Hamburg. Friedhofsgärtner Kurt-Werner Wichmann tötete in Norddeutschland fünf Menschen – und es könnten sogar noch viel mehr gewesen sein.

Eine Frau verschwindet, ganz plötzlich, ohne Vorwarnung, ohne Erklärung, ohne Abschied. Was ist geschehen? Sehr wahrscheinlich ist die 41-Jährige Opfer eines Mordes geworden. Davon sind die Angehörigen der 41-Jährigen überzeugt. Doch Ermittlungen stocken, der Fall wird zum Cold Case. Erst mehr als ein Vierteljahrhundert später wird das Verbrechen aufgeklärt. Es ist ein Mord, der von einem Mann begangen wurde, der noch mehrere weitere Menschen auf dem Gewissen hat. Einem eiskalten Täter.

„Es ist ein wirklich außergewöhnlicher Mörder“, sagt Rechtsmediziner Klaus Püschel in „Dem Tod auf der Spur“, dem Crime-Podcast des Hamburger Abendblattes mit Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher. „Wir können sicher davon ausgehen, dass der Mann fünf Menschen kaltblütig getötet hat. Aber es spricht einiges dafür, dass dem Mann, der als ,Wolf im Schafspelz‘ daherkam, sehr viel mehr Menschen zum Opfer fielen. Seine blutige Spur könnte sich durch ganz Deutschland ziehen, vor allem aber durch Norddeutschland. Gerade in letzter Zeit wurden dafür zahlreiche Hinweise zusammengetragen. Vielleicht handelt es sich um eine der größten Mordserien, die sich je in unserem Land ereignet haben.“

True Crime Hamburg: Es dauert 28 Jahre, bis das Schicksal der Vermissten geklärt wird

Im Fall der Frau, die im August 1989 plötzlich vermisst wird, scheint es, als habe sie sich in Luft aufgelöst. Zurück bleiben ihre Angehörigen, die sich fortan mit Fragen quälen, auf die sie keine Antworten bekommen. Und so geht das immer weiter. Die Ungewissheit bleibt, über Tage, Monate und schließlich Jahre. Erst 28 Jahre später wird ihr Schicksal geklärt. Nun ist es eindeutig, dass sie bereits kurz nach ihrem Verschwinden getötet wurde.

Kurt-Werner Wichmann ist der Mörder der Unternehmergattin Birgit Meier.
Kurt-Werner Wichmann ist der Mörder der Unternehmergattin Birgit Meier. © Landeszeitung

Die Vermisste ist Birgit Meier, Schwester von Wolfgang Sielaff, einem hochrangigen, erfahrenen, erfolgreichen Polizisten, der es bis zum Leiter des Hamburger Landeskriminalamts gebracht hat und der schließlich auch Vizepräsident der Polizei Hamburg wurde. Ihm ist von Beginn an klar, dass seine Schwester nicht einfach so verschwunden sein kann. Allerdings kann auch Sielaff als einflussreicher Polizist über Jahre nicht erreichen, dass die Ermittlungen über den Verbleib seiner Schwester mit allen möglichen Mitteln forciert werden. „Dazu muss man Folgendes wissen“, erklärt Püschel. „Grundsätzlich darf jeder Erwachsene selbstständig über seinen Aufenthaltsort bestimmen, also beispielsweise ins Ausland gehen.“

Freiwillig verschwunden – oder das Opfer eines Mörders?

„Aber es könnte doch sein, dass dieser Mensch nicht freiwillig verschwunden ist“, gibt Mittelacher zu bedenken. „Man muss auch damit rechnen, dass es sich um ein Tötungsdelikt handelt und der Leichnam vom Mörder verborgen wurde.“

Eines der letzten Bilder von Birgit Meier, bevor sie im August 1989 spurlos verschwand.
Eines der letzten Bilder von Birgit Meier, bevor sie im August 1989 spurlos verschwand. © Landeszeitung

Später, als die Polizei im Fall Birgit Meier dann doch endlich ernsthaft ein Tötungsdelikt in Betracht zieht, haben die Ermittler in erster Linie den Ehegatten in Verdacht. Hintergrund für diese Vermutung ist, dass das Paar sich nicht lange vor dem Verschwinden der Frau getrennt hatte. Sie sollte als eine Art Abfindung von ihrem Mann eine halbe Million Mark erhalten. Die Polizei sieht in diesem Betrag ein mögliches Motiv für den Ehemann, seine Frau beseitigen zu wollen.

