Hamburg. Inzwischen gibt es 5000 Spuren, doch bis heute weiß niemand, wer der Täter ist – und warum der 16-Jährige sterben musste.

Sein Zimmer ist noch so wie damals. Viele Bücher, das E-Piano, ein Schreibtisch. Véronique Elling hat den Raum, in dem einst ihr Sohn Victor lebte, kaum verändert. Doch es soll kein Museum sein, sagt sie, sondern ein Ort, wo sie sich ihm nahe fühlt. Auch wenn der Junge seit mittlerweile sieben Jahren nicht mehr bei ihr ist. Er wurde damals brutal aus dem Leben gerissen. Victor wurde ermordet. Er war 16 Jahre alt, als er starb.

„Ich bin durch ein sehr, sehr tiefes Loch gegangen“, sagt seine Mutter jetzt bei einem Treffen im Grindelviertel. Sie erzählt von dem unendlichen Schmerz, dem sie ausgesetzt war, von ihrer tiefen Trauer. Die Wunde, die der Tod ihres Sohnes geschlagen habe, sei auch „durch die Art und Weise, wie es passiert ist“ so groß gewesen.

Alster Hamburg: 16-jähriger Victor wird hinterrücks erstochen

Denn Victor wurde in Hamburg hinterrücks erstochen. Er hielt sich mit seiner Freundin an der Alster auf, in der Nähe der Kennedybrücke, als es geschah. Ein junges Paar, das den lauen Abend genoss und auf das Wasser schaute. „Zwei ahnungslose junge Teenager“, sagt seine Mutter.

Gegen 22 Uhr kam plötzlich ein Mann von hinten auf die beiden zu – und stach ohne ein Wort mehrfach mit einem Messer auf den Jugendlichen ein. Victors Freundin wurde von dem Angreifer ins Wasser gestoßen. Die 15-Jährige konnte sich aus eigener Kraft aus der Alster retten. Für Victor aber kam jede Hilfe zu spät. Er erlag wenig später seinen schweren Verletzungen.

Wenn Véronique Elling von jener Zeit erzählt, in der das Schicksal so erbarmungslos zuschlug, klingt es, als sei die Tat erst vor kurzer Zeit verübt worden. Und nicht schon vor sieben Jahren.

Sohn kommt nicht nach Hause, stattdessen steht die Polizei vor der Tür

Die Erinnerung an jene Stunden des 16. Oktobers 2016 ist unverwischt: Es ist der Beginn der Herbstferien. Victor will mit seiner Freundin ins Kino gehen. Véronique Elling erinnert sich, wie gut gelaunt ihr Sohn gewesen ist und wie sehr er sich auf den Abend gefreut hat. Als er nicht wie verabredet vier Stunden später zu Hause ist, beginnen Véronique Elling und ihr Lebensgefährte Henrik Giese, sich Sorgen zu machen.

„Victor war ein unfassbar zuverlässiger junger Mensch“, sagt seine Mutter. „Es passte nicht zu ihm, dass er nicht wenigstens Bescheid sagte.“ Sie sei unruhig geworden. Später hörte sie auf der Treppe Schritte, dann klingelte es. „Mein Herz machte einen Riesen-Hüpfer“, erinnert sich die gebürtige Französin an ihre damaligen Empfindungen. „Ich dachte, er ist zurück.“

Doch es stand nicht ihr Sohn in der Tür, sondern mehrere Polizisten und Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams. Einer der Beamten sagte: „Wir müssen Ihnen eine traurige Mitteilung machen.“ Sie hörte die Worte „gewaltsamer Tod“.

„In dem Moment dachte ich: Das ist unmöglich, dass Victor in etwas verwickelt ist.“ Denn ihr Sohn sei ein Mensch gewesen, der sich von jedem Ärger ferngehalten habe. „Ich hatte die Hoffnung, dass es eine Verwechslung ist.“ Allmählich aber wurde ihr klar, dass es wirklich ihren Sohn getroffen hat. Dass er niemals wiederkommen würde.

