Hamburg. Zahl unerledigter Verfahren steigt um 45 Prozent in 15 Monaten. Zuwachs auch bei neuen Verfahren. CDU: „Kapitulation des Rechtsstaats“.

Die Hamburger Staatsanwaltschaft steuert auf die Grenze ihrer Belastbarkeit zu. Nach einem Rückgang der Zahl neu eingehender Verfahren während der Corona-Pandemie im Jahr 2021 steigen die Eingangszahlen seitdem kontinuierlich an – bei gleichbleibendem Personalbestand. Und Entspannung ist nicht in Sicht. „Nach aktuellem Stand ist auch im Jahr 2024 mit einem weiteren Anstieg der Eingangszahlen zu rechnen“, schreibt der Senat in seiner Antwort auf eine Kleine Anfrage des CDU-Bürgerschaftsabgeordneten Richard Seelmaecker.

In den ersten drei Monaten dieses Jahres registrierte die Anklagebehörde laut Senatsantwort auf die Seelmaecker-Anfrage 47.523 Neueingänge sogenannter Bekanntsachen, bei denen die Tatverdächtigen bekannt sind. Rechnet man die Zahl auf das ganze Jahr hoch, dann wäre mit 190.092 neuen Verfahren ein neuer Höchststand erreicht. Das würde einen Anstieg um 6,5 Prozent gegenüber 2023 bedeuten, als 178.497 Neueingänge gezählt wurden. Gegenüber 2021 mit 147.801 Neueingängen bei Bekanntsachen beliefe sich der Anstieg auf 28,6 Prozent – im Laufe von nur drei Jahren.

Justiz Hamburg: Senat rechnet mit einem weiteren Anstieg der Zahl von Ermittlungsverfahren

Bei den sogenannten Unbekanntsachen ohne Tatverdächtige ist der Aufwärtstrend noch steiler. Hochgerechnet auf das ganze Jahr 2024 kämen 193.156 Neueingänge zusammen – ein Plus von 21,4 Prozent gegenüber 2023 mit 159.132 Fällen. Im Jahr 2021 gingen bei der Staatsanwaltschaft 134.584 neue Verfahren ein. Wenn der Trend im laufenden Jahr ungebrochen bleibt, wäre bei den Unbekanntsachen Ende 2024 ein Anstieg um 43,5 Prozent gegenüber 2021 zu verzeichnen.

Die im Grunde zwangsläufige Folge eines erhöhten Fallaufkommens bei gleichbleibender Mitarbeiterzahl ist ein Anstieg der Verfahren, die unerledigt liegen bleiben. Gleichzeitig ist eine möglichst zügige Erledigung von Ermittlungsverfahren – ob durch Anklageerhebung oder Einstellung – ein wichtiger Gradmesser für die Gewährleistung von Recht im Rechtsstaat. Seelmaecker hatte sich in seiner Anfrage danach erkundigt, wie viele Ermittlungsverfahren nach neun Monaten noch nicht abgeschlossen sind, also offen oder unerledigt bleiben.

In Hamburg steigt die Zahl unerledigter Verfahren in 15 Monaten um gut 45 Prozent

Anhand dieses Kriteriums ergibt sich folgendes Bild: Am Stichtag 1. März 2024 waren 8301 Verfahren nicht erledigt. Das bedeutet einen Anstieg um 11,9 Prozent innerhalb von nur drei Monaten gegenüber dem 1. Dezember 2023, als 7418 unerledigte Verfahren gezählt wurden. Zum Stichtag 1. Dezember 2022 lagen 5690 Verfahren auf Halde. Das bedeutet einen geradezu sprunghaften Anstieg unerledigter Verfahren um 45,9 Prozent innerhalb von nur 15 Monaten.

Die durchschnittliche Dauer bis zur Erledigung von Bekanntsachen hat sich nach Angaben des Senats im ersten Quartal 2024 auf 2,3 Monate gegenüber 2023 mit zwei Monaten erhöht. Für das Jahr 2021 wird ein Wert von ebenfalls zwei Monaten angegeben, der 2019 leicht auf 1,9 Monate absank. Die individuelle Belastung der Staatsanwältinnen und Staatsanwälte lässt sich an diesen Zahlen ablesen: Im vergangenen Jahr entfielen rechnerisch auf jeden Ankläger und jede Anklägerin 517 Neuzugänge. Im Jahr 2021 waren es „nur“ 402 Fälle, was eine Steigerung zu bearbeitender Verfahren um 28,6 Prozent im Laufe von zwei Jahren entspricht.

Im Jahr 2023 wurden mehr als 110.000 Ermittlungsverfahren eingestellt – ein Plus von 8,7 Prozent

Die Zahl der Einstellungen ist gestiegen: Wurden im Jahr 2022 noch 101.960 Verfahren ohne Anklage oder Antrag auf Strafbefehl abgeschlossen, kletterte deren Zahl 2023 auf 110.871 Fälle – ein Plus von 8,7 Prozent. Der häufigste Grund war die Einstellung nach § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung (StPO) mangels hinreichenden Tatverdachts. Im abgelaufenen Jahr war das bei 45.492 Verfahren der Fall, im Jahr 2002 bei 43.676 Verfahren. Der Anstieg betrug 4,2 Prozent.

