Hamburg. Mit 14 kam Christiane Freier in die Einrichtung in Alsterdorf. Die Zustände waren schon vor 40 Jahren schlimm. Was sie dort erlebte.
- Mit 14 Jahren kam die Hamburgerin in die Einrichtung an der Feuerbergstraße
- Sie fühlte sich dort aufbewahrt und nicht betreut
- In 40 Jahren, so scheint es, habe sich dort nicht viel geändert
Als Christiane Freier (Name von der Redaktion geändert) die Berichte über den Kinder- und Jugendnotdienst im Abendblatt las und wie schlimm die Zustände in der Einrichtung in Hamburg-Alsterdorf sind, fühlte sie sich sofort zurückversetzt. „Plötzlich war ich wieder 14 Jahre alt.“ Denn als junges Mädchen war sie zwischenzeitlich in der Einrichtung untergebracht. Sie sagt: „In 40 Jahren hat sich an den schlimmen Zuständen dort nichts geändert.“
Nach den brutalen Übergriffen auf wartende Mütter mit ihren Kindern im Kinderkrankenhaus Altona (AKK) melden sich Betroffene, die über die Zustände im Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) berichten wollen. Die drei Mädchen, die im Krankenhaus aggressiv randalierten, leben nach Abendblatt-Informationen in der Einrichtung an der Feuerbergstraße.Auch die Bürgerschaftsfraktion der Linken beschäftigt sich mit dem Thema.
KJND an Feuerbergstraße in Hamburg-Alsterdorf: „Es war die Hölle“
Mitte der 1980er-Jahre lebte auch Christiane Freier in der Einrichtung – rund fünf Wochen lang. Sie sagt über diese Zeit: „Es war die Hölle.“ Schon zuvor war sie immer mal wieder aus ihrer Familie herausgenommen und ins Heim gebracht worden. „Meine Heimkarriere begann mit sechs, als ich das erste Mal aus meiner Familie genommen wurde.“
Die kleine Christiane wurde von ihrem Vater sexuell missbraucht, die Mutter trank und nahm Medikamente, beide Eltern schlugen ihre Kinder. „Es gab zu Hause immer Prügel, auch mal mit einer Peitsche.“
Als Christiane 14 Jahre alt war, handelten die zuständigen Mitarbeiter des Jugendamts erneut und sorgten dafür, dass Christiane wegen Vernachlässigung sofort in den KJND gebracht wurde. „Es war tagsüber, denn die Zimmer waren leer, weil die anderen Jugendlichen unterwegs waren. Die kamen erst abends zurück“, erinnert sich die 54-Jährige beim Treffen in einem Café.
Hamburger Kindernotdienst: „Es hat sich niemand gekümmert“, so die Ex-Bewohnerin
„Ich hatte einen ganzen Koffer voller Probleme, Sorgen und einer miesen Kindheit.“ Und damals wie heute, so beschreibt es auch ein Mitarbeiter des Kinder- und Jugendnotdienstes, habe sich niemand um die Mädchen und Jungen dort gekümmert. „Den Betreuern war es egal, ob oder wann ich abends zurückkam. Ob andere Jugendliche rauchten oder Alkohol tranken. Es gab keinerlei Sanktionen.“
Der Sprecher der zuständigen Sozialbehörde stellt klar, dass es keine Unterlagen aus der Zeit gibt, die zugänglich seien, oder Mitarbeiter, die diese Geschehnisse kommentieren könnten. Nur so viel: „Für uns ist es wichtig, dass es den Kinder- und Jugendnotdienst gibt, um Kinderschutz an 365 Tagen im Jahr 24 Stunden lang zu gewährleisten. Da leistet der KJND gute und wichtige Arbeit, gerade auch die Mitarbeiter“, so Wolfgang Arnhold.
Zu dem Vorwurf, dass den Betreuern die Kinder dort egal seien, entgegnet Arnhold: „Die Einrichtung KJND hat die Aufsichtspflicht für die dort untergebrachten Kinder und Jugendlichen. Es handelt sich beim KJND allerdings nicht um eine geschlossene Einrichtung. Die dortigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wirken auf die Jugendlichen pädagogisch ein, um sie zur Einhaltung der Ausgehzeiten nach dem Jugendschutzgesetz anzuhalten.“
Feuerbergstraße Alsterdorf: Die 14-Jährige sah dort tägliche Gewalt
Demnach können sich Kinder und Jugendliche auch von dem Gelände entfernen. „Wird seitens der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter festgestellt, dass Kinder und Jugendliche sich nachts vom Gelände entfernt haben, wird sofort eine Vermisstenanzeige gestellt und nach Auffindung der abgängigen Betreuten situativ die Rückführung in den KJND geregelt“, so Arnhold. Pädagogische Gespräche, Aufzeigen von Gefahren und die Vereinbarung möglicher ergänzender pädagogischer Maßnahmen erfolgten jeweils im Nachgang.
