meinen Rücktritt erkläre, und zwar bevor das Ergebnis des Volksentscheids über die Primarschule feststeht“, sagte Ole von Beust so locker, als ob er ankündigte, sich für ein paar Tage nach Sylt zu verabschieden. Es war gewissermaßen ein freundlicher Hinweis zur besseren Planung der nächsten Stunden in der Redaktion, die mit dieser Nachricht durchaus turbulent werden würden.

Dabei kam der freiwillige Abgang des Ersten Bürgermeisters nach acht Jahren und zehn Monaten nicht wirklich überraschend. Genau genommen hatten wir uns beim Abendblatt auf diese Nachricht längst eingestellt. Die Gerüchtelage der zurückliegenden Tage und Wochen gab das eindeutig her. Dennoch hatte von Beust selbst zuletzt noch mit sich gerungen und die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und nur enge Weggefährten in seine Überlegungen eingeweiht. Nun war es also sicher.

Sofort stand die Frage im Raum, ob das schwarz-grüne Bündnis – von Beusts strategisches Projekt zur Öffnung der Union – noch eine Zukunft ohne den geistigen Ziehvater haben würde. Und als ob das nicht genug der politischen Unsicherheit wäre, platzte noch am gleichen Abend eine weitere Bombe: Um 22.03 Uhr stand fest, dass die sechsjährige Primarschule (anstelle der vierjährigen Grundschule) – das zentrale bildungspolitische Projekt von Schwarz-Grün – gescheitert war.

Eine Niederlage für die Rathauspolitik und ein Desaster für Schwarz-Grün

Am Ende nach Auszählung aller Voten hatte die Volksinitiative „Wir wollen lernen“, die für den Erhalt der vierjährigen Grundschule eintrat, 276.304 Stimmen auf sich vereinigt und damit das nötige Quorum erreicht. Die Primarschul-Gegenvorlage der Bürgerschaft, die neben CDU und Grünen auch die Opposition von SPD und Linken unterstützte, kam lediglich auf 218.065 Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 39 Prozent. Das war eine eindeutige Niederlage für die Rathauspolitik und ein Desaster für die regierende schwarz-grüne Koalition.

Zum ersten Mal hatte sich eine Volksinitiative in einem verbindlichen Volksentscheid gegen ein Vorhaben von Senat und Bürgerschaft durchgesetzt. Um es etwas emphatisch auszudrücken: Das Volk hatte ein zentrales Reformprojekt der etablierten Parteien und mithin der repräsentativen Demokratie gekippt. Zum ersten Mal war passiert, was ausdrückliches Ziel der 1996 in Hamburg eingeführten Volksgesetzgebung war: eine stärkere Partizipation der Bevölkerung an politischen Entscheidungsprozessen – als Ergänzung oder Korrektur, wie nun eben bei der Primarschule.

Das Reformprojekt Primarschule war mit Ole von Beust aufs Engste verknüpft

Dem gesenkten Daumen des Hamburger Wahlvolks war eine intensive und zunehmend emotionaler geführte öffentliche Diskussion vorausgegangen, die weit über die „Bildungsszene“ hinausging und fast die gesamte Stadt erfasste. Rückblickend ist die Primarschul-Debatte auch ein Lehrbeispiel dafür, wie politisches Krisenmanagement gerade nicht funktioniert.

Ole von Beust wollte mit seinem unmittelbar vor Auszählung der Stimmen angekündigten Rücktritt den Eindruck vermeiden, der Ausgang der Abstimmung hänge mit seinem Abschied aus der Politik zusammen – mit anderen Worten: Er trete aus Frust über die (absehbare) Niederlage zurück. Tatsächlich stimmt aber genau dies: Das Reformprojekt war mit dem Namen des Ersten Bürgermeisters aufs Engste verknüpft. Den erfahrenen Politiker, der sich viel auf sein Bauchgefühlt zugutehielt, hatte in dieser Frage das Gespür verlassen. Mit einer so großen Welle des Protests gerade aus dem bürgerlichen Lager hatte von Beust nicht gerechnet, wie er später auch einräumte.

