Hamburg. 16-Jähriger wurde 2016 hinterrücks erstochen. Wie die Polizei bis heute nach dem Täter sucht und die Familie mit der Trauer umgeht.

Der Täter kam auf leisen Sohlen. Von hinten schlich er sich an das junge Paar heran. Dann stach er zu, immer wieder – und verschwand unerkannt. Zurück am Ufer der Alster blieb ein 16-Jähriger, der schwerste Verletzungen erlitten hatte. Und die Freundin des Opfers, die von dem Täter in den Fluss gestoßen worden war. Die Jugendliche konnte sich retten.

Doch für den Hamburger, auf den der Täter eingestochen hatte, kam jede Hilfe zu spät. Der Schüler erlag seinen schweren Verletzungen. Dieses Verbrechen vom 16. Oktober 2016 gibt bis heute Rätsel auf. „Obwohl die Polizei seit Jahren alles dransetzt, um den Fall zu klären, gibt es noch keinen Durchbruch“, sagt Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher in „Dem Tod auf der Spur“, dem Crime-Podcast mit Rechtsmediziner Klaus Püschel. Auch die Tatwaffe für den Mord konnte noch nicht gefunden werden.

True Crime Hamburg: 16-jähriger Schüler an der Alster getötet

„Dabei wurden von der Polizei neben dem üblichen, sehr engagierten Prozedere auch ungewöhnliche Maßnahmen ergriffen, um die Tat besser einordnen zu können“, bestätigt Püschel. „Und wir wollen unsere Hörer ausdrücklich dazu aufrufen, den Fall noch einmal in die Erinnerung zu holen und nachzudenken, was sie damals vielleicht beobachtet haben.“ Es handele sich mittlerweile um einen Cold Case. Zeugen könnten einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, das Verbrechen doch noch aufzuklären.

Véronique Elling verlor ihren Sohn im Oktober 2016 durch ein Gewaltverbrechen. Bis heute weiß niemand, wer für die Tat verantwortlich ist.
Véronique Elling verlor ihren Sohn im Oktober 2016 durch ein Gewaltverbrechen. Bis heute weiß niemand, wer für die Tat verantwortlich ist. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Der 16-jährige Victor wurde heimtückisch getötet. Das junge Paar, das an jenem Abend eben noch den lauen Abend am Ufer der Alster genossen hatte, wurde Opfer eines hinterhältigen Angriffs. „Man fragt sich: Wer tut so etwas?“, überlegt Püschel. „In vielen Fällen, die die Mordkommission zu untersuchen hat, gibt es eine Verbindung zwischen Täter und Opfer. Aber hier, in diesem Fall? Da scheint der Täter der große Unbekannte zu sein.“

Rechtsmediziner Püschel: „Hier scheint der Täter der große Unbekannte zu sein“

Die Tat irritiert umso mehr, als niemand vorher wusste, dass das junge Pärchen an diesem Abend an der Außenalster sein würde. Es war ein spontaner Entschluss für die beiden, dort hinzugehen und sich ans Wasser zu setzen. Diese Idylle wird jäh unterbrochen von einem Mann, der den Jugendlichen mit einem Messer attackiert. Später wird nach der Beschreibung der 15-jährigen, die ins Wasser gestoßen wurde, ein Phantombild angefertigt. Demnach handelt es sich bei dem Täter um einen jungen Mann im Alter von etwa 23 bis 25 Jahren. Er soll 1,80 bis 1,90 Meter groß sein und ein „südländisches Erscheinungsbild“ haben, mit kurzen, dunklen Haaren und Dreitagebart. Er trug zur Tatzeit einen braunen Pullover und blaue Jeans.

Phantombild der Polizei Hamburg: So soll der Täter ausgesehen haben.
Phantombild der Polizei Hamburg: So soll der Täter ausgesehen haben. © picture alliance / dpa | Polizei Hamburg

Jahre nach dem Verbrechen sitzt der Schmerz bei der Familie des Getöteten weiterhin sehr tief. Victors Mutter Véronique Elling hat über die Trauer gesprochen, die sie empfindet, wenn sie daran denkt, wie ihr Sohn aus dem Leben gerissen wurde. „Ich bin durch ein sehr, sehr tiefes Loch gegangen“, erzählte die gebürtige Französin. Sie sprach auch von dem grenzenlosen Schmerz, dem sie ausgesetzt war, von ihrer tiefen Trauer.