Nach vier Morden wird die Göhrde schaudernd „Totenwald“ genannt

Dabei gab es schon früh einen Verdacht, wer wirklich hinter dem Verschwinden der Frau stecken könnte. Der Ehemann weiß, dass es einen Gärtner gab, den Birgit Meier im Sommer, bevor sich ihre Spur verlor, auf einer Party kennengelernt hatte. Dem Verdacht, dass der Gärtner hinter dem Verschwinden der 41-Jährigen stecken könnte, wird allerdings von der zuständigen Polizei in Lüneburg nicht konsequent genug nachgegangen.

Der Crime-Podcast „Dem Tod auf der Spur“ mit Rechtsmediziner Püschel und Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher
Der Crime-Podcast „Dem Tod auf der Spur“ mit Rechtsmediziner Püschel und Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher © Hamburger Abendblatt | Hamburger Abendblatt

Die Ermittler richten ihren Fokus auf andere Verbrechen, die zu der Zeit die Region erschütterten. Es geht um die Göhrde, ein weitläufiges bewaldetes Areal im Raum Lüneburg, das nun schaudernd „Totenwald“ genannt wird. Denn innerhalb weniger Wochen sind in diesem Wald zwei Paare getötet worden. Der Verdacht, dass hinter den beiden Doppelmorden derselbe Täter steckt, liegt nahe. Wird der Mörder erneut grausam zuschlagen? Wann? Wie bald?

Bei einem Verdächtigen wird ein geheimer Raum entdeckt

Und hat er vielleicht auch Birgit Meier auf dem Gewissen? Der Gärtner, den der Ehemann der Vermissten als Verdächtigen ins Gespräch gebracht hatte, ist ein vielfach vorbestrafter Mann. Er heißt Kurt-Werner Wichmann und wurde bereits unter anderem verurteilt, weil er eine Anhalterin verschleppt, vergewaltigt und zu töten versucht hatte. Doch dem Verdacht, dass Kurt-Werner Wichmann für das Verschwinden von Birgit Meier verantwortlich sein könnte, wird von der Polizei nicht intensiv nachgegangen. Der Fall verschwindet vom Radar der Ermittler.

So bleibt es über Jahre, bis 1993 Ermittlungen gegen Wichmann wegen Mordverdachts wieder aufgenommen werden. Eine Hausdurchsuchung bei dem Verdächtigen wird angeordnet. „Dabei wird im Heim von Wichmann ein geheimer Raum entdeckt“, berichtet Mittelacher, „in dem unter anderem mehrere Schusswaffen, Munition, zwei Schalldämpfer und Handschellen lagern. Und an einer Handfessel finden sich Spuren, die wie getrocknetes Blut aussehen. Das ist doch alles hoch verdächtig!“ Dies und weitere Spuren führen dazu, dass von der Polizei eine Ermittlungsgruppe eingerichtet wird.

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Schusswaffen, Handfesseln, Schalldämpfer: mehrere verdächtige Funde

Zu der Zeit ist Wichmann auf der Flucht. In Baden-Württemberg verursacht er einen Verkehrsunfall und wird festgenommen, weil die Polizei in seinem Wagen Waffen findet. Zehn Tage später erhängt sich der Gefangene in der Untersuchungshaft an seinem Gürtel. Daraufhin werden die Ermittlungen eingestellt – getreu dem in Deutschland geltenden Grundsatz: Gegen Tote wird nicht ermittelt.

„Eine ganz neue Dynamik wird in Bezug auf den Vermisstenfall Birgit Meier allerdings im Jahr 2002 entwickelt“, erzählt Püschel. 2002 ist das Jahr, in dem Wolfgang Sielaff, der damalige Vizepräsident der Hamburger Polizei, in Pension geht. Jetzt nimmt er sich den Fall seiner Schwester systematisch vor und holt sich außerdem Unterstützung von Spezialisten, die er aus seiner langjährigen Tätigkeit bei der Kriminalpolizei kennt. Zu dem Team gehören Kriminalpsychologen, Kriminalisten, ein ehemaliger Staatsanwalt und ein Rechtsanwalt. „Außerdem war ich von Anfang an in diesem Team dabei“, berichtet Püschel.

Der Mörder ist der Gärtner: DNA-Analyse beweist es

Sielaff und Reinhard Chedor, ebenfalls ein hochrangiger ehemaliger Ermittler, durchforsten noch einmal das „geheime Zimmer“ in dem früheren Haus des Friedhofsgärtners. Dort entdecken sie zwei Videokassetten mit bemerkenswertem Inhalt: Sie zeigen zwei „Aktenzeichen XY … ungelöst-Folgen“ – die eine über den Fall Birgit Meier, die andere über die Doppelmorde aus der Göhrde.