Im Wahlkampf hatte die CDU noch damit geworben, die Gymnasien zu retten

Ole von Beust hatte sich wie nur wenige andere Christdemokraten für das Reformprojekt des längeren gemeinsamen Lernens eingesetzt, das in dieser Form doch eine urgrüne Idee war. Dabei hatte die CDU im Bürgerschaftswahlkampf 2008 noch damit geworben, die Gymnasien zu retten – gegen die Pläne einer Volksinitiative, die „Schule für alle“ einzuführen, also keine Trennung nach Schulformen mehr vorzunehmen. Diese Idee fand nicht nur bei den Grünen, sondern auch in Teilen der SPD Unterstützer.

Es kam anders. In den Koalitionsverhandlungen zwischen CDU und Grünen nach der Bürgerschaftswahl war die sechsjährige Primarschule der Kompromiss zwischen dem Konzept der Grünen vom gemeinsamen Lernen bis zum Ende der Klasse neun („Neun macht klug“) und dem Status quo, also der Trennung nach vier Grundschuljahren. Die Primarschule war der politische Preis, den Ole von Beust bereit war zu zahlen, um sein Lieblingsprojekt eines schwarz-grünen Bündnisses durchzusetzen.

Die Enttäuschung in bürgerlichen und bildungsorientierten Kreisen war groß

Das neunstufige Gymnasium wäre nach den schwarz-grünen Plänen um ein Drittel geschrumpft: um die Klassen fünf und sechs, die Teil der Primarschule geworden wären, sowie um die Klasse 13 aufgrund der parallel laufenden (und umgesetzten) Schulzeitverkürzung. Von einer Rettung der Gymnasien, wie von der CDU noch im Wahlkampf versprochen, konnte also ernsthaft nicht mehr die Rede sein. Dies war die Keimzelle des Widerstands gegen die Primarschule: die Enttäuschung der bürgerlichen, bildungsorientierten und eher konservativen Bevölkerungskreise über den Kursschwenk der CDU. Und genau diese Gruppe engagierter Frauen und Männer sollte sich als ausgesprochen kampagnenfähig erweisen.

Im April 2008 schlossen CDU und Grüne, damals noch Grün-Alternative Liste (GAL), ihren Koalitionsvertrag und besiegelten damit das Primarschulprojekt. Wenige Wochen später im Mai gründete der Rechtsanwalt Walter Scheuerl, Vater zweier schulpflichtiger Kinder, mit weiteren engagierten Vätern und Müttern die Volksinitiative „Wir wollen lernen“. Bemerkenswert: Der Titel nahm keinen direkten Bezug auf die Primarschulpläne, sondern formulierte eine positive Botschaft. Das Logo – die lächelnde schwarze (!) Schultasche auf grünem (!) Grund – wurde zum Symbol der Bewegung.

Prominente Hamburger schlossen sich der Kampagne der Volksinitiative an

Scheuerl war der Motor der Initiative. Der eloquente und medienaffine Kopf der Primarschulgegner verfügte über ausgeprägten juristischen Sachverstand, verbunden mit taktischem Geschick. Das sollte sich als entscheidend für den Erfolg erweisen. Hinzu kam, dass sich mit Fortdauer der Kampagne prominente Hamburger und Hamburgerinnen der Initiative anschlossen und für ihre Ziele öffentlich warben. Dazu zählte unter anderen der Schauspieler Sky du Mont, die Ex-Treuhand-Chefin Birgit Breuel, langjähriges CDU-Mitglied, oder die PR-Expertin Alexandra von Rehlingen.

Die bildungspolitische Debatte der Zeit war extrem aufgeladen, und das lag keinesfalls nur an der Primarschule. Im März 2007 hatte die von der Bürgerschaft eingerichtete Enquetekommission Schulpolitik als Konsequenz aus dem schlechten Abschneiden Deutschlands und auch Hamburgs bei den ersten PISA-Studien eine umfassende Schulstrukturreform vorgeschlagen: Das dreigliedrige Schulsystem plus einigen Hamburger Besonderheiten und den Gesamtschulen als Parallelsystem sollte durch die beiden Schulformen Gymnasium und die neue Stadtteilschule ersetzt werden.

Der „Schule für alle“ erteilten die Hamburger bei einem Volksbegehren eine Absage

Dem linken Spektrum und vielen Schulpädagogen ging die später von Schwarz-Grün im Rahmen der großen Schulreform eingeführte Zweigliedrigkeit des Schulsystems nicht weit genug. Die Volksinitiative „Eine Schule für alle“ wurde nicht nur von Teilen der SPD und den Grünen, sondern auch der Linken und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) unterstützt.