Victors Mutter: „Wir hatten bis dahin in einer sehr heilen Welt gelebt“

Ihre damals drei Jahre alte Tochter war bereits im Bett, als das Unfassbare Realität wurde. „Am nächsten Morgen nach dem Aufstehen sah sie auf den ersten Blick, dass die Welt zusammengebrochen war. Sie sah den Schock und den Schmerz in unseren Augen“, erinnert sich die Künstlerin. „Wir hatten bis dahin in einer sehr heilen Welt gelebt.“ Einer Welt, in der plötzlich nichts mehr heil war, sondern zersplittert.

Ihr Verantwortungsgefühl ihrer kleinen Tochter gegenüber, für die sie da sein musste, half, nicht an dem Schicksal zu zerbrechen. „Das Wichtigste war, irgendwie zu überleben“, sagt die 48-Jährige rückblickend. „Bei aller Trauer, allem Schmerz und allem Erschlagensein, für die Tochter da zu sein, mit aller Kraft.“

Nach dem Tod des 16-Jährigen: „Das Wichtigte war, irgendwie zu überleben“

Denn Victors Tod habe natürlich auch seine kleine Schwester in große Trauer gestürzt. Trotz des Altersunterschieds von fast 13 Jahren seien sich die Geschwister sehr nahe gewesen. „Victor war für meine Tochter ein großer Held und sie seine kleine Prinzessin.“ Die kindliche Unbeschwertheit nicht noch weiter zu gefährden, hatte Priorität, trotz all der Trauer und trotz des Schmerzes, der die Familie niederdrückte. Es ging darum, ins Leben zurückzufinden.

Ein Leben, in dem für Véronique Elling neben der Familie schon immer die Musik eine überragende Rolle gespielt hat. Schon in ihrer Kindheit im französischen Montpellier wurde Véronique Elling am Konservatorium unterrichtet. Nach dem Abitur an einem künstlerisch ausgerichteten Gymnasium studierte sie Literatur und Theaterwissenschaften, wechselte dann nach Hamburg an die Schauspielschule.

Ihren Sohn, der am 26. Mai 2000 geboren wurde, benannte sie nach Victor Hugo, dem großen französischen Schriftsteller, den sie so verehrt. Die Beziehung zu Victors Vater zerbrach; mit ihrem neuen Partner, dem Pianisten und Arrangeur Henrik Giese, bekam sie 2012 eine Tochter. Auch beruflich ging es weiter bergauf. Véronique Elling ist als Chansonsängerin, Dozentin, Sprecherin und Regisseurin gefragt. Das Glück schien perfekt, privat und professionell.

Lieder über den Abschied bringen Véronique Elling und Zuschauer zum Weinen

Bis zum verhängnisvollen Abend des 16. Oktobers 2016. Als sie die Nachricht über den Tod ihres Sohnes bekommt und sich ihr Bewusstsein zunächst eine ganze Weile gegen das Begreifen stemmt. „Ich stand extrem unter Schock“, sagt Veronique Elling jetzt. „Man ist außerhalb von Zeit und Raum.“ Überhaupt nur den Alltag zu bewältigen, sei eine unglaubliche Anstrengung gewesen.

Geholfen habe die Musik. „Sie war ein Überlebensanker“, erzählt die Künstlerin. „Nachdem ich die erste Zeit nach Victors Tod unfähig war, etwas in Worte zu fassen, habe ich schließlich angefangen, über die Zeit der Trauer zu schreiben.“ Entstanden sind damals, in Zusammenarbeit mit ihrem Partner, Prosa-Texte, Gedichte und Liedtexte.

„Durch gemeinsames Musizieren und Komponieren konnten wir als Paar durch den Schmerz kommen.“ Sie hat schließlich ein Programm zusammengestellt mit dem Titel „Dire Adieu“. Lebewohl sagen. Als sie die Chansons der Trauer sechs Monate nach Victors Tod öffentlich vorgetragen hat, haben viele Zuschauer geweint. Und auch bei der Sängerin flossen Tränen.

