Hamburg. Der Fall erschütterte Hamburg: 2016 starb Victor Elling bei einer Messerattacke. Am Dienstag wäre er 20 Jahre alt geworden.
Manchmal ist sie mitten in der Nacht aufgestanden, hat sich an den Schreibtisch gesetzt, um Verse, Melodien, die ihr gerade eingefallen waren, zu notieren. „Ich hatte Angst, sie würden mir wieder entfallen“, sagt Véronique Elling. Die Lieder seien in ihrem Kopf gewesen, sie hätten nur darauf gewartet, aufgeschrieben zu werden.
Am morgigen Dienstag erscheint das neue Werk der in Hamburg lebenden französischen Sängerin. Nun gehört der Satz „Dies ist mein persönlichstes Album“ zu den Sprachstanzen der Musikbranche, tausendfach in PR-Texten durchdekliniert. Doch auf „Opus1“ trifft es zu, persönlicher, intimer kann ein Album nicht sein. Gewidmet ist es ihrem Sohn, der am späten Abend des 16. Oktober 2016 am Alsterufer unter der Kennedybrücke von einem noch immer unbekannten Täter hinterrücks erstochen wurde. Bundesweit sorgte der Alstermord für Entsetzen.
Ein Lied heißt „der zärtliche Junge“
Das Datum der Albumveröffentlichung ist kein Zufall. Am 26. Mai 2000 wurde Victor geboren, nun würde er seinen 20. Geburtstag feiern. Wahrscheinlich würde er jetzt studieren. Vielleicht in Richtung Literatur, ein begeisterter Leser war er immer, vor allem von Stefan Zweig, seinem Lieblingsautor. „Ich unterrichte seit 20 Jahren. Aber ich hatte noch nie einen Schüler mit einem derartigen Literaturverständnis“, hat einer seiner Lehrer einmal gesagt. Oder Musik, das Talent hatte er von seiner Mutter geerbt. Die Mondscheinsonate von Beethoven hat Victor besonders gern am Klavier im Wohnzimmer gespielt.
„Le garçon tendre“, der zärtliche Junge, heißt das erste Lied des Albums. „Kleiner Junge, so zärtlich und so strahlend. Mit dem Herzen voller Lieder, voller Geigen. Deine Augen ruhen auf dem Horizont. Ein wenig schüchtern. Und etwas still. Doch lächelst du so fröhlich“, singt Véronique Elling über ihren Sohn. „Victor war der friedlichste Mensch, den man sich überhaupt nur vorstellen kann“, sagt sie. Einer, der nie Streit suchte, sondern schlichtete.
Victors Mutter: „Ich musste erst ankommen in meinen Leben danach“
Ihre Trauer beschreibt sie im Lied „Des ponts sur la lune“ (Brücken zum Mond): „Manchmal ist mir mitten im Sommer kalt. Manchmal erfasst mich ein fiebriges Beben. Manchmal möchte ich nach vorne blicken. Manchmal fürchte ich, dein Gesicht zu vergessen.“
Bereits ein halbes Jahr nach dem Tod ihres Sohnes hatte Véronique Elling ein Programm für Victor zusammengestellt. „Dire Adieu“ (Sag Lebewohl). Als sie die Chansons voller Trauer im Levantehaus sang, flossen im Publikum die Tränen. Auch die Sängerin war so ergriffen, dass sie mit diesem Liederzyklus nicht mehr auftreten mochte. „Es war zu früh“, sagt sie heute: „Ich musste erst ankommen in meinen Leben danach.“
Album wird per Livestream vorgestellt
Nun durchkreuzt Corona ihr geplantes Konzert zur Vorstellung ihres neuen Albums. Es wäre ein Heimspiel gewesen, im Tonali-Saal im Grindelviertel, wo sie in den vergangenen Monaten so oft aufgetreten ist – etwa mit einem Programm mit Liedern von Édith Piaf. Stattdessen wird sie nun mit ihrer Band über das Internet per Livestream konzertieren. „Mir wird das Publikum, die direkte Ansprache fehlen, ich bin ein Bühnenmensch“, sagt sie. Aber anders seien Livekonzerte derzeit nicht möglich.
Wie die gesamte Branche leidet auch Véronique Elling unter den Corona-Einschränkungen. Alle Auftritte sind abgesagt. Und selbst wenn Konzerte wieder möglich sein sollten, können sie sich in Sälen mit gerade 100 Zuschauern wie dem Tonali wirtschaftlich durch das Abstandsgebot kaum rechnen: „Wie soll das gehen mit 30 verkauften Karten?“ Immerhin kann sie über Online-Plattformen als Dozentin weiter ihre Gesangsschüler unterrichten.
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Die Trauer kommt in Wellen
Doch was sind schon wirtschaftliche Sorgen gegen den Verlust des eigenen Kindes. „Die Trauer kommt noch immer in Wellen“, sagt Véronique Elling. Ihr Album spiegelt dies auf wundersame Weise. Die schlechten Tage. Und die guten, etwa in dem Lied „Tout ira bien“ (Alles wird gut werden), das sie für ihre kleine Tochter, geboren 2012, geschrieben hat. Die Geschwister waren trotz – oder vielleicht gerade wegen – des großen Altersunterschieds ein Herz und eine Seele. „Er war ihr großer Held, sie seine kleine Prinzessin“, sagt die Mutter.
Vieles spricht dafür, dass der Täter psychisch gestört ist
„Opus1“ ist, man darf das sagen, ein Meisterwerk, mit berührenden Texten, liebevoll arrangiert. Natürlich kann man es sich über die gängigen Plattformen im Internet herunterladen. Doch viel mehr lohnt der Kauf der CD. Das Booklet hat die Berliner Künstlerin Eva Schreiber-Löwenfrerr gestaltet. Auch sie hat ihr Kind verloren, ihre Illustrationen fügen sich perfekt zu den Liedtexten.
Noch immer hofft Véronique Elling, dass der Täter eines Tages gefasst wird. Nach wie vor steht sie in Kontakt zu den ermittelnden Beamten, die den Fall seit Oktober 2016 nicht zu den Akten gelegt haben. Nach der Tat hatte die Polizei über die Ärztekammer 11.000 Hamburger Mediziner angeschrieben – es war denkbar, dass sich der Täter an seiner Hand verletzt hatte. Die Ermittler checkten Tausende Handybesitzer, die zum Zeitpunkt der Tat in das Funknetz im Umfeld des Tatorts eingeloggt waren.
In der Kfz-Halle des Polizeipräsidiums bauten Polizisten den Tatort inklusive Treppen exakt nach, um die Tat mithilfe der Gerichtsmediziner – ungestört von der Öffentlichkeit – wieder und wieder zu rekonstruieren. 5000 Spuren verfolgten die Beamten, alle führten ins Nichts. Vieles spricht aus Sicht der Ermittler inzwischen dafür, dass ein psychisch gestörter Täter – etwa mit einer paranoiden Schizophrenie – das Verbrechen verübt hat.
„Ich hatte Victor beim Schreiben der Lieder immer vor Augen“, sagt Véronique Elling. Auf der letzten Seite des Booklets steht der schlichte Satz: „Pour Victor, dans L’amour Éternel.“ Für Victor, in ewiger Liebe.
Die Suche nach dem Alster-Mörder
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