Die Zahl der Einstellungen wegen Geringfügigkeit (§ 153 Abs. 1 StPO) stieg im Laufe eines Jahres um 11,4 Prozent auf 19.826 Verfahren 2023. Deutliche Anstiege sind auch bei den Einstellungen wegen unwesentlicher Nebenstraftat (von 10.786 auf 12.368 Fälle) sowie wegen Abwesenheit des Beschuldigten (von 7781 auf 8585 Fälle) zu verzeichnen. Bei den Einstellungen nach § 45 Abs. 1 und 2 des Jugendgerichtsgesetzes (Absehen von der Verfolgung und erzieherische Maßnahmen) um 11,1 Prozent: von 6409 Verfahren 2022 auf 7123 Verfahren 2023.

Justiz Hamburg: Knapp 17 Stellen für Staatsanwälte waren zu Jahresbeginn nicht besetzt

Auch aufseiten der Strafverfolgung steigen die Zahlen an: Wurde 2022 am Ende von 8403 Ermittlungsverfahren Anklage erhoben, waren es im vergangenen Jahr 8979 Verfahren – ein Plus von 6,9 Prozent. Mit einem Minus von 3,5 Prozent waren die Anträge auf Erlass eines Strafbefehls leicht rückläufig: von 11.043 auf 10.653 Verfahren.

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Die Zahl der Stellen für Staatsanwälte ist mit 219,9 „Vollzeitäquivalenten“ gegenüber Anfang 2023 unverändert. Allerdings waren am 1. Januar 2024 nur 204,2 Stellen auch besetzt. Rechnerisch waren also knapp 17 Stellen für Staatsanwälte trotz des gestiegenen Arbeitsaufkommens unbesetzt. Auch bei den Geschäftsstellen, ohnehin ein Nadelöhr im staatsanwaltlichen Betrieb, werden die vorhandenen Kapazitäten nicht ausgeschöpft. Laut Senatsantwort waren zum 1. Januar 2024 von 265,4 Stellen 246,8, also 18,6 Stellen nicht besetzt. Trotz der prekären Arbeitsbelastung der Geschäftsstellen mit zum Teil hohen Krankenständen ist die Zahl der laut Stellenplan vorhandenen Posten um 3,4 Stellen gesunken.

Seelmaecker (CDU): „Das kann man nur noch als Kapitulation des Rechtsstaats bezeichnen“

Der Senat verweist in seiner Antwort auf die Seelmaecker-Anfrage darauf, dass auch in anderen Ländern „ein solcher kontinuierlicher Anstieg“ der Eingangszahlen zu verzeichnen ist. Mit einem weiteren Anwachsen der Fallzahlen werde im Bereich der Kinderpornografie und der Betäubungsmittelkriminalität gerechnet. Zu „einer gewissen Entlastung der Strafverfolgungsbehörden“ könnten die teilweise Legalisierung von Cannabis sowie der Plan des Bundesjustizministeriums führen, das Schwarzfahren von einer Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit herabzustufen. „Die Auswirkungen der gesetzgeberischen Maßnahmen auf die Praxis der Staatsanwaltschaften bleiben abzuwarten; die Erforderlichkeit weiterer Personalverstärkungen ist weiterhin Gegenstand der Prüfung“, schreibt der Senat immerhin.

Der CDU-Justizpolitiker und Rechtsanwalt Richard Seelmaecker fordert Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) auf, dafür zu sorgen, alle freien Stellen bei der Staatsanwaltschaft zu besetzen.
Der CDU-Justizpolitiker und Rechtsanwalt Richard Seelmaecker fordert Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) auf, dafür zu sorgen, alle freien Stellen bei der Staatsanwaltschaft zu besetzen. © FUNKE Foto Services | Mark Sandten / FUNKE FOTO SERVICES

Weniger zurückhaltend fällt das Fazit des CDU-Justizpolitikers Seelmaecker aus. „Sehenden Auges nimmt Justizsenatorin Anna Gallina es hin, dass Hamburgs Staatsanwaltschaft immer weiter unter unbearbeiteten Aktenbergen versinkt“, sagt der Rechtsanwalt. Trotz eines ständigen Austauschs zwischen Justizbehörde und Staatsanwaltschaft – „wie vom Senat behauptet“ – habe sich die Situation im vergangenen Jahr noch weiter verschlechtert. „Immer mehr Verfahren werden eingestellt. Das ist bei der Belastungslage kaum anders möglich. Das kann man nur noch als Kapitulation des Rechtsstaats bezeichnen“, so der CDU-Politiker. Gallina müsse „das Ruder endlich herumreißen“ und dafür sorgen, dass alle offenen Stellen besetzt und die Fehlzeitenquoten gesenkt werden.