Kiew. Der Bürgermeister ist am Montag zu einem Überraschungsbesuch in Kiew eingetroffen. Was auf dem Programm steht, wer zur Delegation gehört.

Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher ist am Montagmorgen zu einem Überraschungsbesuch in Kiew eingetroffen. Seine Delegation reiste mit dem Nachtzug an. Auf Tschentschers Programm steht unter anderem ein Treffen mit seinem Amtskollegen, Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko, und dessen Bruder Wladimir.

Mit seinem Besuch will Tschentscher die Beziehungen Hamburgs mit Kiew vertiefen. Seit zwei Jahren unterstützen die Hansestadt, die Handelskammer, der Verein Hanseatic Help und die von Wladimir Klitschko initiierte Hilfsorganisation #WeAreAllUkrainians über den „Pakt für Solidarität und Zukunft“ die Menschen in der ukrainischen Hauptstadt. Bislang kamen so allein fast zehn Millionen Euro Spenden zusammen: Mit dem Geld hat die Organisation dringend benötigte Hilfsmittel finanziert. Hinzu kommen Sachspenden, darunter medizinische Geräte und Hygieneartikel, im Wert von vielen Millionen Euro.

Der Tag räumte auch ein wenig auf mit den Bildern einer Stadt mitten im Krieg. Diese Tage gibt es, und das immer wieder, wenn die Russen Kamikazedrohnen und Raketen in Richtung Kiew abfeuern. Aber dieser Montag war keiner diese Tage. Die Präsenz an bewaffneten Militärs war eher gering, von Zerstörungen, die es zuhauf gibt, war während der Rundreise nichts zu sehen. Die Menschen in Kiew bewegt sich wie selbstverständlich im Stadtbild: brachten Kinder in die Kita, fuhren zur Arbeit, kauften ein. Die Supermarktregale gut gefüllt, viele Läden geöffnet, keine Unruhe geschweige denn Hektik auf den Straßen.

Tschentscher als erster Chef einer deutschen Landesregierung im kriegsgebeutelten Kiew

Tschentscher ist der erste deutsche Ministerpräsident, der die ukrainische Hauptstadt seit Beginn des russischen Angriffskrieges besucht. Er wird begleitet von Claudia Meister von Hanseatic Help sowie Tatjana Kiel und Dörte Kruppa von #WeAreAllUkrainians. Mit dabei sind auch Tschentschers engste Mitarbeiter und Referatsleiter.

„Hamburg steht mit dem ‚Pakt für Solidarität und Zukunft‘ fest an der Seite der Menschen in Kiew. Wir leisten humanitäre Hilfe und unterstützen bei der Aufrechterhaltung der Versorgung“, sagte Tschentscher dem Abendblatt während der Anreise im abgedunkelten Nachtzug. Tschentscher ist nach Kiew gefahren, um die Stadt kennenzulernen, ein Zeichen der Solidarität zu setzen und mit seinem Amtskollegen über aktuelle und künftige Hilfsprojekte zu sprechen.

„Die Menschen in der Ukraine stellen sich der russischen Aggression mit Mut, Ausdauer und großer Kraft entgegen. Unsere Unterstützung in der Krise muss fortgeführt werden, bis der Krieg beendet ist und der Wiederaufbau beginnen kann“, sagte der Hamburger Bürgermeister, der seinen Besuch auch als Zeichen der Solidarität an die Bewohner Kiew versteht.

Tschentscher reiste mit dem Zug von Polen nach Kiew

Die ruckelige, aber störungs- und vor allem alarmfreie Fahrt mit dem Nachtzug führte entlang ausgedehnter Wälder und bestellter Felder von der polnischen Grenze nach Kiew. Stromleitungen parallel zur Trasse, ein Umspannwerk an der Strecke – alles in Takt. Auch in Kiew ist auf den Routen, die Tschentschers Tross nimmt, keine Zerstörung sichtbar. Im dichten Berufsverkehr mit teils vier Spuren pro Richtung geht es zunächst ins Infrastrukturministerium, wo Tschentscher den stellvertretenden Premierminister und Infrastrukturminister Oleksandr Kubrakow trifft. Nach einem halbstündigen Austausch steht der Besuch im Kiewer Rathaus an, wo sich Tschentscher, der deutsche Botschafter Martin Jäger und die Klitschkos zunächst zu einem vertraulichen Gespräch zurückzogen.

