Zwei Jahre ist es her, dass ein 16 Jahre alter Schüler an der Alster erstochen wurde. Täter und Motiv sind immer noch unbekannt. Peter Wenig traf die trauernde Mutter, die erstmals ausführlich über ihren Sohn spricht, und Mord-Ermittler, die bei der Fahndung nun neue Wege gehen

    Der Wind kräuselt die Wellen, ein Achter zieht seine Bahn, Segelboote kreuzen auf der Alster. Nichts deutet an diesem warmen Herbsttag darauf hin, dass genau auf dieser Treppe am Alsterufer unterhalb der Kennedybrücke ein Verbrechen geschah, das Hamburg erschütterte wie wenige andere. Die Sonne schien auch an dem Tag, der das Leben der Familie Elling für immer in ein Vorher und Nachher teilte.

    Es ist der 16. Oktober 2016, ein Sonntag, die Herbstferien in Hamburg haben gerade begonnen. Victor verabschiedet sich gegen 19 Uhr mit einem fröhlichen Tschüs von seiner Mutter und zieht die Tür der Altbauwohnung hinter sich zu – der 16-jährige Schüler freut sich auf einen Kinobesuch mit seiner Freundin.

    Um 23 Uhr beginnen Véronique Elling und ihr Lebensgefährte Henrik Giese, sich Sorgen zu machen. Ihr Sohn ist noch nicht zu Hause, das Handy abgeschaltet. Das passt nicht zu Victor, der doch immer zuverlässig und pünktlich ist. Sie überlegen, die Polizei zu alarmieren. Gegen Mitternacht klingelt es an der Tür. Polizisten und Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams bitten um Einlass: „Wir müssen Ihnen leider eine sehr traurige Nachricht überbringen.“ Victor starb um 22.38 Uhr im Schockraum der AK St. Georg. Alle ärztliche Kunst blieb vergebens, zu schlimm waren seine Verletzungen. Victor hatte mit seiner Freundin am Alsterufer gesessen, als ihn ein Mann gegen 22 Uhr hinterrücks niederstach. Das Mädchen, vom Täter ins Wasser gestoßen, überlebte.

    Fast zwei Jahre später kommt ­Véronique Elling (43) zum Termin mit dem Abendblatt-Reporter in das Bistro des Abaton-Kinos. Öffentlich hat sie über die Tat bisher kaum geredet, sie möchte die Privatsphäre ihrer Familie schützen. Nur hin und wieder gewährt sie auf ihrer Facebook-Seite einen kurzen Einblick in ihre Gefühle.

    Am 16. Oktober 2017, dem ersten Todestag ihres Sohnes, schrieb sie dort das Gedicht „Mein Kind“ (siehe oben auf dieser Seite).

    An diesem Septembermorgen liegt der 16. Oktober 2018 nicht mehr fern. Victors zweiter Todestag.

    Wie beginnt man als Reporter ein Gespräch mit einer Mutter, die die letzten Minuten im Leben ihres Sohnes nur aus den Ermittlungsakten kennt? Und die noch immer nicht weiß, wer ihr Kind ermordet hat?

    Als der Kellner den Ingwertee serviert, reden wir über ihre Liebe zur Musik. Sie erzählt, wie sie als kleines Kind in ihrer Heimatstadt Montpellier Opernarien nachträllerte und schon als Erstklässlerin am Konservatorium unterrichtet wurde. Das Talent, sagt sie, habe sie wohl vom Urgroßvater, einem exzellenten Geiger, geerbt. Das Abitur besteht sie mit Auszeichnung an einem künstlerisch ausgerichteten Gymnasium. Sie studiert Literatur und Theaterwissenschaften in Montpellier, wechselt dann nach Hamburg an die Schauspielschule.

    „Musik und Theater waren immer mein Leben“, sagt sie. Und Victor, ihr Sohn, geboren am 26. Mai 2000. Benannt nach Victor Hugo, dem großen französischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, den sie so verehrt. Die Beziehung zu Victors Vater zerbricht, sie verliebt sich in den Pianisten und Arrangeur Henrik Giese, ein Mitglied ihrer Band. Als 2012 ihre Tochter geboren wird, scheint das große Glück der kleinen Familie komplett. Victor und seine Schwester sind trotz – oder vielleicht gerade wegen – des großen Altersunterschieds ein Herz und eine Seele. „Er war ihr großer Held, sie seine kleine Prinzessin“, sagt die Mutter.

