Hamburg. Schütze gab vor, die Kugel habe sich versehentlich gelöst. Dabei war die Tat „wie eine Hinrichtung“. Was der Rechtsmediziner sagt.
Es war ein Schuss aus kurzer Entfernung. Und er kam von hinten. Das Opfer hatte keine Chance zu entkommen, sich zu wehren oder auszuweichen. Der Mann war tödlich getroffen, umgebracht, während er seiner Pflicht nachging.
Der Mann, der getötet wurde, war ein Polizist. Dieses Verbrechen liegt mehr als ein Vierteljahrhundert zurück – doch wirkt bis heute nach. „In den mehreren Jahrzehnten, die ich mittlerweile in meinem Fach tätig bin, gibt es besondere Fälle, an die ich mich sehr genau erinnere“, sagt Rechtsmediziner Klaus Püschel in „Dem Tod auf der Spur“, dem Crime-Podcast des Hamburger Abendblatts. „Einige von ihnen wie der Mord an dem Polizisten stechen da insbesondere hervor.“
„Auch mir ist dieses Geschehen sehr intensiv in Erinnerung“, bestätigt Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher. „Ich habe damals den Prozess gegen den später wegen Mordes angeklagten 66 Jahre alten Mann verfolgt. Ebenso sind mir das Leid und die Trauer der Angehörigen des Opfers sehr eindrücklich in Erinnerung.“
True Crime Hamburg: Täter spricht von „entsetzlichem Unglücksfall“
Polizist Martin T. (Name geändert) wurde 34 Jahre alt. Er wurde getötet, als er am 16. August 1996 bei einer Verkehrskontrolle in Hamburg-Bergedorf einen Autofahrer überprüfen wollte. Täter war ein damals 66 Jahre alter Mann. Dieser Hamburger behauptete später im Prozess, der Schuss aus seiner Waffe habe sich versehentlich gelöst. „Das Ganze war ein entsetzlicher Unglücksfall“, sagte Karl L. (Name geändert) zum Auftakt des Verfahrens, in dem ihm Mord vorgeworfen wurde. Doch diese Aussage war eine Schutzbehauptung, wie von der Rechtsmedizin eindeutig nachgewiesen werden konnte.
Einer, der an dem Prozess im Jahr 1996 maßgelblich als Richter beteiligt war, ist Joachim Bülter, mittlerweile pensionierter Richter – und Gast im Podcast. „Der Polizist war vor der Überprüfung wahrscheinlich deshalb auf das Auto aufmerksam geworden, weil das Bremslicht defekt war“, erklärt Bülter. „Deshalb wollte er den Fahrer überprüfen. Schließlich folgte der Mann der Anweisung und war scheinbar willig, dem Beamten alle Papiere zu zeigen.“
Der Polizist konnte nicht wissen, dass er in Lebensgefahr war
Doch die Bereitschaft war nur vorgetäuscht. Tatsächlich fuhr der Hamburger ein gestohlenes Auto und war weder im Besitz eines gültigen Führerscheins noch von ordentlichen Personalpapieren. Das wäre bei einer Überprüfung sicher herausgekommen, und seine wahre Identität wäre aufgeflogen.
Das war der Grund, warum die Geschehnisse sich zu einem tödlichen Drama entwickelt haben. Das Fatale ist: Der Polizist konnte nicht wissen, dass er in Lebensgefahr war. Denn das Gespräch, das er mit dem Autofahrer führte, war äußerlich ruhig. Bis es plötzlich eskalierte.
Schuss auf Polizisten: „Es wurde zu einem kaltblütigen Mord“
„Es wurde zu einem kaltblütigen Mord“, erzählt Bülter. „Während der Polizeibeamte Martin T. noch auf dem Beifahrersitz des Polizeiwagens saß und damit beschäftigt war, über Funk die Personalien von Karl L. zu überprüfen, trat der 66-Jährige unbemerkt von hinten an ihn heran. Der Polizist sah nicht, dass der Mann mit ausgestrecktem Arm auf ihn zielte. Er hatte keine Chance, sich zu verteidigen. Wir Juristen nennen das: Er war arg- und wehrlos.“
Bei dem Verbrechen gab es mehrere Tatzeugen, also Autofahrer, einen Radfahrer und eine Frau, die zu Fuß unterwegs gewesen war. Sie alarmierten Rettungskräfte und die Polizei, und einer der Zeugen verfolgte den Täter sogar und konnte den Beamten mitteilen, wo der Mann sich versteckt hatte, sodass der Schütze schließlich festgenommen werden konnte.
Bei der Festnahme wollte der Täter seine Waffe nicht fallen lassen
Eine Festnahme mit Hindernissen. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte der Verdächtige noch seine Schusswaffe dabei. Weil er sie auch auf wiederholte Aufforderung nicht fallen ließ oder den Beamten übergab, gab einer der Polizeibeamten einen gezielten Schuss auf die Beine des Mannes ab, um ihn zu stoppen. Die Kugel traf den 66-Jährigen in Höhe des linken Knies. Nun wurde der Verdächtige überwältigt und kam in Untersuchungshaft und später vor Gericht.