Um nicht mit leeren Händen dazustehen, übergab Tschentscher, der sich auch ins Goldene Buch der Stadt eintrug, Klitschko drei Busse der Hochbahn. Anfang des Jahres hatte die Hamburger Verkehrsbehörde mit dem Kiew Traffic Management Center vereinbart, bei der Verkehrsplanung enger zusammenzuarbeiten.

Tschentscher übergibt Kiew drei Busse der Hamburger Hochbahn

Teil dieser Kooperation ist die Spende der Hochbahn von drei Mercedes-Bussen aus dem Jahr 2010. Die wurden in den vergangenen Tagen zusammen mit drei Rettungswagen nach Kiew gefahren, wo sie jetzt – foliert mit dem Logo des „Paktes für Solidarität und Zukunft“ – im öffentlichen Nahverkehr eingesetzt werden. Schon im ersten Jahr von Putins Krieg in der Ukraine hatten die Hochbahn und die VHH zwölf Busse nach Kiew gespendet.

Tschentscher lobte beim Eintrag ins Goldene Buch die Ausdauer und Kraft, mit der sich die Menschen in der Ukraine der russischen Aggression entgegengestellten. Er sei froh, in die „Weltstadt Kiew“ eingeladen worden zu sein.

Hamburg habe seine Partnerschaft mit der russischen Metropole St. Petersburg „storniert“, sagte Klitschko. Stattdessen sei die Stadt, ohne Angst zu zeigen, eine Partnerschaft mit Kiew eingegangen. „Und dafür sind wir Ihnen sehr dankbar“, sagte Vitali Klitschko seinem Gast aus Hamburg. Das Signal der Solidarität, das von dem Besuch der Hamburger Delegation an die Menschen in Kiew ausgehe, bedeute ihm sehr viel.

Tschentscher und die Klitschkos gedenken der Opfer des russischen Angriffs

Auf dem Michaelplatz, vor der gleichnamigen orthodoxen Kirche mit den goldfarbenen Kuppeln, gedachten Tschentscher und die Klitschkos der Opfer des russischen Angriffskrieges. Vor dem Gotteshaus rosten zerstörte russische Waffen vor sich hin. Panzer, Militärfahrzeuge, Mannschaftswagen – ein Open-Air-Museum des Schreckens.

Hier, an einer weit mehr als 100 Meter langen Mauer, hängt ein kleines Foto am anderen. Bilder von jungen Männern, einige sehen beinahe noch aus wie Kinder. Es sind junge Männer aus Kiew – und sie sind tot. Opfer der der völkerrechtswidrigen Annexion der Halbinsel Krim durch Putin und des Überfalls auf die Ostukraine („Donbas“). Schon vor der russischen Invasion am 23. Februar 2022 starben im Donbas über die Jahre Tausende Soldaten und Zivilisten.

Anders als Habeck muss Tschentscher nicht in den Luftschutzkeller

Wie viele ukrainische Soldaten seit Kriegsbeginn vor gut zwei Jahren bis heute gestorben sind, hier in der Ukraine gilt das als Staatsgeheimnis. Dass es mehrere Zehntausend Tote sind, dementiert niemand. Während Tschentschers Besuch ist es ruhig in Kiew. Luftalarm bleibt am Montag aus, registrieren die Sicherheitsleute von LKA und BKA mit Beruhigung. Anders war es noch vor ein paar Tagen – bei Robert Habecks Visite. Der Bundeswirtschaftsminister hatte gleich mehrfach Zuflucht im Luftschutzkeller suchen müssen.

Erst vor drei Wochen hatten russische Angriffe die an sich gute Kiewer Luftabwehr überwunden. Vitali Klitschko spricht von insgesamt mehr als 200 durch Raketen und Kamikazedrohnen getöteten Zivilisten und mehr als 800 zerstörten Gebäuden allein in Kiew seit Kriegsbeginn.