    Auch beruflich geht es voran. Kritiker feiern ihre Konzerte. „Ein Stück deutsch-französischer Freundschaft. Véronique Elling glänzt“, schreibt das Abendblatt über die Chansonsängerin, die auch als Dozentin, Sprecherin und Regisseurin sehr gefragt ist.

    Bis die Nacht zum 17. Oktober 2016 alles verändert.

    „Wir saßen Stunden da wie betäubt“, sagt Véronique Elling. Als die Polizei klingelte, habe sie zunächst geglaubt, Victor sei von einem Bus erfasst worden. Ein schrecklicher, tragischer Unfall. Aber ein Mord? „Victor war der friedlichste Mensch, den man sich überhaupt nur vorstellen kann“, sagt sie. Einer, der nie Streit suchte, sondern schlichtete. Ein begeisterter Leser, vor allem von Stefan Zweig, seinem Lieblingsautor. „Ich unterrichte seit 20 Jahren. Aber ich hatte noch nie einen Schüler mit einem derartigen Literaturverständnis“, sagt einer seiner Lehrer.

    „Ich habe Wochen, nein, Monate gebraucht, um überhaupt wieder meinen Alltag zu bewältigen“, sagt Véronique Elling: „Ich war nicht mehr lebensfähig.“ Auf Facebook postet sie die Todesnachricht auf einer schwarzen Fläche: „Unser Sohn ist gestorben. Wir sind fassungslos, entsetzt, verzweifelt. RIP, mein Engel.“ Freunde und Familie stehen ihr bei, die Mutter eilt aus Montpellier nach Hamburg, ein Mitglied ihrer Band, das sein Kind durch eine Krankheit verloren hat, spendet Trost. Auf Anraten des Kriseninterventionsteams sagen die Eltern ihrer Tochter gleich am Morgen danach, was passiert ist. Dass ihr geliebter Victor jetzt oben bei den Sternen wohnt: „Als sie aufwachte und uns so verzweifelt im Wohnzimmer fand, spürte sie sofort, dass etwas Schreckliches passiert sein musste.“

    Die Schule organisiert einen „Raum der Stille“ zum Abschiednehmen. Viele Mitschüler erfahren von Victors Tod erst bei der Rückkehr aus den Ferien. Und sind erschüttert. Denn Victor war beliebt. Ein guter Schüler, musisch begabt, aber auch ein Ass in Mathematik und Philosophie. Und dennoch kein Streber. Sondern hilfsbereit. Ein guter Zuhörer, ein echter Freund.

    Zuflucht findet Véronique Elling in der Musik. Sie stellt ein Programm mit dem Titel „Dire Adieu“ zusammen. Sag Lebewohl. Als sie die Chansons der Trauer sechs Monate nach Victors Tod im Levantehaus singt, fließen bei vielen Zuschauern die Tränen. Auch die Sängerin weint. Eigentlich wollte sie es am Ende dieses Jahres noch einmal spielen: „Aber dazu fehlt mir die Kraft.“ Sie wird nun am 13. Oktober im First-Stage-Theater an der Thedestraße wieder Liebeslieder von Edith Piaf singen, der großen französischen Künstlerin. Nach Victors Tod fühlt sich Véronique Elling ihr noch näher. Denn auch Piaf geriet in eine schwere Krise, als ihr langjähriger Lebensgefährte, Boxweltmeister Marcel Cerdan, bei einem Flugzeugabsturz starb. 1949. Ebenfalls an einem Oktobertag.

    Victor ist für Véronique Elling nach wie vor allgegenwärtig. „Manchmal höre ich ihn noch, wie er am Klavier im Wohnzimmer Beethovens ,Mondscheinsonate‘ spielt. Das Stück hat er besonders geliebt.“ Ihr neues Programm hat sie an seinem Schreibtisch geschrieben, sein Jugendzimmer ließ sie unverändert. Ein halbes Jahr vor der Tat war die Familie umgezogen, Victor hatte zuvor sein Spielzeug in eine Flüchtlingsunterkunft gebracht. „Ihm war es sehr wichtig zu helfen, sich für seine Mitmenschen zu engagieren“, sagt seine Mutter.

    Aufbewahrt hat sie all die Schätze, die sie an ihren Victor erinnern. Wie seinen Brief zum Muttertag. Als Achtjähriger hatte er in ein gemaltes Herz geschrieben: „Liebe Mama, ich liebe Dich so sehr, dass die Sterne funkeln, dass der Mond golden schimmert. Dein Victor.“

    Sie hat nach wie vor Kontakt zu seiner Freundin. „Es geht ihr den Umständen entsprechend. Sie ist sehr tapfer“, sagt sie. Mehr nicht, die Identität des Mädchens will sie unbedingt schützen.

