Hamburg. Pädagogen stoßen an Grenzen: Lage in Feuerbergstraße ist angespannt. Was die CDU nach Übergriff zweier Mädchen jetzt fordert.

Der Kinder- und Jugendnotdienst in Hamburg stößt bei der Betreuung der auffälligen, stark belasteten Kinder und Jugendlichen, die er in Obhut nimmt, offenbar zunehmend an seine Grenzen. Nicht nur sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stark überlastet.

Auch die Hamburger Polizei muss immer öfter zu der Einrichtung an der Feuerbergstraße und ihrem Umfeld ausrücken. Das zeigen besorgniserregende Zahlen, die der Senat auf Anfrage der CDU-Bürgerschaftsfraktion angibt und die dem Abendblatt exklusiv vorliegen.

Polizei Hamburg: In einem Monat 28 Einsätze beim Kinder- und Jugendnotdienst

So hat die Zahl der Polizeieinsätze in den ersten fünf Monaten dieses Jahres stark zugenommen. Trauriger Höhepunkt war der Monat Mai, als die Beamten 28-mal zum Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) in Alsterdorf oder in dessen Umfeld ausrücken mussten. Das ist im Schnitt fast ein Einsatz pro Tag.

Tatsächlich steigen die Zahlen seit dem Jahreswechsel erkennbar an. So gab es in den fünf Monaten seit Jahresbeginn insgesamt 98 Polizeieinsätze. In den letzten fünf Monaten des Jahres 2023 waren es lediglich 40 Einsätze. Die Gründe für die jeweiligen Polizeieinsätze können die Behörden nicht spezifizieren.

Jugendgewalt in Hamburg: Zahl der Polizeieinsätze beim Kindernotdienst steigt

Wie schwierig die Verhältnisse dort sind, hatte sich gezeigt, als vor zwei Wochen zwei Mädchen im Alter von 12 und 13 Jahren nach Mitternacht in der Notaufnahme des Altonaer Kinderkrankenhauses in Ottensen randalierten und unter anderem eine Mutter und ihren neunjährigen Sohn aggressiv bespuckten, traten und bedrohten. Eine weitere 13-Jährige soll versucht haben, ihre Freundinnen zu besänftigen und zurückzuhalten – vergeblich. Der Empfangsbereich der Klinik wurde ziemlich verwüstet.

Das Erschreckende: Die drei Mädchen sind im Kinder- und Jugendnotdienst in Alsterdorf untergebracht, also in Obhut der Behörden. Sie waren zuvor spät nachts noch unterwegs gewesen und mutmaßlich unter Alkoholeinfluss, als sie von einer Polizeistreife aufgegriffen und dann mit einem Rettungswagen in die Zentrale Notaufnahme der Kinderklinik gebracht wurden.

Polizei Hamburg: Mädchen randalierten in Kinderklinik in Altona

Der KJND steht seit Längerem im Fokus, immer wieder hatte das Personal erklärt, am Limit zu sein. Allein in den vergangenen zwölf Monaten gab es 16 Überlastungsanzeigen beim KJND, heißt es jetzt in der Senatsantwort auf die Schriftliche Kleine Anfrage des CDU-Fraktionsvorsitzenden Dennis Thering . Mit einer Überlastungsanzeige erklären Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dem Vorgesetzten schriftlich, dass die Arbeit unter den herrschenden Bedingungen nicht ordnungsgemäß zu schaffen ist.

Der CDU-Fraktionsvorsitzende Dennis Thering kritisiert die Verhältnisse im Kinder- und Jugendnotdienst in Hamburg: „Der Senat muss endlich handeln.“
Der CDU-Fraktionsvorsitzende Dennis Thering kritisiert die Verhältnisse im Kinder- und Jugendnotdienst in Hamburg: „Der Senat muss endlich handeln.“ © MARCELO HERNANDEZ / FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

„Die jüngsten Berichte über randalierende Mädchen im Altonaer Kinderkrankenhaus unter Alkohol- und Drogeneinfluss sind nur ein Beispiel für die anhaltenden Probleme“, sagt Thering. Die Überlastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich in 16 Überlastungsanzeigen innerhalb eines Jahres widerspiegelt, zeige deutlich, dass es an der Zeit sei zu handeln. „Die wiederholten unerlaubten Ausgänge der betreuten Jugendlichen und die zunehmende Anzahl von Polizeieinsätzen sind klare Zeichen dafür, dass das bestehende System Mängel aufweist“, so der CDU-Fraktionsvorsitzende.