Vitali Klitschko: Tschentschers Besuch ist Signal der Freundschaft

Beim Gang über die von den Klitschkos gespendete Fußgängerbrücke mit dem gläsernen Boden hoch oberhalb des Flusses Dnepr sprach der von Sicherheitsleuten und seinem Bruder eskortierte Kiewer Bürgermeister davon, dass Tschentschers Besuch mehr als Symbolik sei. Er sei eine „Mission“: „Ihr seid nicht allein, eure Freunde unterstützen euch“, dieses Signal gehe von der Kurzvisite aus.

„Wir beschützen mit diesem Krieg nicht nur unser Land, sondern auch euch vor Putin und seinem verrückten Plan, das alte sowjetische Reich wieder aufzubauen. Aber ohne Hilfe aus Deutschland und von unseren Partnern können wir diesen Krieg nicht überleben“, sagte Klitschko, der Hamburg seine zweite Heimatstadt nannte.

Tschentscher und sein Amtskollege aus Kiew waren einander zuletzt im November in Berlin begegnet, als die „Deutsche Gesellschaft“ Klitschko für dessen Verdienste um die „europäische Verständigung“ auszeichnete. Tschentscher nannte Klitschko in seiner Laudatio „Vorkämpfer und Vorbild“. Er mache den Menschen in der Ukraine, in Deutschland, in ganz Europa Mut, für Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit einzustehen, so der Hamburger Bürgermeister in seiner Würdigung.

Tschentscher: Ukraine kämpft für freies Europa

Seit mehr als zwei Jahren führe der ehemalige Box-Champion Klitschko den wohl härtesten Kampf seines Lebens, sagt Tschentscher. Er mache als Bürgermeister den Menschen Mut, die Moral und den Widerstand gegen die russische Aggression aufrechtzuerhalten. Die Menschen in der Ukraine kämpften für ihr Land und ihre Unabhängigkeit. „Und sie kämpfen zugleich für Europa, für die Werte, die unser gemeinsames, demokratisches, freies Europa ausmachen.“

Vor gut einem Jahr hatten Vitali Klitschko und sein Bruder Wladimir Peter Tschentscher in Hamburg besucht. Hierher sind rund 46.000 ukrainische Frauen, Männer und Kinder seit Kriegsbeginn geflohen. Beim Treffen im Rathaus lud Wladimir Klitschko den Sozialdemokraten zum Gegenbesuch nach Kiew ein.

Besuch im Zentrum für traumatisierte Kinder

Mit Geld aus Hamburg hat die Stadt Kiew ein Tagesbetreuungszentrum für Kinder aufgebaut. Hier werden Mädchen und Jungen zwischen fünf und 15 betreut, die beim Krieg ihre Eltern verloren haben, zur Flucht gezwungen oder nach der Verschleppung wieder befreit wurden. Jedes dieser Kinder hat traumatische Erlebnisse zu verarbeiten. Täglich besuchen rund 40 Kinder das Zentrum. Geholfen wurde hier insgesamt schon an die 500 Mädchen und Jungen.

In dem Zentrum können die Kinder ihre Freizeit in Sicherheit verbringen, hier finden sie Zugang zu Bildung, werden psychologisch betreut, bekommen zu essen. Zur Einrichtung gehört auch ein Luftschutzkeller. Organisiert wird das Zentrum von Save Ukraine, der Partnerorganisation von #WeAreAllUkrainians.

Tatjana Kiel spricht von Hilfe, die ankomme. Das Leben der Kinder werde hier wieder lebenswert. „Ich sehe Angst und Nachdenklichkeit in den Kinderaugen, aber ich sehe auch Hoffnung“, sagte die Geschäftsführerin von #WeAreAllUkrainiens“. Für eine Spende von 50 Euro werde hier ein Kind ein Monat lang betreut, psychologisch unterstützt und könne allmählich gesunden.

Für Claudia Meister von Hanseatic Help zeigt die Einrichtung: die Hilfe der Hamburher kommt an. Traumatisierte Kinder seien mit das schlimmste, was der Krieg produziere.