Tod an der Alster: Grenzenloser Schmerz der Angehörigen

Dass Victor getötet wurde, erfuhr die Mutter noch in derselben Nacht, als Polizisten zusammen mit dem Kriseninterventionsteam zu der Wohnung der Familie kamen. Véronique Elling hörte die Worte „gewaltsamer Tod“. Zunächst habe sie gehofft, dass es sich um eine Verwechslung handelte. Allmählich aber wurde ihr klar, dass es wirklich ihren Sohn getroffen hat. Dass er niemals wiederkommen würde. Da sei etwas in ihr kaputtgegangen. „Wir saßen Stunden da wie betäubt“, sagte Véronique Elling.

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Der Tote wurde wenig später obduziert, wie es bei Gewaltverbrechen üblich ist. Dies ist zum einen wichtig, um die Todesursache genau zu analysieren, weil anhand der Verletzungen der Tathergang besser rekonstruiert werden kann – und weil Rechtsmediziner durch ihre Untersuchungen Rückschlüsse auf die Tatwaffe ziehen können. Victor hatte mehrere Stichverletzungen erlitten, unter anderem in den Brustkorb. Bei der Tatwaffe muss es sich nach Erkenntnissen aus der Rechtsmedizin um ein einschneidiges Messer mit einer kräftigen, mindestens elf Zentimeter langen Klinge gehandelt haben, die Richtung Griff deutlich breiter wurde. Also ein kräftiges Fahrten- oder Jagdmesser.

Die Tatwaffe wurde nie gefunden. Es war vermutlich ein Jagdmesser

Für die Mutter des ermordeten Jugendlichen beginnt mit seinem Tod eine lange Zeit des Leides. Für sie gilt es aber auch, ihre jüngere Tochter, die damals erst drei Jahre alt war, zu beschützen. „Wir hatten bis dahin in einer sehr heilen Welt gelebt“, erzählte Véronique Elling. Das Verantwortungsgefühl ihrer kleinen Tochter gegenüber, für die sie da sein musste, half ihr, nicht an dem Schicksal zu zerbrechen. „Das Wichtigste war, irgendwie zu überleben“, sagte die gebürtige Französin im Rückblick. „Bei aller Trauer, allem Schmerz und allem Erschlagensein für die Tochter da zu sein, mit aller Kraft. Es ging darum, ins Leben zurückzufinden.“

Der Crime-Podcast „Dem Tod auf der Spur“ mit Rechtsmediziner Klaus Püschel und Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher
Der Crime-Podcast „Dem Tod auf der Spur“ mit Rechtsmediziner Klaus Püschel und Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher © Hamburger Abendblatt | Hamburger Abendblatt

Parallel dazu hielt die Mutter engen Kontakt zur Polizei, um zu erfahren, wie die Ermittlungen voranschreiten. Es wurde von der Kripo viel unternommen: Kriminaltechniker suchten, wie bei Verbrechen üblich, nach Spuren, und es wurden Zeugen befragt. Ferner wurden DVDs mit Videomaterial aus Kameras in Bussen, Bahnen und Bahnhöfen ausgewertet. Ziel war herauszufinden, ob Victor Elling und seine Freundin vor der Tat verfolgt worden waren.

Zahlreiche Maßnahmen der Polizei, um den Täter zu ermitteln

Weitere Maßnahmen der Polizei waren unter anderem, über die Ärztekammer 11.000 Hamburger Mediziner anzuschreiben, weil es denkbar war, dass sich der Täter an seiner Hand verletzt hatte. Beamte glichen darüber hinaus die Daten von allen Falschparkern ab, die in den Tagen zuvor oder danach in der Nähe verwarnt wurden – womöglich hatte der Täter ja sein Auto in der Nähe geparkt und einen Strafzettel kassiert.