„Ich erinnere mich insbesondere an den Auftakt des Verfahrens“, erzählt Mittelacher. „Sechs Hinterbliebene des getöteten Polizisten waren in den Gerichtssaal gekommen, die Ehefrau von Martin T. sowie weitere Angehörige. Trauer und Erschöpfung stand in den Gesichtern der Familie. Und ich kann mir vorstellen, dass sie vor allem eine Frage quälte: Warum nur musste mein Mann sterben, mein Bruder, mein Schwager? Wie kann jemand einen Menschen töten, obwohl der doch nur seinen Job macht?“
Im Prozess lautet der Vorwurf gegen den Angeklagten auf Mord
„Wir hören öfter, dass Angehörige beziehungsweise Hinterbliebene vor allem die Frage nach dem Warum beschäftigt“, bestätigt Jurist Bülter. Und Püschel sagt: „Und wir als Rechtsmediziner werden häufig gefragt: Musste mein Mann, mein Bruder, meine Tochter leiden? Ist es schnell gegangen? War der Tod quälend?“
Im Prozess wurde dem Angeklagten Mord vorgeworfen. Laut Staatsanwaltschaft waren gleich zwei sogenannte Mordmerkmale verwirklicht, nämlich Heimtücke und zur Verdeckung einer Straftat.
Angeklagter räumt die Tat ein, spricht aber von einem Versehen
Der Tenor dessen, was der Angeklagte zu den Vorwürfen sagte, war: Er habe die Tat begangen und müsse die Verantwortung tragen. „Aber ich habe ihn nicht vorsätzlich getötet. Ich wollte ihm die Waffe aushändigen.“ Allerdings sah die Staatsanwaltschaft unter anderem in der Tatsache, dass es ein gestohlenes Auto gab und dass der Mann auch eine Waffe bei sich hatte – ohne die entsprechende Erlaubnis – das Motiv für die Tat. Dazu sagte der Angeklagte: „Ich töte doch keinen Polizisten, nur weil ich ohne Führerschein Auto gefahren bin.“
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Karl L. behauptete, die Pistole habe er rund zwei Jahre zuvor in einem Papierkorb am Flughafen gefunden. Er habe nicht einmal gewusst, dass sie durchgeladen war. Bei der Fahrzeugkontrolle habe er die Waffe dem Polizisten aushändigen wollen. Er sei „sehr aufgeregt“ gewesen. Und Krampfanfälle wegen einer Lungenkrankheit, unter der er seit Jahren leide, hätten ihn gequält. „Die Atemnot wurde immer stärker. Mein ganzer Körper verkrampfte sich. Da hat sich plötzlich ein Schuss gelöst.“ Das könne er sich nur durch eine „weitere Verkrampfung“ erklären.
Rechtsmediziner: Es war ein bewusst abgefeuerter Schuss
„Für mich als Experten und Sachverständigen in dem Prozess gab es keine Erklärung dafür, dass es zu einer krampfartigen Verspannung der Muskulatur gekommen sein soll“, meint dagegen Rechtsmediziner Püschel. „Zwar litt der Angeklagte an einer schweren Lungenerkrankung sowie Asthma, bei dem schon geringe körperliche Belastung zu Atemnot führt. Allerdings ergaben sich aus der Krankenakte des Mannes keinerlei Hinweise auf Krampfanfälle, wie der Rentner sie im Prozess geschildert hatte.“
Vor allem aber sei Asthma ein „Krampf der Bronchialmuskulatur“, und das habe nichts zu tun mit einer Verkrampfung der Skelettmuskulatur. „Ich bin überzeugt“, so Püschel, „dass es sich um einen bewusst abgegebenen Schuss gehandelt haben muss.“
Zeuge sagt: „Ich dachte zuerst, da wird ein Film gedreht“
Auch die Einlassung des Angeklagten, dass ihm die Tat leidtue und dass er doch nicht nur wegen eines nicht vorhandenen Führerscheins einen Polizisten töten würde, muss im Zusammenhang mit der Beweisaufnahme in einem anderen Licht gesehen werden. In der Kleidung des 66-Jährigen hatte man nämlich einen Zettel gefunden, auf dem sehr abfällige Bemerkungen notiert waren, die einen Hass auf Uniformträger vermuten ließen. Ein Zeuge berichtete im Prozess über die eigentliche Tat, die Hand des Schützen sei „ausgerichtet in Richtung Kopf des Opfers“ gewesen. Am Anfang habe er das, was er beobachtet hatte, gar nicht fassen können, so der Zeuge. „Ich dachte zuerst, da wird ein Film gedreht.“
In ihrem Plädoyer forderte die Staatsanwältin später lebenslange Haft wegen Mordes. Außerdem beantragte sie, die „besondere Schwere der Schuld“ festzustellen. Der Angeklagte habe den Mord „heimtückisch und zur Verdeckung einer Straftat“ begangen. Während der Halternachfrage per Funk habe er den Polizisten „hinterrücks bewusst und gezielt aus dem Weg geräumt, als er ihm gefährlich zu werden begann“. Der Mord sei „völlig sinnlos“ gewesen, „weil er in keinem Verhältnis zum Hintergrund steht. Das muss für die Angehörigen besonders bitter sein und sie fassungslos machen“.
Richter in der Urteilsbegründung: „Es war wie eine Hinrichtung“
Auch der Verteidiger erkannte an, dass „die Version des Angeklagten widerlegt ist“. Damit war insbesondere gemeint, dass Karl L. behauptet hatte, der Schuss habe sich versehentlich gelöst, es handele sich um einen Unglücksfall. Allerdings, argumentierte der Verteidiger, sein Mandant habe nicht etwa seine Version vom Unglücksfall erzählt, „um zu täuschen oder die Angehörigen zu verhöhnen“. Er habe vielmehr „die Tat verdrängt“ und wegen ihrer „Abscheulichkeit“ versucht, „sich zu rechtfertigen“.
Das Gerichtsurteil lautete schließlich auf lebenslange Haft wegen Mordes. Der Vorsitzende Richter sagte damals in der Urteilsbegründung: „Der Angeklagte hat großes Unglück über eine junge Familie gebracht. Wir stehen alle fassungslos vor so einem Geschehen.“ Der Angeklagte habe „kaltblütig gehandelt und den Polizisten wie bei einer Hinrichtung getötet“.
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