    Wie kann es sein, dass ausgerechnet ein Jugendlicher, der Gewalt verabscheut, Opfer eines Messerstechers wird? Es ist eine der Fragen, die Véro­nique Elling quälen. Sie ist sicher, dass das junge Glück einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort war. Denn eigentlich wäre das Paar zum Zeitpunkt der Tat noch im Savoy-Kino am Steindamm gewesen. Doch sie hatten sich im Programm um einen Abend geirrt. Also fuhren sie zur Alster.

    Wer tut so was? Wer greift einen Jugendlichen von hinten an und ersticht ihn? Véronique Elling hofft auf Hinweise von weiteren Zeugen. Von einem Ehepaar, das dort spazieren ging. Oder dem Mann, der unmittelbar vor der Tat auf einer benachbarten Parkbank saß. Sie appelliert: „Bitte meldet euch bei der Polizei.“

    Der Hamburg-Stadtplan an der Wand mit den Polizeireviergrenzen („Nur für den dienstlichen Gebrauch“) zeigt den Tatort kaum stecknadelkopfgroß. Doch das Trio, das an diesem Mittwochmorgen zum Gespräch mit dem Abendblatt um den ovalen Tisch des Konferenzraums 2A137 im Polizeipräsidium sitzt, kennt den Ort, an dem Victor Elling starb, auch ohne Karte nur zu gut.

    Versammelt sind:

    Alexandra Klein, Leiterin der Abteilung Kapitaldelikte im Landeskriminalamt. Zuvor erste Kommandoführerin eines SEK im Norden, ausgezeichnet mit der Ehrenmedaille der Hamburger Polizei für ihre erfolgreiche Jagd nach Einbrechern als Chefin der Soko „Castle“. Spitzname Berti, weil sie sich nach Ansicht ihrer Kollegen in ihre Gegner verbeißt wie einst Nationalverteidiger Berti Vogts, den man auch Terrier nannte.

    Claudia Brockmann, seit 31 Jahren Polizeipsychologin. Sie trug maßgeblich zur Ergreifung des „Heide-Mörders“ Thomas Holst bei und koordinierte die Verhöre mit den Reemtsma-Entführern. Ihr Buch „Warum Menschen töten“ steht im Regal des Konferenzraums.

    Lars Mahnke, Oberstaatsanwalt, Ankläger in zahlreichen Gewaltverbrechen, die Hamburg erschütterten. Anfang des Jahres griff ein verurteilter Mörder bei einer Verhandlung im Landgericht eine Zeugin mit einer Rasierklinge an – Mahnke warf sich dazwischen und wurde leicht verletzt.

    Für die drei ist das Gespräch mit dem Abendblatt bei aller Routine eine Gratwanderung. Auf der einen Seite brauchen Polizei und Justiz die Öffentlichkeit bei der Fahndung. Auf der anderen Seite dürfen sie nicht alles preisgeben. „Dies würde die Ermittlungen gefährden. Wir müssen bei Befragungen erkennen können, ob jemand etwas sagt, was nur der Täter wissen kann“, sagt Mahnke.

    Und dennoch reicht das 90-minütige Gespräch, um zu begreifen: Wenn der Fall am Ende ungelöst bleiben sollte, hat es definitiv nicht an mangelndem Engagement der Ermittler gelegen. Der Aufwand sprengt jede Vorstellungskraft eines Laien, der die Jagd nach Verbrechern in erster Linie aus der ARD-Serie „Tatort“ kennt.

    Auch nach dem Alstermord kursieren die aus Krimis bekannten Bilder von Technikern, die in weißen Schutzanzügen nach Spuren suchen, von Bereitschaftspolizisten, die das Ufer durchkämmen, von Beamten, die Zeugen befragen. Die Bilder senden die für den Rechtsstaat entscheidende Botschaft: Die Polizei tut alles, um eine so schreckliche Tat aufzuklären.

    Und doch zeigen sie – einem Eisberg gleich – nur die Oberfläche der Ermittlungen. Die wesentliche Arbeit findet abseits der Öffentlichkeit statt.