Probleme beim Kinder- und Jugendnotdienst – mit System?

Haben die Probleme im KJND also System? Eigentlich sollen hier junge Menschen in Notfällen und nur vorübergehend betreut werden, die aufgrund von persön­lichen Problemen, Überforderung der Eltern, Kriminalität oder Misshandlungen nicht in ihren Familien bleiben können. Der KJND ist aber auch für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge zuständig – und der Zustrom hat die Einrichtung zuletzt an die Grenzen der Belastbarkeit gebracht.

„In den letzten beiden Jahren und auch aktuell werden sehr viele Kinder und Jugendliche unterschiedlichster Herkunft und mit einer Altersspanne von ungefähr zehn bis 17 Jahren in der Unterbringungshilfe, im Mädchenhaus und in der Erstaufnahme aufgenommen“, schreibt der Senat. „Hierfür sind insbesondere die Folgen der Corona-Pandemie und der Zuzug von jungen minderjährigen Schutzsuchenden verantwortlich.“

KJND darf kein in Not geratenes Kind oder Jugendlichen abweisen

Eine Unterbringung problembelasteter Jugendlicher sollte „so kurz wie möglich“ gehalten werden, bevor sie in andere Jugendhilfeeinrichtungen kommen oder, wenn möglich, zurück zu ihren Familien – das ist laut Senat das Ziel. Doch so funktioniert es längst nicht immer: „Aufgrund der Schwere einzelner Fälle als auch aufgrund des Fachkräftemangels gestaltet sich dieser Übergang durchaus schwierig“, räumt die Landesregierung ein.

Die Einrichtung an der Feuerbergstraße stehe als einzige Kriseneinrichtung der Stadt rund um die Uhr für Inobhutnahmen zur Aufnahme bereit. „Der KJND darf kein in Not geratenes Kind beziehungsweise keinen Jugendlichen abweisen“, so der Senat. „Daher befinden sich in der Einrichtung viele Kinder und Jugendliche, die in ihrer kurzen Vita bereits sehr belastende Erfahrungen machen mussten.“ Und: „Der Zugang zu diesen Kindern und Jugendlichen gestaltet sich zuweilen sehr schwierig, sodass pädagogische Prozesse, die grundsätzlich in einer dauerhaften Anschlussunterbringung erfolgen sollten, viel Zeit benötigen und nicht immer unmittelbar wirken.“

Traurig genug: Manche der Kinder und Jugendlichen sind für Pädagogik offenbar nicht oder kaum noch zu erreichen.

KJND in Hambugr: „Angriffe leider normal“

Ein Mitarbeiter hatte im Abendblatt nach Bekanntwerden des Übergriffs im Altonaer Kinderkrankenhaus geschildert, wie problematisch die Zustände sind: Angriffe seitens der Kinder und Jugendlichen seien für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leider normal. Häufig müsse der Sicherheitsdienst eingreifen, wirksame Sanktionen gebe es kaum, viele Kinder kämen aus zerrütteten Familien und hätten Schlimmes erlebt.

Erst Mitte vergangenen Jahres hatte ein 14-Jähriger für Schlagzeilen gesorgt, der im KJND untergebracht war und immer wieder starke Auffälligkeiten zeigte. Die Eltern der Umgebung waren in großer Sorge. Die Behörden wussten sich zunächst nicht anders zu helfen, als ihn von der Polizei rund um die Uhr beschatten zu lassen. Eine Einrichtung zur geschlossenen Unterbringung von auffällig gewordenen Kindern und Jugendlichen aus pädagogischen Gründen gibt es in Hamburg nicht mehr.