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„Da stellt sich die Frage, warum Wichmann ausgerechnet diese beiden Folgen aufgezeichnet und aufbewahrt hat?“, überlegt Mittelacher. „Doch sicher, weil sie für ihn von besonderem Interesse sind! Weil er für die Verbrechen verantwortlich ist?“ Wenig später gelingt es dem Team um Sielaff, den zuständigen Lüneburger Polizeipräsidenten zu überzeugen, dass doch noch mal Ermittlungen aufgenommen werden.

Die Ermittlungsgruppe „Iterum“, frei übersetzt „abermals“, wird gegründet. Und nun wird eine wichtige Untersuchung angestellt: DNA-Analysen des Handschellenpaars aus Wichmanns Geheimzimmer lassen sich eindeutig der seit Jahren vermissten Birgit Meier zuzuordnen. Das ist der Beweis, dass sie in der Hand von Wichmann war. Nun wird auf seinem Grundstück nach dem Leichnam der 41-Jährigen gesucht. Zunächst vergeblich.

Unter einer Garage gibt es eine geheime Grube. Ist das der Durchbruch?

Doch dann, mehr als 28 Jahre nach dem Verschwinden von Birgit Meier, gibt es eine neue Entwicklung in dem Fall. Das Paar, das Wichmanns früheres Haus gekauft hatte, entdeckt eine geheime Grube unter der Garage. Diese wird am 29. September 2017 vom Team um Sielaff genau untersucht. Und man findet menschliche Knochen. Ist das der Durchbruch?

„In Abstimmung mit der Lüneburger Polizei habe ich nun die Leitung der Grabung übernommen“, erzählt Püschel. „Schließlich finden wir einen Körper, der kopfüber und in einer gedrehten Hockposition vergraben ist.“ Der gesamte Leichnam wird behutsam freigelegt. Eine Identifizierung nimmt Püschel anhand des Zahnstatus vor und erhält die Bestätigung: Es ist die Vermisste!

„Dieses Ergebnis habe ich dem Bruder und dem Ehemann von Birgit Meier mitgeteilt“, erinnert sich Püschel. „Beide Männer waren tief ergriffen. Es flossen Tränen der Betroffenheit und Erleichterung gleichermaßen.“ „Die Familie hat jahrelang darunter gelitten, dass wir nicht wussten, wo meine Schwester ist. Wir konnten nicht damit abschließen“, sagte Wolfgang Sielaff später in einem Interview. „Wir konnten nicht trauern, wir hatten kein Grab. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, wo es möglich wurde zu trauern.“ Später wird festgestellt, dass das Opfer durch einen Kopfschuss getötet worden war. Ein Cold Case war aufgeklärt.

Vier weitere Morde werden aufgeklärt. Und es gibt eine ganz heiße Spur

„Aber die Ermittlungen gingen noch weiter“, sagt Mittelacher. „Ihr habt doch noch hochinteressante Ermittlungsansätze in Bezug auf die Göhrde-Morde, also an den zwei erschossenen Paaren im Wald, zusammengetragen.“ An den Sitzen von Autos, die im Zusammenhang mit den Morden an den vier Menschen benutzt wurden, werden Spuren festgestellt, die identisch sind mit der DNA von Kurt-Werner Wichmann. Der Friedhofsgärtner ist damit zumindest als fünffacher Mörder enttarnt: der von Birgit Meier und von den Toten aus der Göhrde.

Nun fängt die Polizei an zu untersuchen, ob Wichmann auch mit vielen weiteren Verbrechen, die in jener Zeit im Umkreis von etwa 80 Kilometern um Lüneburg herum geschahen, in Verbindung steht. Insgesamt sind es 24 ungeklärte Mordfälle aus der Region, die in das Tatmuster des Mannes passen. Für weitere Fälle speziell aus dem Raum Cuxhaven könnte der Serienmörder ebenfalls verantwortlich sein. „In der Region waren in den 1980er-Jahren mehrere junge Frauen spurlos verschwunden“, erzählt Püschel. „Sehr wahrscheinlich sind sie getötet und ihre Leichname irgendwo versteckt worden. Es gibt eben mehrere vergleichbare Fälle. Der Ehrgeiz ist, diese endlich nach Jahrzehnten jetzt aufzuklären. Und es gibt eine heiße Spur.“