    „Wir haben etwa zahlreiche DVDs mit Videomaterial aus Kameras in Bussen, Bahnen und Bahnhöfen ausgewertet“, sagt Mahnke. „Dabei ging es vor allem um die Frage, ob Victor Elling und seine Freundin verfolgt wurden. Das können wir jetzt fast ausschließen.“ Sein Resümee: „Wenn man bedenkt, dass beide den Tatort spontan statt eines eigentlich geplanten Kinobesuchs aufgesucht haben und dabei nicht verfolgt wurden, dann spricht alles für einen erst an der Kennedybrücke gefassten Tatentschluss. Eine Beziehungstat scheidet praktisch aus.“

    Dies macht die Suche nach einem Motiv ungleich schwieriger. 2017 hat die Polizei 96 Prozent aller Tötungsdelikte aufgeklärt – der Erfolg gelingt oft auch deshalb, weil der Täter aus dem unmittelbaren Umfeld des Opfers kommt. Der schnelle Fahndungserfolg ist wichtig – und lässt zugleich Angehörige oft noch mehr leiden. „Sie müssen nicht nur den Tod eines Familienmitglieds verkraften, sondern auch damit fertigwerden, dass jemand, den sie gut kennen, das angerichtet hat“, sagt Claudia Brockmann.

    Für die Beamten im Fall „Alstermord“ begann dagegen das, was im Polizei-Deutsch gern „Ermittlungen in alle Richtungen“ genannt wird. Über die Ärztekammer schrieb die Polizei 11.000 Hamburger Mediziner an – es war denkbar, dass sich der Täter an seiner Hand verletzt hatte. Beamte glichen die Daten von allen Falschparkern ab, die in den Tagen zuvor oder danach in der Nähe verwarnt wurden – womöglich hatte der Täter ja sein Auto in der Nähe geparkt und einen Strafzettel kassiert.

    Noch aufwendiger waren die Funkzellen-Auswertungen. Die Ermittler checkten Tausende Handy-Besitzer, die zum Zeitpunkt der Tat in das Funknetz im Umfeld des Tatorts eingeloggt waren. Vergebens. „Es kann sein, dass der Täter kein Handy dabeihatte“, sagt Mahnke.

    Insgesamt ging die Polizei fast 5000 Spuren nach – von Strafzetteln über Hinweise zu in irgendeiner Form auffälligen Menschen bis zu möglichen Parallelen zu einem Mord an einem Schüler in Oslo.

    Zeitgleich suchte die Mordkommission mit Flugblättern und Aushängen nach Zeugen, Beamte montierten sogar einen Briefkasten für anonyme Hinweise. Die Obdachlosen, die auf der gegenüberliegenden Seite campieren, konnten oder wollten zur Tat nichts sagen. Vielversprechend schien der Hinweis einer Autofahrerin. Ihr war unmittelbar nach der Tat auf der Kennedybrücke ein Mann vor das Auto gelaufen – nur mit einer Vollbremsung konnte sie den Unfall verhindern. Das nach ihren Angaben angefertigte Phantombild zeigt einen Mann mit südländischem Aussehen, Dreitagebart, 23 bis 25 Jahre alt. Die Skizze gilt als präzise, die Zeugin ist Grafikerin.

    Und doch zeigt gerade das Phantombild das ganze Dilemma der Ermittler. Denn niemand weiß , ob die Frau den Täter oder einfach nur einen besonders eiligen Fußgänger gesehen hat. „Ein solches Bild kann die Ermittlungen auch einengen“, sagt Claudia Brockmann. Denn womöglich hält es einen Zeugen ab, einen Verdächtigen bei der Polizei zu melden, weil der dem Phantombild gar nicht entspricht.

    Ermitteln in alle Richtungen heißt auch Rekonstruktion. Eine Taucherin mit einer Kamera auf der Stirn stürzte sich wieder und wieder an der Stelle in die Alster, in der auch das Mädchen ins Wasser gestoßen wurde. „Wir wollten wissen, ob Viktors Freundin die Flucht des Täters wie von ihr beschrieben überhaupt wahrnehmen konnte oder ob möglicherweise eine schockbedingte Fehlwahrnehmung vorlag. Aber die Kamerabilder zeigten uns deutlich, dass sie die von ihr beschriebene Flucht des Täters wirklich gesehen haben kann“, sagt Mahnke. Für die Taucherin waren die Dreharbeiten schmerzhaft – sie verletzte sich.