Christiane Freier hat keine guten Erinnerungen an die Zeit in der Einrichtung an der Feuerbergstraße. „In dem Vierbettzimmer war es furchtbar“, sagt sie. „Ich wurde von einem anderen Mädchen geschlagen, Gewalt war alltäglich. Ich wurde bestohlen, und niemand wurde dafür zur Rechenschaft gezogen.“
Kindernotdienst Hamburg: Ex-Bewohnerin wurde von anderen Kindern bestohlen
Sie weiß noch genau, was in ihrem kleinen gelben Koffer war. Darin hatte sie Star-Schnitte aus der „Bravo“ gesammelt. „Ich schwärmte für den Sänger Limahl“, sagt sie und muss heute darüber lachen. Diese Dinge waren ihr wichtig – und wurden ihr geklaut, genau wie Teile der wenigen Kleidung, die sie besaß.
In Gedanken geht die Mutter von vier Kindern im Alter zwischen 16 und 30 Jahren das Haus in der Feuerbergstraße durch. Sie erinnert sich: „Die Betten waren aus hellem Holz, im Nebenzimmer standen Etagenbetten. In dem einen Raum lief der Fernseher, und einige der Mädchen und Jungen, auch Zwölfjährige, haben beim Fernsehgucken geraucht. Interessiert hat das die Erwachsenen nicht“, erzählt Christiane Freier.
Feuerbergstraße – „das waren Hardcore-Jugendliche, aggressive Krawallmacher“
„Die Zimmertüren waren immer offen, es gab überhaupt keine Privatsphäre. Die Mädchen und Jungen räumten auch nie die Zimmer auf, unter meinem Bett lagen die benutzten Unterhosen irgendwelcher anderen Mädchen“, sagt sie.
Obwohl sie selbst aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommt, sei die Klientel, die sie in der Feuerbergstraße kennengelernt habe, noch einmal eine ganz andere gewesen: „Das waren Hardcore-Jugendliche, aggressive Krawallmacher.“ Drogen waren allgegenwärtig.
Auch sie selbst war mit 14 Jahren eine, die zu viel Alkohol trank. Die während der Unterbringung in der Feuerbergstraße abends auf dem Kiez war. „Damals waren wir im Caesars Palace oder im Bayerisch Zell.“
Ex-Bewohnerin des KJND: „Wir hatten ein Bett und schlechtes Essen, das war es“
Und tatsächlich empfindet sie die Zeit dort als bloße Unterbringung: „Wir hatten ein Bett und schlechtes Essen, das war es.“ Es gab keinerlei psychologische Betreuung, keine Gespräche, keine Aufmerksamkeit. „Ich habe mich nur verwahrt gefühlt, wie in eine Seifenblase geschubst.“
Die Sozialbehörde weist darauf hin, dass der KJND als Notaufnahme grundsätzlich nicht für einen längerfristigen Aufenthalt vorgesehen ist. „Wie schnell der Übergang in eine Anschlusseinrichtung oder auch die Rückführung in die Herkunftsfamilie erfolgen kann, ist vom Einzelfall abhängig.“
Ob Christiane Freier zur Schule ging oder nicht, das hätte die Feuerbergstraßen-Betreuer nicht weiter gekümmert. Also schwänzte sie und ging stattdessen in die Bücherhalle und las dort „Hanni und Nanni“. „Ich habe mich in meine eigene Welt geflüchtet.“ 60 Mark Taschengeld bekam sie als 14-Jährige damals. „Das war viel Geld, und meine Mutter schaffte es, mir einen Teil davon abzuzwacken.“ Sie selbst habe sich davon Schminksachen gekauft – „mit Drogen hatte ich zum Glück nichts zu tun.“
KJND Hamburg: „Behörde hat es in 40 Jahren nicht geschafft hat, die Missstände zu beheben“
Die Kinder und Jugendnothilfe in der Feuerbergstraße hatte damals in den 1980er-Jahren bereits einen gewissen Ruf, war meistens überbelegt. „Und ich stelle mit Entsetzen fest, dass die Behörde es in fast 40 Jahren nicht geschafft hat, diese Missstände zu beheben. Es ist immer noch so fatal wie zu meiner Zeit“, sagt Freier.
„Ich war damals froh, dass ich diese Einrichtung verlassen konnte und ein Zuhause im Rauhen Haus fand.“ Sie ging nach der achten Klasse von der Schule – ohne Schulabschluss – und kämpfte sich mit Putzjobs und als Kassiererin in Supermärkten durchs Leben. „Die Erlebnisse in der Feuerbergstraße haben sich in meine Psyche eingebrannt – ich werde es nie vergessen.“
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Kindernotdienst Hamburg: „Ich hoffe, dass sich in der Politik endlich etwas ändert“
Umso trauriger findet sie es, dass auch die heutigen Kinder und Jugendlichen, die eigentlich professionelle Hilfe brauchen, einfach verwahrt werden. „Das Geld fließt in die falsche Richtung.“ Mit ihrer Erzählung hofft sie, etwas bewirken zu können. „Ich hoffe, dass sich in der Politik endlich etwas ändert und es keine Artikel mehr wie diese gibt, die sich lesen wie eine Zeitreise aus den 80er-Jahren.“
Freier: „Ich bin wahrscheinlich eine der wenigen erwachsenen Frauen, die es geschafft haben, sich trotz mieser Kindheit und Jugend irgendwie rauszubuddeln.“ Sie wurde nicht zum Alkoholiker wie ihre Eltern. „Trotzdem zog sich meine Kindheit und Jugend wie ein roter Faden durch mein Leben, weshalb ich nun auch Erwerbsminderungsrente beziehe.“