Hamburg. Jugendlicher saß wegen Mordversuchs in U-Haft. Er braucht dringend psychologische Betreuung. Doch niemand will für ihn zuständig sein.
- Die gefährlichste Person in Hamburg ist erst 14 Jahre alt.
- Der Jugendliche saß zuletzt wegen Mordversuchs an einem Jungen in U-Haft.
- Behörden halten den 14-Jährigen, der laut Experten dringend psychologische Betreuung benötigt, für „brandgefährlich“.
- Aber niemand will für ihn zuständig sein.
Ein 14-Jähriger gilt bei den Sicherheitsbehörden aktuell als gefährlichste Person in Hamburg. Der Jugendliche war erst vor wenigen Tagen aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Er war von dem Vorwurf freigesprochen worden, im vergangenen Jahr ein versuchtes Tötungsdelikt an einem Gleichaltrigen begangen zu haben. Seitdem wurden der Polizei mehrere Vorfälle bekannt, bei denen der Junge im Zusammenhang mit Kindern extrem auffällt.
Vergangenes Jahr im August war der 14-Jährige festgenommen worden. Der Vorwurf: Er soll einen Gleichaltrigen auf einem Grundstück am Rübenkamp im Stadtteil Barmbek an einen Baum gefesselt und mit Plastikfolie umwickelt haben. Dabei soll das Opfer fast erstickt sein. Danach habe er den Jungen mit der Folie stranguliert. Das Opfer entkam und alarmierte die Polizei. Die nahm den 14-Jährigen fest.
Polizei Hamburg: 14-Jähriger war wegen dringenden Tatverdachts in U-Haft
Der Junge kam auf Anordnung eines Richters wegen des dringenden Tatverdachts sogar in Untersuchungshaft. Dort soll der Jugendliche mehrfach durch Körperverletzungen aufgefallen sein. Weiblichen Justizangestellten habe er an die Brust gegriffen. Wiederholt habe er sich ausgezogen – offenbar um zu provozieren.
In der Verhandlung, in der es um das versuchte Tötungsdelikt ging, sprach ihn kürzlich eine Richterin frei. Der Hauptbelastungszeuge, so heißt es aus der Justiz, habe einen „unglaubwürdigen Eindruck“ gemacht. Am 7. Juni wurde der Junge entlassen. Untergebracht ist er jetzt in der Feuerbergstraße, wo der Kinder- und Jugendnotdienst Minderjährige in Obhut hat.
Polizei weiß: Jugendlicher beobachtete nackte Kinder in Planschbecken
Unter Kontrolle ist er damit aber nicht. Die Polizei hat seit der Entlassung des 14-Jährigen, der in wenigen Tagen 15 Jahre alt wird, Kenntnis von zahlreichen Auffälligkeiten bekommen. So soll der Jugendliche Erwachsene nicht nur mit der Frage verstört haben, warum man Kinder nicht entführen dürfe. Er wurde auch beobachtet, wie er sich an den warmen Tagen an Planschbecken aufhielt, in denen kleine Kinder nackt badeten, und war in Supermärkten, wo er gezielt Waren mit Abbildungen von Kindern an sich nahm, um sie intensiv abzulecken.
Nach Informationen des Abendblattes gab es bereits eine Fallkonferenz, an der mehrere Behörden beteiligt waren. Dort, so hieß es, halte man den Jungen zwar für „brandgefährlich“. Niemand will aber für ihn zuständig sein.
Jugendlicher „brandgefährlich“: Dossier über ihn ist 70 Seiten stark
Etwa 70 Seiten dick soll eine Art Dossier sein, dass über den 14-Jährigen über dessen Zeit in Untersuchungshaft erstellt wurde. Der Inhalt ist der Grund, warum der Jugendliche als „brandgefährlich“ eingestuft wird. Weswegen der Junge genau und in welchem Umfang er aktenkundig ist, ist unter Verschluss.
Aber schon aus der Zeit in der Untersuchungshaft dürften mehrere Strafverfahren gegen ihn anhängig sein. Kriminologe Wolf-Reinhard Kemper von der Leuphana-Universität in Lüneburg schätzt solche Jugendlichen als „gesellschaftliche Treibmine“ ein. Der 14-Jährige würde „dringlichst“ einer psychologischen Betreuung bedürfen.