    Doch damit nicht genug. In der Kfz-Halle des Polizeipräsidiums bauten Polizisten den Tatort inklusive Treppen exakt nach, um die Tat mithilfe der Gerichtsmediziner – ungestört von der Öffentlichkeit – wieder und wieder nachzuspielen. „Wir haben jetzt eine präzise Vorstellung vom Tatablauf und wissen sogar, in welcher Reihenfolge der Täter dem Opfer die Stiche beigebracht hat“, sagt Mahnke.

    Waren dennoch alle Anstrengungen vergebens? Nein, sagt Alexandra Klein. Jedes Detail könne am Ende das letzte fehlende Puzzleteil sein. Wie die Handydaten, die die Polizei gesichert hat.

    Und die Spur zum sogenannten Islamischen Staat, die bis zur Trump-Regierung in den Staaten Wellen schlug? Das Sprachrohr Amaq der Terrororganisation meldete am 30. Oktober, ein IS-Soldat habe den Mord verübt. Bundesanwaltschaft und Staatsschutz schalteten sich ein. Doch inzwischen sind die Experten ziemlich sicher, dass der IS die Tat nur für seinen Propagandafeldzug für sich reklamierte.

    „Wer im Namen der IS mordet, versucht möglichst viele Menschen in der Öffentlichkeit in den Tod zu reißen. Warum sollte ein solcher Täter das Mädchen verschonen?“, sagt Mahnke. Zudem bekenne sich der IS normalerweise unmittelbar nach einem Anschlag – und nicht erst zwei Wochen später.

    Und der sogenannte Messerstecher von Barmbek, der im Juli 2017 im religiösen Wahn einen Menschen erstach und sechs weitere verletzte? Das Oberlandesgericht verurteilte Ahmad A. zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Hat er zuvor auch Victor Elling getötet? Mahnke schüttelt den Kopf: „Der Täter in Barmbek rannte am helllichten Tag mit einem Messer durch eine belebte Straße. Victor starb im Zwielicht an der Alster.“ Alexandra Klein ist sich da nicht so sicher: „Es gibt sehr wohl Parallelen.“ Mahnke findet solche Diskussionen wichtig: „Es ist gut, wenn wir auch mal streiten. Das sorgt für Denkanstöße.“

    Für die Ermittler wächst inzwischen die Wahrscheinlichkeit, dass ein psychisch gestörter Mann – etwa mit einer paranoiden Schizophrenie – die Tat verübt haben könnte. „Es ist möglich, dass der Täter unter einer Art inneren Auftrags gehandelt hat. Vielleicht hat ihm eine innere Stimme gesagt: Du musst jetzt diesen jungen Mann töten“, sagt Kriminalpsychologin Claudia Brockmann. Brockmann und Mahnke sind sich allerdings einig, dass ein Wahn jedenfalls nicht die operativen Fähigkeiten des Täters beeinträchtig hat. Dazu war das Vorgehen zu kontrolliert.

    Nur: Wie soll man einen solchen geistesgestörten Täter jemals finden? Die Ermittler gehen jetzt – Novum in der Hamburger Kriminalgeschichte – einen ungewöhnlichen Weg. Ein forensisch erfahrener Psychiater erstellt derzeit anhand der Ermittlungsakte ein Gutachten mit einem möglichen Krankheitsbild. Dabei spielt auch eine Rolle, dass der Täter sehr wahrscheinlich weder im Affekt noch im Blutrausch gehandelt hat. „Wir stehen dort aber erst ganz am Anfang, diese Vorgehensweise ist jeder Beziehung extrem komplex“, sagt Mahnke.

    Aber selbst wenn es der Polizei gelänge, eine Art psychiatrisches Profil des Täters in der medizinischen Fachpresse zu veröffentlichen, bliebe das Problem der ärztlichen Schweigepflicht. „Wenn aber eine fortbestehende Gefährlichkeit des Täters bestünde, dürfte sich ein Mediziner, der erkennt, dass sein Patient getötet haben könnte, an die Polizei oder die Staatsanwaltschaft wenden. Der Arzt könnte sich auf einen rechtfertigenden Notstand berufen und müsste keine Strafverfolgung fürchten“, sagt Oberstaatsanwalt Mahnke.

    Womöglich liefert ein ganz profanes Detail am Ende den entscheidenden Hinweis. Der Täter trug bei der Tat nur einen braunen Pullover, keine Jacke – ungewöhnlich an einem späten Oktoberabend bei nur neun Grad. „Vielleicht erinnert sich jemand an einen jungen Mann, dem Kälte nichts ausmachte“, hofft Alexandra Klein.

