Hamburg. Alle Zeichen im Krieg zwischen der Ukraine und Russland stehen auf Eskalation. Aber in wessen Sinne liegt die? Grund genug, zu widersprechen.
Der alte Hit von Peter Schilling, der zwischenzeitlich durch die Niederungen des ZDF-Fernsehgartens, des „Fröhlichen Weinbergs“ und auf dem Musikantendampfer durch deutsche Seichtgewässer tingeln musste, erlebt dieser Tage ein unerwartetes Comeback. „Völlig losgelöst“ aus dem Jahre 1982 schickt sich an, ein Hit des Jahres 2024 zu werden. Passt irgendwie zur Lage der Nation.
Viel passender für eine Neuentdeckung wäre ein anderer Hit aus dem Nachrüstungsjahr 1982: „Die weißen Tauben sind müde“. Hans Hartz sang damals von weißen Friedenstauben mit leeren Schnäbeln, während die Falken so stark wie nie vorher sind: „Und ihre Flügel werden breiter. Und täglich kommen immer mehr. Nur weiße Tauben fliegen nicht mehr.“
Die einzige Branche, die derzeit floriert, ist die Rüstungsbranche
So wie heute: Gerade war Robert Habeck, eigentlich Wirtschafts- und Klimaminister in Berlin, zum Besuch in Kiew. „Wir müssen der Ukraine helfen, möglichst schnell möglichst viele Waffen zu bekommen“, sagte der Grüne da.
Mit an seiner Seite die einzige Branche, die in Deutschland noch wächst: die Rüstungsindustrie. Selbst die Öko-Energien haben schon auf Kriegswirtschaft umgestellt: Der Präsident des Bundesverbands Solarwirtschaft, Jörg Marius Ebel, sieht in der Ukraine viel Potenzial. Solarenergie sei gegen „zukünftige Angriffe sehr, sehr gut geeignet, weil sie nicht mit einem Schlag bedroht oder gar ausgeschaltet werden kann.“
Wehe, man schlägt das „Einfrieren des Konfliktes“ vor
Egal, wo man hinhört, hinsieht, hinliest: Die Falken haben übernommen – und wagt sich eine Taube hervor, wird sie gleich einen Kopf kürzer gemacht. Da hilft es auch nicht, Altbürgermeister, SPD-Fraktionschef oder Papst zu sein. Pardon wird nicht gegeben, wenn jemand sich für Verhandlungen stark macht, für Diplomatie, für das Einfrieren des Konflikts.
Natürlich gibt es gute Gründe, an Putin zu zweifeln – die Rücksichtslosigkeit des Überfalls, die Menschenrechtsverletzungen, die atomaren Drohungen. Aber in dem Maße, in dem man den russischen Präsidenten zu einer Neuausgabe von Adolf Hitler stilisiert, wird Diplomatie unmöglich und jeder Eskalation der Weg bereitet.
Das Land hat sich in atemberaubenden Tempo militarisiert
Diese Zuspitzung findet sich in Worten und Taten. Teile des deutschen Journalismus wirken mitunter kriegsversessen, der Boulevard feiert „Raketen-Rache an Putin“ oder „Mega-Blamage für Putin: Erster Drohnen-Angriff auf St. Petersburg“. Ständig wird Deutschland kritisiert, zu wenig zu tun – dabei ist die Bundesrepublik mit Abstand der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine.
Diese Eskalation gleicht einem Gleis, auf dem der Zug in eine falsche Richtung fährt. In den vergangenen 26 Monaten hat das Land, das 1990 versprach, es solle von seinem „Boden nur Frieden ausgehen“, ein Haltesignal nach dem nächsten überfahren. Was mit Helmen und Decken zugegeben bizarr begann, nahm rasend schnell Fahrt auf.
Macron spricht schon von der Entsendung von Bodentruppen
Waffenlieferungen in Kriegsgebiete, über Jahrzehnte ausgeschlossen, sind längst Konsens. Monatlich wurden die Waffen größer, schwerer, mörderischer. Mit Panzern ging es weiter. Inzwischen ist die Bundesrepublik Teil der Kampfjet-Koalition. Beim Luft-Boden-Marschflugkörper sperrt sich Kanzler Olaf Scholz noch. Doch man ahnt, wie die Sache ausgeht. Präsident Macron denkt schon laut über die Entsendung von Bodentruppen nach. Langsam wird es bodenlos.
Aber die Eskalationslogik verlangt danach. Beide Seiten sind derzeit unfähig zum Frieden: Putin, der imperialistisch die Nachkriegsfriedensordnung zerschlagen hat, aber auch die zunehmend nationalistische Ukraine, die ihre Gegner als Gestalten aus dem Horrorreich, als Orks, entmenschlicht. Man kann nur hoffen, dass eines Tages, wenn die Propaganda wieder der Wahrheit weicht, unsere 100-prozentige Unterstützung sich immer noch als richtig erweist.
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Wir sollten zumindest diskutieren, ob unsere Eskalationspolitik der Weisheit letzter Schluss ist, ob wir nicht weniger auf den Krieg und mehr auf einen Waffenstillstand setzen sollten. Ein Nachdenken ist nicht verboten, die Debatte demokratisch notwendig.
Auch wenn Diplomatie derzeit chancenlos erscheint, könnte gerade die Situation im Nahen Osten zeigen, was in ihr steckt. Offenbar hat der Druck vieler Beteiligter dazu beigetragen, einen heißen Krieg zwischen dem Iran und Israel zu verhindern. Wer aber mit den Mullahs reden kann, darf auch mit Putin das Gespräch suchen.