Für viele der deportierten und wieder befreiten Kinder, die hier Hilfe erhalten, ist Wladimir Klitschko ein Idol. Mädchen und Jungen sollten die Welt entdecken und nicht den Krieg, sagt der ehemalige Box-Champion. Das lernten sie im Day-Care-Zentrum. Hier könnten die Narben auf den Kinderseelen wieder heilen.

Besuch im städtischen Krankenhaus

Dem habilitierten Mediziner Tschentscher war es wichtig, in der Ukraine eine Klinik zu besuchen – das Kyiv City Clinical Hospital Nr. 4. Im vergangenen Jahr war hier ein Rehabilitationsprogramm für Patienten mit Beinverletzungen und Amputationen etabliert worden. So lernen Kriegsopfer in der Klinik wieder laufen.

Rund 15 Millionen ukrainische Frauen und Männer leiden nach Angaben der WHO körperlich und seelisch an den Folgen des Krieges, die Zahl der Kriegsverletzten und traumatisierten Menschen steigt rapide.

Klitschkos dramatischer Appell

In der Ukraine lange erwartet und beinahe flehentlich erbeten, hat das US-Repräsentantenhaus am Wochenende endlich die blockierten Hilfsgelder freigegeben. Demnach sollen 61 Milliarden Dollar (rund 57 Milliarden Euro) in die Ukraine fließen, insbesondere sind es Militärhilfen.

Mit einem dramatischen Appell hatte Vitali Klitschko erst vor wenigen Tagen im ZDF um Luftabwehrsysteme und weitere Waffensysteme gebeten. Er sprach von einem „Krieg der Ressourcen“, in dem die Ukraine die Unterstützung ihrer Partner brauche, so Klitschko. Jeden Tag griffen die Russen an und ruinierten die Infrastruktur. „Das ist kein Krieg, das ist Terror.“

Der russische Präsident Wladimir Putin habe angefangen, sein Land zu verbrennen, damit Menschen dort nicht mehr leben könnten. „Ohne Elektrizität und Wasser ist Leben unmöglich“, klagte Klitschko im ZDF Russland an. Allein in Kiew seien – trotz mehr Luftabwehrsystemen als woanders im Land – schon mehr als 800 Gebäude zerstört und mehr als 200 Zivilisten getötet worden.

Tschentscher gedenkt in Polen der Gräueltaten Hamburger Polizisten

Tschentschers Delegation hatte bei der Anreise zunächst einen Zwischenstopp in Józefów (Polen) eingelegt. Hier erinnerte der Bürgermeister an die Gräueltaten Hamburger Polizisten im Zweiten Weltkrieg und legte einen Kranz nieder.

Es war der frühe Morgen am 13. Juli 1942, als das Reservebataillon 101 über die polnische Kleinstadt herfiel. Hier, rund 300 Kilometer südöstlich von Warschau, trieben die Hamburger Polizisten und ihre Helfershelfer jüdische Kinder, Frauen und Männer auf dem Marktplatz zusammen. Wer nicht laufen konnte, wurde sofort erschossen.

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„Bis auf 300 arbeitsfähige Männer, die als Zwangsarbeiter deportiert werden sollen, wurden die übrigen 1500 Menschen in ein nahe gelegenes Waldstück gebracht und von den Bataillonsangehörigen der Reihe nach erschossen. Das Massaker dauerte bis in den Abend hinein. Die Leichen wurden am Ort des Verbrechens liegen gelassen“, informiert die Hamburger Polizei.

Aufgabe der Hamburger Polizeibataillone 101 bis 104 war es, „die deutsche Herrschaft in den von der Wehrmacht eroberten und vom NS-Regime besetzten Gebieten zu sichern. Die Polizeibataillone waren Teil der systematischen Ermordung der jüdischen Bevölkerung“, informiert die Polizei auf ihrer Internetseite. Und so blieb das Massaker von Józefów nicht das letzte Kriegsverbrechen der Hamburger Polizisten. Das Bataillon 101 ermordete während des Zweiten Weltkrieges Schätzungen zufolge mindestens 8000 Menschen.

Wer helfen möchte:

  • #WeAreAllUkrainiens: IBAN DE41 2005 0550 1503 5745 66
  • Hanseatic Help: IBAN DE61 2005 0550 1241 1552 56