    Präsident Macron dankte der Mutter für eine neue Hymne

    „Es kommt häufiger vor, als man denkt, dass sich Zeugen noch Jahre später melden“, sagt ihre Kollegin Claudia Brockmann. Dies kann einen ganz einfachen Grund haben. „Auch wenn der Fall schon groß in den Medien war, kann es durchaus sein, dass ein wichtiger Zeuge erst durch diesen Abendblatt-Bericht seine Beobachtung mit der Tat in einen Zusammenhang setzt.“ Denkbar sei auch, dass der Zeuge nun aus Scham schweige, weil er sich unmittelbar nach der Tat nicht dazu durchringen konnte, sich bei der Polizei zu melden. Juristisch hätte eine späte Aussage keine Konsequenzen. „Niemand muss ein Verfahren wegen unterlassener Hilfeleistung fürchten, da der Tod des Jungen selbst bei schnellstem Eingreifen nicht zu verhindern gewesen wäre“, sagt Mahnke.

    Dass die Sendung „Aktenzeichen XY“ über den Alstermord keine heiße Spur lieferte, begreift keiner der drei als Rückschlag. Psychologin Brockmann ist sicher, dass der öffentliche Fahndungsdruck den Täter beschäftigen wird: „Der weiß jetzt, dass er sich keine Hoffnungen machen darf, dass wir den Fall zu den Akten legen.“ Und womöglich macht er genau deshalb einen entscheidenden Fehler.

    Bleibt eine sehr persönliche Frage: Wie hält man das alles aus? „Wir sind Profis, halten Distanz“, sagt Mahnke, der dennoch zugibt, dass der Fall ihn auch privat beschäftigt – sein Sohn ist im selben Alter wie Victor Elling. Alexandra Klein sagt, dass sie sich ständig frage, ob ihr Team ein wichtiges Detail übersehen haben könnte. Auch deshalb zieht sie Kollegen hinzu, die den Fall nicht in allen Facetten kennen. Claudia Brockmann kann als Psychologin das Leid der Mutter besonders gut nachvollziehen: „Ein Kind zu verlieren ist das Härteste, was einem passieren kann. Und dann nicht zu wissen, wer einem das angetan hat, macht es noch schlimmer.“ Sie sagt: „Das Sprichwort ‚Die Zeit heilt alle Wunden‘ ist hier völlig falsch am Platz. Wie soll diese Wunde jemals verheilen?“

    Was tun mit dem Schmerz?

    Hass, sagt Véronique Elling, sei keine Lösung. In ihrer Trauer singt sie mehr denn je von der Liebe, sie hat sogar einen neuen Text für die französische Nationalhymne verfasst. „Zu den Waffen, Bürger, formt eure Truppen, marschieren wir, marschieren wir! Unreines Blut, tränke unsere Furchen“, diese so brachiale Marseillaise mochte sie beim Empfang des Generalkonsuls am französischen Nationalfeiertag nicht mehr singen: „Ich habe erlebt, was Gewalt anrichten kann.“ Im Auftrag des Konsuls schrieb Véronique Elling eine neue Version. Die Marseillaise de l’espoir, die Hymne der Hoffnung. Im Refrain heißt es deutsch übersetzt: „Unterwegs Bürger, für das Europa von morgen, lass uns weitergehen, sass uns singen. Möge der Friede unsere Wege erleuchten.“

    Stolz zeigt sie einen Brief von Emmanuel Macron. Der Präsident ist voll des Lobes: „Sie ehren unsere Republik. Sie haben meinen höchsten Respekt und meine tiefste Achtung.“

    Am 16. Oktober, dem zweiten Todestag, wird Véronique Elling ihren Victor mit ihrem Lebensgefährten und ihrer Tochter auf dem Ohlsdorfer Friedhof besuchen. Viel näher ist sie ihm indes an Orten, mit denen sie gemeinsame Erinnerungen verbinden. Am Strand von Montpellier, auf Fehmarn und ganz besonders in seinem Zimmer und am Klavier, an dem er Tag für Tag mit so viel Hingabe spielte.

    Victors kleine Schwester schaut jetzt, wo die Tage wieder kürzer werden, oft abends in den Sternenhimmel. Und dann sagt sie: „Irgendwo da oben lebt mein Bruder.“

    Wer Hinweise zum Fall Victor Elling geben kann, kann sich an die Polizei Hamburg wenden (Tel. 040/42 86-56789). Hinweise sind auch anonym möglich. Die Staatsanwaltschaft hat eine Belohnung von 5000 Euro ausgesetzt.