Doch die „Einheitsschule“, wie sie von Kritikern genannt wurde, mit gemeinsamem Unterricht aller bis zur neunten oder zehnten Klasse, scheiterte am Widerstand der Bevölkerung: Beim Volksbegehren, der zweiten Stufe des dreistufigen Verfahrens, verpasste die Initiative die erforderliche Stimmenzahl. Statt 61.000 Unterschriften kamen im Oktober 2008 nur gut 51.500 zusammen.

Mit so viel Widerstand hatte Bürgermeister Ole von Beust nicht gerechnet

Ganz anders lief es bei „Wir wollen lernen“ ein Jahr später: Im November 2009 unterschrieben 184.500 Hamburgerinnen und Hamburger im Laufe von drei Wochen gegen die Primarschulpläne des schwarz-grünen Senats. Das war das Dreifache des erforderlichen Quorums. Ole von Beust sprach von einem „Paukenschlag“. Mit so viel Widerstand habe er nicht gerechnet.

Spätestens jetzt hätte Schwarz-Grün konsequent umsteuern und auf Kompromisssuche mit „Wir wollen lernen“ gehen müssen. Lange, vielleicht zu lange war Bildungssenatorin Christa Goetsch (Grüne) entschlossen, ihre Pläne trotz des erheblichen Gegenwindes durchzusetzen. Mit Hochdruck wurde der Schulentwicklungsplan umgearbeitet, schließlich ging es unter anderem darum, die Standorte für die neuen Primarschulen festzulegen, die wegen ihrer sechs Jahrgänge zum Teil aus der Zusammenlegung von Grundschulen entstehen sollten.

Ein großer Streitpunkt war die Abschaffung des Elternwahlrechts

In der Frühphase hätte ein Entgegenkommen bei den Sonderfällen der humanistischen Gymnasien, wo der Widerstand besonders groß war, den Protest vielleicht mildern können. Dazu kam es aber nicht. Besonders emotional wurde die Auseinandersetzung um das Elternwahlrecht geführt. Die Einführung der Primarschule sah vor, dass am Ende der sechsten Klasse die Lehrkräfte anhand der Leistungen und der Entwicklung des Kindes entscheiden, ob es auf eine Stadtteilschule oder ein Gymnasium wechselt. Viele Eltern, die gewohnt waren, nach Klasse vier über die Schullaufbahn ihres Nachwuchses zu entscheiden, fühlten sich in ihren Rechten beschnitten.

Goetsch argumentierte, dass auch im „alten“ Schulsystem nach Klasse sechs die Noten und nicht die Eltern über den weiteren Weg der Kinder entschieden. Das stimmte zwar, überging aber das Gefühl von Vätern und Müttern, in den eigenen Rechten beschnitten worden zu sein.

Im November 2009 begannen die Verhandlungen zwischen Schwarz-Grün und der Volksinitiative. Die Gespräche waren nicht zuletzt geprägt von dem angespannten Verhältnis zwischen den Protagonisten Christa Goetsch auf der einen und Walter Scheuerl auf der anderen Seite.

Auch dem Unternehmer Michael Otto gelang es nicht, einen Kompromiss herbeizuführen

Selbst dem hoch angesehenen Unternehmer Michael Otto gelang es als Moderator nicht, einen Kompromiss herbeizuführen. Am Ende ging es darum, wie viele Grundschulen in einer Art Schulversuch in Primarschulen umgewandelt werden sollten. Die Initiative hatte vorgeschlagen, 50 der rund 200 Grundschulen umzustellen, die Leistungen beider Systeme wissenschaftlich vergleichen zu lassen und dann über die künftige Schulstruktur zu entscheiden. Doch 50 Schulen waren Schwarz-Grün zu wenig, und so kam keine Einigung zustande. Nachdem Ole von Beust und Christa Goetsch die Verhandlungen am 10. Februar für gescheitert erklärt hatten, war klar, dass die Hamburger den Schulstreit – so oder so – per Volksentscheid beenden würden.