Und es wurde eine Funkzellen-Auswertung vorgenommen, um herauszufinden, wer sich zur Tatzeit in der Nähe des Verbrechensortes befunden hatte. Außerdem wurde zwei Jahre nach dem Verbrechen die Messerattacke unterhalb der Kennedybrücke von der Polizei nachgestellt. Zeitgleich bemühte sich die Mordkommission, mit Flugblättern und Aushängen weitere potenzielle Zeugen zu erreichen.

Victors Mutter hilft beim Umgang mit der Trauer ihre Musik

Derweil suchten die Angehörigen des Getöteten weiter nach ihrem Weg, mit dem Schicksalsschlag umzugehen. Dazu gehörte unter anderem, sein Zimmer so zu erhalten, wie es zu Lebenszeiten des Jugendlichen war. Nicht, um ein Museum zu schaffen, betonte die Mutter. Sondern um einen Ort zu haben, wo sie ihrem Sohn besonders nahe war. Außerdem war die Musik für die Mutter, die als Chansonsängerin, Dozentin, Sprecherin und Regisseurin Erfolg hatte, weiterhin ein zentraler Anker in ihrem Leben.

Auch um irgendwie mit dem Tod ihres Sohnes klarzukommen. „Nachdem ich die erste Zeit nach Victors Tod unfähig war, etwas in Worte zu fassen, habe ich schließlich angefangen, über die Zeit der Trauer zu schreiben“, sagte sie. Entstanden sind damals, in Zusammenarbeit mit ihrem Partner, Prosa-Texte, Gedichte und Liedtexte in Erinnerung an ihren Sohn, aus denen schließlich eine CD entstand. Der Titel: „Dire Adieu“, also: Sag Lebewohl. Mittlerweile ist eine zweite CD in Arbeit.

„Man darf einem Täter nicht die Macht über unser Leben geben“

Wovon die Musikerin ganz fest überzeugt ist: „Man darf einem Täter nicht die Macht über unser Leben geben. Wenn sein Hass und seine Wut die Zärtlichkeit und die Zugewandtheit überschatten würden: Das darf nicht passieren. Das werde Victor auch nicht gerecht.“ Ihr Sohn habe stets Fürsorge für andere empfunden, sei freundlich und zugewandt gewesen. „Das ist es, was von ihm bleiben soll. Ich halte seine Erinnerung hoch. Ich habe entschieden, dass ich der Zerstörung keinen Raum geben will.“

Unterdessen nimmt sich die Staatsanwaltschaft immer wieder den Fall vor. „Da Mord nicht verjährt, werden die Akten nicht geschlossen werden, bis die Tat aufgeklärt ist“, heißt es aus der Anklagebehörde. Unter anderem werten die Staatsanwaltschaft und das zuständige LKA regelmäßig die inzwischen rund 5000 Spurenakten aus. Und sämtlichen Hinweisen, seien es Zeugenaussagen oder Funkzellentreffer, wurde und wird, sofern sich neue Erkenntnisse ergeben, nachgegangen. Weiterhin werden immer wieder neue wissenschaftliche Methoden geprüft, beispielsweise um doch noch Fremd-DNA aus sichergestellten Kleidungsstücken zu gewinnen.

Mord an der Alster: Gibt es noch Zeugen, die Aufklärung voranbringen?

Was wirklich damals geschehen ist, „das weiß bislang allein der Mörder“, meint Rechtsmediziner Püschel. Doch die Hoffnung, den Fall doch noch zu klären, bestehe weiter. „Es könnten beispielsweise noch Zeugen auftauchen. Es wäre toll, wenn dieser Podcast dazu beitragen würde, dass vielleicht jemandem klar wird, dass er damals eine wichtige Beobachtung gemacht hat. Und dass dieser Jemand jetzt zur Polizei geht und das schildert. Oder es wird beispielsweise doch noch das Tatmesser gefunden und DNA sichergestellt und so ein Verdächtiger ermittelt.“ Mittelacher resümiert: „Die Person, die Victor auf dem Gewissen hat, kann sich also nie sicher fühlen, dass sie nicht doch noch ins Gefängnis muss.“

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