„Es ist ein schleichender Prozess, sich in das Leben zurückzukämpfen“

Es sei ein „schleichender Prozess, sich in das Leben zurückzukämpfen“, sagt Véronique Elling in der Rückschau. „Ein Meilenstein ist, wenn man merkt, man kann an Victor denken, ohne zu zerbrechen.“ Dabei helfen die besonders liebevollen Erinnerungen, die Véronique Elling an ihren Sohn hat. Die Künstlerin erzählt von seiner Warmherzigkeit, seinem Interesse für Philosophie und Geschichte, von seiner Verehrung für das Werk des Schriftstellers Stefan Zweig.

Besonders nahe fühle sie sich ihrem Sohn an Orten, an denen sie intensive gemeinsame Erlebnisse hatten – wie Montpellier, dem Ort ihrer Kindheit und wo heute noch Victors Großeltern leben. Wo sie mit ihm häufiger in den Bergen wandern ging. Insgesamt sei ihr Sohn sportlich gewesen, habe Fußball gespielt, einige Zeit lang Karate und Volleyball betrieben. „Aber dann wurde das Musische für ihn immer wichtiger.“

Mord an Victor: Wo die Erinnerung an den 16-Jährigen am intensivsten ist

Victor habe sehr viel Klavier gespielt, täglich geübt. „Das hat ihm sehr geholfen, sich zu entspannen, die Momente für sich zu genießen. Beethovens ‚Mondscheinsonate‘ hat er besonders geliebt.“ Bis heute, sagt Véronique Elling, könne sie dieses besondere Stück nicht hören, ohne zu weinen. „Die Erinnerung ist nirgendwo intensiver als in der Musik. Meine Ohren hören den Interpreten. Aber mein Herz hört Victor.“

Die zwölf Lieder, die sie damals schrieb und in einer CD zusammenfasste, tragen Titel wie „Le garçon tendre“ (Der sanfte Junge), „Rêves en détresse“ (Erschütternde Träume) oder „Fais-moi signe“ (Gib mir ein Zeichen). Es sind traurige, ans Herz gehende Lieder. „Es ist eine CD der Trauer“, sagt Véronique Elling, „aber auch der Hoffnung, unter anderem darauf, die Erinnerung festhalten zu können.“ Die Musikerin nennt die Lieder „ein Kaleidoskop der Trauer und der Möglichkeiten, einen Menschen über den Tod hinaus zu lieben“. Trauer habe viele Farben, Nuancen, Facetten. „Sie sollten alle ihren Raum bekommen.“

„Ein unschuldiges Kind von hinten anzugreifen: Wer macht so was?“

Trauer braucht diesen Raum. Und Trauer braucht seine Zeit. Bis heute kann Véronique Elling nicht fassen, wie kaltblütig der Täter gegen ihren Sohn vorgegangen ist. „Ein unschuldiges Kind von hinten anzugreifen: Wer macht so was?“, fragt die Künstlerin. „Das ist jenseits jeder Vorstellung, dass ein Mensch einem anderen so etwas antun kann.“

In den ersten zwei Jahren nach dem Verlust ihres Sohnes war Véronique Elling sehr engmaschig in Kontakt mit der Polizei, erzählt die Hamburgerin. „Die machen ihre Arbeit, so gut wie es eben geht. Es wurden sehr viele Ansätze überprüft. Es fehlt aber der entscheidende Punkt, an dem man sagt: Wir haben jemanden, den wir festnehmen können.“ Mittlerweile seien die Abstände, in denen sie dort anruft, größer geworden. „Es hilft nicht, wenn ich die Polizei wöchentlich kontaktiere. Aber bis heute weiß ich, wo ich mich melden kann.“

Mord an der Alster: War Victor ein Zufallsopfer?

Besonders erschwert werden die Ermittlungen dadurch, so Véronique Elling, dass Victor nach Überzeugung der Mordkommission ein Zufallsopfer war. „Er war zur falschen Zeit am falschen Platz“, fasst die Mutter zusammen. Damit sei die Frage, wer der Täter sein könnte, noch schwieriger zu beantworten.