Noch einmal tat sich Bemerkenswertes: Die oppositionelle SPD schloss mit CDU und Grünen einen zehnjährigen Schulfrieden, der eigentlich ein Schulstrukturfrieden war. Die Primarschule sollte kommen, aber die Schulstruktur danach eine Dekade lang nicht angetastet werden, damit Ruhe an den reformmüden Schulen einkehren könne. Im Gegenzug vereinbarte diese außergewöhnliche Kenia-Koalition eine Verkleinerung der Schulklassen, den Erhalt des Elternwahlrechts und die Abschaffung des Büchergeldes für Schülerinnen und Schüler. Es war, wenn man so will, das letzte Angebot der repräsentativen Demokratie an das Wahlvolk, das die Primarschule allerdings auch nicht mehr retten konnte.

Das Primarschul-Aus war ein Stolperstein für die schwarz-grüne Koalition

„Heute ist ein Scheißtag gewesen“, bekannte Christa Goetsch am späten Abend nach der Entscheidung bei einem Treffen der Primarschulunterstützer. Rücktrittsforderungen, die übrigens nicht von Walter Scheuerl kamen, wies die kämpferische Politikerin zurück. „Wenn die Situation schwere See da ist, dann kann man nicht einfach das Schiff verlassen, sondern muss dafür kämpfen, dass das Schiff wieder ordentlich an Land kommt“, sagte die Grüne. Erst mal ging es darum, die Schulen innerhalb sehr kurzer Zeit wieder auf das neue alte Schulsystem um- und einzustellen. Einen echten Plan B für den Fall der Niederlage hatte es in Goetschs Behörde nicht gegeben. Das neue Schuljahr stand vor der Tür.

Der Tag des Volksentscheids hatte weitreichende politische Folgen, manche wirken bis heute nach. Die CDU hatte Innensenator Christoph Ahlhaus als Nachfolger auserkoren – anders als der liberale von Beust von eher konservativem Profil. Zwar rangen sich die Grünen dazu durch, Ahlhaus in der Bürgerschaft zum Bürgermeister zu wählen. Aber bereits im November 2010 platzte das schwarz-grüne Projekt. Das Primarschul-Aus war ein Stolperstein für das Bündnis, keine Frage. Aber andere Gegensätze zwischen CDU und Grünen traten nun deutlicher zutage, weil mit Ole von Beust die Instanz fehlte, die die Konflikte lösen konnte.

Sieben Monate nach dem Volksentscheid holte Olaf Scholz die absolute Mehrheit

Sieben Monate nach dem Volksentscheid katapultierten die Hamburger bei der Bürgerschaftswahl Olaf Scholz und die SPD mit einer absoluten Mehrheit aus der Opposition in den Senat. Der Wähleranteil der CDU wurde halbiert, er brach von 42,6 auf 21,9 Prozent ein. Bis heute hat sich die Partei davon nicht wirklich erholt und ist seitdem in der Opposition. Den Grünen gelang erst 2015 wieder der Sprung in den Senat.

Während Christa Goetsch ihre politische Karriere beendete, versuchte ihr Antipode einen Start. Walter Scheuerl zog als Parteiloser für die CDU in die Bürgerschaft ein und wurde Mitglied der Fraktion. Doch schon 2014 war Schluss. CDU-Fraktionschef Dietrich Wersich warf den sehr unabhängigen Scheuerl letztlich nach einem Streit über G8/G9 an Gymnasien aus der Fraktion.

Der zwischen den Parteien vereinbarte Schulfrieden hat bis heute Bestand

Die SPD hielt sich an den überparteilichen Schulfrieden-Beschluss vom März 2010, der eigentlich nur für den Fall eines Ja zur Primarschule gelten sollte, verkleinerte die Klassen und rüttelte nicht an der Schulstruktur. Den Schulen hat der Verzicht auf die aufgeladenen Strukturdebatten gutgetan. Die pädagogischen Verbesserungen haben Hamburg bei den Länderrankings der Schülerleistungen deutlich nach vorn gebracht.

SPD, Grüne, CDU und FDP verständigten sich 2020 auf eine Verlängerung des Schulfriedens und vereinbarten unter anderem die bessere Bezahlung der Grundschullehrer, deren letzten Schritt Schulsenator Ties Rabe (SPD) jetzt zu Beginn des Schuljahres 2023/24 vollzogen hat. Allerdings gilt die Vereinbarung nur fünf Jahre. 2025, wenn die Bürgerschaft neu gewählt wird, steht wieder die Frage einer Verlängerung an. Mal sehen, ob der Frieden hält.