Niemand will psychiatrisches Gutachten beantragen
„Auch wenn dies ein herausragender Fall ist, gibt es doch einige Jugendliche quer durch Hamburg, die eines psychiatrischen Gutachtens bedürfen, um darauf pädagogische Maßnahmen aufzubauen“, sagt Kemper, der mehrere Jahre in Hamburg in der Jugendarbeit tätig war. Doch dazu sei, so hieß es nach der Fallkonferenz, niemand bereit gewesen. Da der Jugendliche nicht wolle, würde man auch keine solche Begutachtung durch einen Psychologen zwangsweise anordnen.
Dabei müsste auf der Basis der Ergebnisse eines psychologischen Gutachtens eine pädagogische Maßnahme, zugeschnitten auf den 14-Jährigen, entwickelt werden. „Zuständig wäre aus meiner Sicht das Jugendamt. Sie muss die Maßnahme durchsetzen und kontrollieren“, so Kemper. „Wie der Fall beschrieben wird, muss es hier eine ganz enge Begleitung und eine intensive Aufarbeitung des Verhaltens geben. Der Jugendliche scheint ja eine extreme emotionale Beziehung zu kleineren Kindern zu haben.“
Kriminologe fordert „sofort“ therapeutische Maßnahmen
Ob eine pädagogische Maßnahme Erfolg haben wird, ist nach Einschätzung von Kemper ungewiss. „Man muss schon damit rechnen, dass in so einem Fall nichts mehr zu retten ist, weil es ja eine bereits eine jahrelange Entwicklung verfestigt hat.“
Trotzdem müssten, wie Kemper meint, „sofort“ therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden. „Hier ist keine Schönwetterpädagogik gefragt. Hier muss Verantwortung übernommen werden“, sagt der Kriminologe. Auch eine Unterbringung in einer geschlossenen Psychiatrie könnte bei einem entsprechenden Ergebnis eines Gutachtens eine Option sein.
Hochgradig auffällige Jugendliche selten in geschlossener Einrichtung
„Es wird in solchen Zusammenhängen oft von Kindeswohlgefährdung gesprochen“, so Kemper. „Man muss dabei aber auch das Wohl der Kinder im Auge haben, die potenzielle Opfer eines psychisch gestörten 14-Jährigen werden könnten.“
Tatsächlich tut man sich in Hamburg schwer damit, hochgradig auffällige Kinder und Jugendliche in eine geschlossene Einrichtung zu stecken. Zwar gibt es die Jugendgerichtliche Unterbringung am Hofschläger Weg im Stadtteil Tatenberg, in der in diesem Jahr zum Stichtag Ende April neun Jugendliche und Heranwachsende, davon fünf unter 18 Jahre alt, untergebracht waren. Dort geht es aber um Straftäter und nicht um Jugendliche und Kinder, die als potenziell sehr gefährlich eingestuft werden.
Polizei Hamburg: Nur Maßnahmen im Rahmen der Gefahrenabwehr möglich
Der 14-Jährige selbst ist nur vereinzelt wegen Straftaten bekannt. Das versuchte Tötungsdelikt, wegen dem er angeklagt war, endete mit einem Freispruch. Jetzt können nur Maßnahmen im Rahmen der Gefahrenabwehr laufen, die sich allein die Einschätzung seiner potenziellen Gefährlichkeit stützen.
Eine Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung, die eine verbindliche Betreuung vorsieht, ist in Hamburg nicht möglich. 2013 war eine Einrichtung in Brandenburg, die genutzt wurde, um „hochgradig desintegrierte Jugendliche“ unterzubringen, geschlossen worden. In den Jahren danach wurden durchschnittlich zwei Kinder und Jugendliche, die als besonders gefährlich galten, in den Einrichtungen Gauting, Büchelberg und Birkeneck in Bayern sowie der EJF Lazarus in Brandenburg untergebracht.
In Hamburg ist eine intensivpädagogische Einrichtung für psychisch auffällige Jugendliche am Klotzenmoorstieg geplant. Dort sollen aber lediglich Kinder bis zum Alter von 13 Jahren betreut werden. Der Senat versteht dies auch nicht als geschlossenes Heim. Die Jugendhilfeeinrichtung sollte zunächst im Frühjahr 2025 fertig werden. Jetzt ist eine Eröffnung Mitte 2026 angepeilt. Als Grund wurde Verzögerungen bei der Bauplanung und die Erkrankung von Mitarbeitern eines Planungsbüros angegeben.