Hamburg. Neue Zahlen zeigen, wie dramatisch die Lage bei der Staatsanwaltschaft ist. Wo die Probleme liegen und welche Folgen das hat.
Vor zwei Wochen erst funkte der zivilrechtliche Teil des Amtsgerichts Hamburg wegen Überlastung SOS, die Rechtsanwaltskammer sprach von einer „Kapitulation der Justiz“. Jetzt zeigen neue Zahlen, wie dramatisch die Lage auch bei der Staatsanwaltschaft ist. Dabei ist die Anklagebehörde in diesem Sinne seit Jahren eine „Baustelle“: eine wachsende Zahl von Ermittlungsverfahren, zu wenig Personal und zumindest in Teilbereichen ein sehr hoher Krankenstand.
Die Zahl der neu eingegangenen Verfahren und Anzeigen im Bereich der sogenannten Bekanntsachen, bei denen die Tatverdächtigen bekannt sind, ist im vergangenen Jahr um 9,2 Prozent gegenüber 2021 gestiegen: von 147.801 auf 161.373 Neuzugänge – der höchste Wert der vergangenen acht Jahre. Bei den Unbekanntsachen ist ein leichter Rückgang um 1,4 Prozent von 134.584 auf 132.720 Neuzugänge zu verzeichnen. Diese und die weiteren Zahlen hat der Senat in seiner Antwort auf eine Große Anfrage der CDU-Bürgerschaftsfraktion mitgeteilt.
Justiz Hamburg: Zahl neuer Ermittlungsverfahren um 9,2 Prozent gestiegen
Die Zahl der Erledigungen von Bekanntsachen, also der abgeschlossenen Ermittlungsverfahren in diesem Bereich, ist leicht gesunken: von 154.340 Fällen im Jahr 2021 auf 153.524 Fälle im vergangenen Jahr. Die Tendenz bei der durchschnittlichen Verfahrensdauer ist leicht positiv: Sie sank von 2,2 Monaten (2020) über 2,0 (2021) auf 1,9 Monate im vergangenen Jahr. Allerdings betrug die durchschnittliche Bearbeitungsdauer 2014 lediglich 1,4 Monate.
Der Blick auf die Details zeigt, wo das Problem liegt: Die Zahl der Ermittlungsverfahren, die zu einer Anklage führen, ist in den vergangenen Jahren dramatisch gesunken. Brachten die Staatsanwälte und Staatsanwältinnen 2018 noch 11.448 Verfahren zur Anklage, so waren es 2022 nur noch 8403 Anklageerhebungen – ein Minus von 26,6 Prozent. Gegenüber 2021 (8612 Anklagen) ergibt sich ein Rückgang um 2,4 Prozent. Zum Vergleich: Bereits 2014 wurden 11.742 Anklagen und damit deutlich mehr als aktuell erhoben, obwohl damals die Zahl der Neuzugänge an Bekanntsachen mit 146.626 Verfahren um 9,2 Prozent niedriger lag als 2022.
6,8 Prozent der Planstellen für Staats- und Amtsanwälte sind nicht besetzt
Fast gleichbleibend sind die Anträge auf Erlass eines Strafbefehls: 11.069 (2021) und 11.049 im vergangenen Jahr. Allerdings lag die Zahl der Strafbefehle mit 12.535 im Jahr 2018 noch um 11,9 Prozent höher. Immerhin 43.676 Ermittlungsverfahren wurden 2022 mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt (2021: 45.639). Die Einstellungen wegen Geringfügigkeit haben hingegen vom 16.430 auf 17.794 Verfahren zugenommen.
Die Zahl der Planstellen für Staatsanwälte und Amtsanwälte ist in den vergangenen Jahren zwar deutlich erhöht worden, aber noch immer sind nicht alle Posten besetzt. Laut der Senatsantwort auf die CDU-Anfrage sind aktuell knapp 18 Dezernentenstellen unbesetzt: Von rechnerisch 259,9 Stellen waren Ende Mai 2023 nur 242,2 besetzt – eine Vakanz von 6,8 Prozent.
Staatsanwalt muss im Durchschnitt 453 Verfahren pro Jahr bearbeiten
Die Zahl der Planstellen bei der Anklagebehörde ist während der Amtszeit von Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) um knapp 14 Stellen seit Anfang 2021 erhöht worden. Doch die Vakanz, die damals 14 Stellen betrug, ist seitdem sogar leicht gestiegen. Noch im Wesentlichen zu Zeiten von Gallinas Vorgänger Till Steffen (Grüne) waren 50 zusätzliche Stellen für die Staatsanwaltschaft eingerichtet worden.