Dass er und seine Freundin an jenem Abend an der Alster sein würden, wusste vorher niemand – noch nicht einmal das junge Paar selbst. Es war ein spontaner Entschluss, nachdem sie ins Kino hatten gehen wollen, sich aber mit dem Film geirrt hatten. Also entschieden sie, sich an die Alster zu setzen, dort auf die Stufen, die an der Außenalster zum Tunnel unter der Kennedybrücke hinabführen. Rätselhaft sei ebenso, was das Motiv des Täters sein könne. Denn ihr Sohn habe mit niemandem Streit gehabt.

Polizei Hamburg ermittelt weiter, Akten werden nicht geschlossen

Die Ermittlungen in dem Verfahren werden jedenfalls unverändert fortgeführt, heißt es aus der Hamburger Staatsanwaltschaft. „Da Mord nicht verjährt, werden die Akten nicht geschlossen, bis die Tat aufgeklärt ist“, sagt eine Sprecherin. „Bislang konnte jedoch kein hinreichender Tatverdacht gegen einen konkreten Beschuldigten begründet werden.“

Staatsanwaltschaft und LKA 41 würden regelmäßig die inzwischen rund 5000 Spurenakten auswerten. Sämtlichen Hinweisen, seien es Zeugenaussagen oder Funkzellentreffer, wurde und wird, sofern sich neue Erkenntnisse ergeben, nachgegangen. Zudem werden fortlaufend Parallelen zu ähnlichen Verfahren geprüft, sowohl bundes- als auch europaweit. Die Staatsanwaltschaft prüfe darüber hinaus immer wieder neue wissenschaftliche Methoden, beispielsweise, um doch noch Fremd-DNA aus sichergestellten Kleidungsstücken zu gewinnen.

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Viele Ansätze, um den Mörder doch noch zu ermitteln

„Ausgewählte Spurenakten werden immer wieder auch von bislang nicht mit dem Verfahren befassten Mitgliedern der Mordkommission überprüft, um einen neuen, unverstellten Blick auf die Tat zu gewährleisten und neue Ermittlungsansätze zu gewinnen“, so die Sprecherin weiter. „Zudem wurden einzelne Spurenakten einem psychiatrischen Sachverständigen vorgelegt, um ein mögliches ,Täterprofil‘ erstellen zu lassen.“

Viele Ansätze also, um möglichst doch noch zu ermitteln, wer der Mörder war. Ihre Hoffnung sei es, erzählt Véronique Elling, dass aufgeklärt werde, wer ihren Sohn getötet hat. „Es ist ein Bedürfnis.“ Sie würde gern wissen, was damals genau passiert ist, wie es zu der Tat gekommen ist. Und das weiß eben bislang allein der Mörder.

Mord an der Alster: „Man darf einem Täter nicht die Macht über unser Leben geben“

Wovon die Musikerin aber ganz fest überzeugt ist: „Man darf einem Täter nicht die Macht über unser Leben geben. Wenn sein Hass und seine Wut die Zärtlichkeit und die Zugewandtheit überschatten würden: Das darf nicht passieren. Das würde Victor auch nicht gerecht.“ Ihr Sohn habe stets Fürsorge für andere empfunden, sei freundlich und zugewandt gewesen. „Das ist es, was von ihm bleiben soll. Ich habe entschieden, dass ich der Zerstörung keinen Raum geben will.“

Diese Botschaft soll auch eine zweite CD vermitteln, die Véronique Elling in Erinnerung an ihren Sohn aufnimmt – und die sich vor allem dem Leben widmen wird. „Ich sehe Brücken, die das Diesseits und das Jenseits verbinden.“ Es gehe darum, der Hoffnung Raum zu geben, Courage zu zeigen, Stellung zu beziehen, „und dass man die Welt mitgestaltet“. Die Musik drücke das aus.

Wo sie den 16. Oktober, den Jahrestag von Victors Tod, verbringen wird? „Das ist dann sein siebter Todestag“, erzählt Véronique Elling. „Man sagt, dass sich die Zellen im Körper alle sieben Jahre erneuern. Es fühlt sich an, als wäre das ein besonderer Jahrestag.“ Sie wird dann in Südfrankreich bei ihren Eltern sein, an einem neuen Bühnenprogramm arbeiten – und vermutlich eine Wanderung in den Bergen unternehmen. „Da war Victor so wahnsinnig gern. Da bin ich ihm ganz nah.“