Hamburger Senat: Tagesgeschäft im KJND „grundsätzlich hoch anspruchsvoll“

Der KJND ist eben ausdrücklich keine geschlossene Einrichtung, wie der Senat betont. Dort habe man nur die Möglichkeit, pädagogisch auf die Kinder und Jugendlichen einzuwirken, „um sie zur Einhaltung von Vereinbarungen, wie beispielsweise den Schulbesuch, Lernzeiten oder eben auch die Ausgehzeiten nach dem Jugendschutzgesetz, anzuhalten.“ Kommen die Kinder nicht – wie im Fall der drei Mädchen – zur festgesetzten Zeit zurück in die Einrichtung, stellt der KJND regelmäßig eine Vermisstenanzeige. Das Tagesgeschäft, so umschreibt es der Senat zurückhaltend, sei bei allem Engagement der Mitarbeiter „grundsätzlich hoch anspruchsvoll“.

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Es sei unerlässlich, dass der Senat sofortige Maßnahmen ergreife, um die Situation zu verbessern, findet CDU-Chef Dennis Thering. „Dies erfordert nicht nur eine Aufstockung der personellen und finanziellen Ressourcen, sondern auch eine eingehende Prüfung und Umstrukturierung, um eine verlässliche Betreuung der Kinder und Jugendlichen endlich wieder sicherzustellen.“

CDU-Landeschef Thering fordert geschlossene Einrichtung

Laut Senat sind derzeit 149 Personen beim KJND beschäftigt – neben dem pädagogischen Personal der Unterbringungshilfe, des Mädchenhauses, der Erstaufnahme, des ambulanten Notdienstes und des Fachdienstes Flüchtlinge sind hier u. a. auch Verwaltungs- und Hauswirtschaftskräfte eingerechnet. Die Personalausstattung entspreche den vereinbarten fachlichen Anforderungen, so der Senat, auch wenn neue Kräfte angesichts des Fachkräftemangels nicht immer leicht zu finden seien.

Thering geht es aber um Grundsätzlicheres: Er fordert nicht nur die Stärkung von Pflegefamilien durch Abbau bürokratischer Hürden, sondern auch „entschlossenes Handeln und echte Veränderungen“. Dazu gehöre „auch in Hamburg endlich eine geschlossene Einrichtung für Kinder und Jugendliche für schwerste Fälle wie diese“.

Jugendgewalt in Hamburg: SPD und Grüne halten geschlossenes Heim für falsch

Und die ist höchst umstritten. Zu Zeiten des CDU-geführten Senats hatte es eine geschlossene Unterbringung just auf dem Areal der Feuerbergstraße gegeben. Sie geriet wegen ihres pädagogischen Konzepts, den hohen Kosten, der zuletzt niedrigen Auslastung und der Tatsache, dass häufiger Jugendliche entwichen, in die Kritik. Als die Grünen in den Senat eintraten, wurde die Einrichtung 2008 nach sechs Jahren geschlossen.

An der Feuerbergstraße hatte es von 2003 bis 2008 bereits eine geschlossene Unterbringung gegeben.
An der Feuerbergstraße hatte es von 2003 bis 2008 bereits eine geschlossene Unterbringung gegeben. © Reto Klar | Reto Klar

Die CDU hält sie dennoch für erforderlich als Ultima Ratio, wenn Jugendliche durch ihr Verhalten, beispielsweise indem sie Straftaten begehen, zur Gefahr für sich und andere werden. Es zielte auf eine bessere Bekämpfung von Jugendkriminalität ab, dass die CDU erst Ende April in der Bürgerschaft als eine von mehreren Maßnahmen beantragt hatte, „die Planungen zur Errichtung einer intensivpädagogischen Einrichtung mit der Möglichkeit freiheitsentziehender Maßnahmen für die kleine Gruppe hochdelinquenter Kinder und Jugendlicher, bei denen andere Hilfeformen gescheitert sind und für die ein familiengerichtlicher Beschluss zur Unterbringung mit Freiheitsentzug vorliegt, wieder aufzunehmen“. SPD und Grüne lehnten ab, sie halten dies für den falschen Weg.

Sie wollen mit dem geplanten „Casa Luna“ in Groß Borstel die Versorgungslücke schließen für die „Systemsprenger“, die von den bestehenden Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe nicht mehr aufgefangen werden können.