Offensichtlich reicht die Personalverstärkung nicht aus, denn die Senatsantwort weist auch aus, dass die durchschnittliche Anzahl der Neuzugänge pro Staatsanwalt von 402 Verfahren (2021) auf 453 im vergangenen Jahr gestiegen ist. Bei den Amtsanwälten stieg die Zahl von 1558 auf 1740 Verfahren.
Krankenstand in den Geschäftsstellen liegt bei 12,2 Prozent
Immerhin: Als leicht verbessert erweist sich die Situation im Bereich der Geschäftsstellen der Staatsanwaltschaft, häufig ein Nadelöhr der Tätigkeit der Anklagebehörde. Am 1. Januar 2021 waren von 260,3 Stellen nur 230,6 besetzt – ein Minus von rund 30 Stellen. Ende Mai 2023 war die Zahl der ausgewiesenen Stellen auf 268,8 gestiegen, von denen 246,7 auch besetzt waren. Die Vakanz hat sich also auf rund 22 Stellen verringert.
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Alarmierend hingegen ist der unverändert hohe Krankenstand: Bei den Bürokräften der Geschäftsstellen beträgt die durchschnittliche Fehlquote 12,2 Prozent seit 2021. Bei den Rechtspflegern und - pflegerinnen liegt der Krankenstand bei 10,2 Prozent, bei den Staats- und Amtsanwälten ist er mit 5,2 Prozent nur etwa halb hoch. Deutlich niedriger ist die Belastungssituation offensichtlich bei der Generalstaatsanwaltschaft. Hier liegt der durchschnittliche Krankenstand bei den Servicekräften bei lediglich 4,2 Prozent und bei den Staatsanwälten bei 2,3 Prozent.
Senat spricht von „sehr beengten Bereichen“ in einigen Dienstzimmern
Gegenstand vielfacher Klagen ist auch die Raumsituation der Staatsanwaltschaft, die auch wegen der Lagerung nicht bearbeiteter Akten angespannt ist. Wie berichtet, ist die Anklagebehörde anders als geplant noch immer nicht in die Räume im Michaelisquartier gegenüber dem Michel umgezogen. Noch sind die Umbauarbeiten nicht abgeschlossen, und auch am Sicherheitskonzept wird noch gefeilt. Gallinas Behörde muss für die Räume monatlich eine Nutzungsausfallentschädigung von 392.000 Euro zahlen.
„Die Raumsituation konnte in einigen Dienstzimmern dadurch verbessert werden, dass durch Nutzung zusätzlicher Räume eine gewisse Entzerrung herbeigeführt wurde. Aufgrund der hohen Aktenlast kommt es in einigen Dienstzimmern jedoch noch immer zu sehr beengten Bereichen. Weitere Entzerrungsmöglichkeiten bietet das genutzte Dienstgebäude nicht“, heißt es in der Senatsantwort.
Seelmaecker (CDU): „Absolut Inakzeptabel, dass Gallina solche Zustände hinnimmt“
„Zahlreiche unbesetzte Stellen, überdurchschnittliche Fehlzeitenquoten beim Servicepersonal und Aktenberge auf den Fensterbänken und Fußböden – Hamburgs Staatsanwaltschaft ist auch nach Jahren noch immer heillos überlastet“, sagt der CDU-Justizpolitiker Richard Seelmaecker. Es sei „absolut inakzeptabel, dass die grüne Justizsenatorin, deren Behörde auch für den Arbeitsschutz zuständig ist, solche Zustände seit Jahren hinnimmt“.
Darunter litten nicht nur die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft, so Seelmaecker, sondern auch die Strafverfolgung und das Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat. „Anhand der alarmierend gesunkenen Anzahl der Anklageerhebungen, Strafbefehle und beschleunigten Verfahren fragen sich die Menschen, wo das noch hinführen soll“, sagt Seelmaecker.
Justiz Hamburg: Senatorin Anna Gallina spricht von angespannter Lage
„Die Staatsanwaltschaften machen einen sehr engagierten Job und sind mit einer Vielzahl von Kriminalitätsphänomenen konfrontiert. Insbesondere die Vielzahl von laufenden Ermittlungsverfahren im Bereich der Kinderpornografie sowie die hohe Belastung durch sehr komplexe Verfahren wie die Encrochat Verfahren, brauchen erhebliche Ressourcen“, sagt Justizsenatorin Gallina. „Deshalb haben wir neben den Gerichten auch die Staatsanwaltschaft in dieser Legislatur personell verstärkt, auch um insbesondere die Verfahrensdauern bei Haftsachen im gebotenen Rahmen zu halten. Wir haben hier aber nach wie vor eine angespannte Lage, die wir aufmerksam im Blick behalten und wo es zu weiteren Nachsteuerungsbedarfen kommen kann“, so die Grünen-Politikerin.