Hamburg. Klitschkos besuchen Rathaus und Handelskammer – mit erschreckenden Zahlen im Gepäck. Ihr Appell.

Um kurz vor 10 Uhr am Montagmorgen ist die Überraschung groß. „Sind das nicht sogar beide Brüder?“, fragt einer der vielen Pressevertreter, die gemeinsam mit Hamburgs Erstem Bürgermeister Peter Tschentscher auf dem Spiegel vor der Ratsstube warten. Um es vorwegzunehmen: Ja, Kiews BürgermeisterVitali Klitschko, der am Montagmorgen zum Gesprächstermin ins Hamburger Rathaus und anschließend in die Handelskammer geladen war, hat als Verstärkung seinen Bruder Wladimir mitgebracht. Ein Jahr nach dem Start des „Pakts für Solidarität und Zukunft“ zwischen Hamburg und Kiew wollen die beiden früheren Boxer ein starkes Zeichen für das Durchhalten setzen.

Als die zahlreichen Fotos vor den vier Flaggen von Hamburg, Deutschland, der Ukraine und der EU gemacht sind, ziehen sich die drei Herren gemeinsam mit Tatjana Kiel von der Initiative #WeAreAllUkrainians zu einem rund einstündigen Gespräch zurück, ehe die Ergebnisse im Kaisersaal verkündet werden.

Bürgermeister Tschentscher: Hamburg solidarisch mit Kiew

Dort ballt Tschentscher – passend zu seinen Gästen – die Hände zu Fäusten und betont: „Die Hamburgerinnen und Hamburger stehen solidarisch an der Seite der Menschen in der Ukraine, die durch die Angriffe Russlands großes Leid und Unrecht erfahren.“

Tschentscher berichtet von Hilfslieferungen, Unterstützung durch Polizei und Feuerwehr und neuem Tagesbetreuungszentrum für Kinder, das mit Hamburger Hilfe in Kiew entstehen soll. Hamburgs Bürgermeister will es dabei aber nicht belassen. „Einmal sehen ist mehr wert als 100-mal hören“, sagt Tschentscher, als er berichtet, dass er die Einladung für einen Vorort-Besuch in Kiew der Klitschkos angenommen habe.

Klitschko bedankt sich bei seinem Amtskollegen

Beide Klitschkos, Vitali mit lachsfarbener Krawatte, Wladimir leger im weißen Shirt unter seinem dunkelblauen Anzug und mit Sneakern, hören aufmerksam zu, ehe Kiews Bürgermeister Vitali das Wort ergreift. „Moin, moin Hamburg“, sagt der 51-Jährige, bevor er sich bei seinem Amtskollegen für die Solidarität bedankt. Und: „Hamburg ist die Stadt, in der wir uns zu Hause fühlen.“

Doch Klitschko will nicht nur ein paar nette Worte über seine frühere Wahlheimat verlieren. In der Ukraine herrsche weiterhin Krieg, Städte werden bombardiert, es sterben Menschen. „Wir haben einen Genozid“, sagt Klitschko mit klarer Stimme. Kiew sei zwar nicht die Frontlinie, leide aber weiterhin unter „diesem sinnlosen Angriffskrieg“, berichtet Klitschko – und lieferte Zahlen des Schreckens: Fast 800 Gebäude in Kiew seien demoliert, 417 Wohnungen zerstört, 162 Zivilisten gestorben, darunter fünf Kinder. „Das war der schwierigste Winter aller Zeiten für unsere Stadt.“

Früherer Box-Weltmeister kämpft den Kampf seines Lebens

Seit Ausbruch des Krieges am 24. Februar des vergangenen Jahres kämpft der frühere Box-Weltmeister den schwersten Kampf seines Lebens. Vitali Klitschko ist Bürgermeister von Kiew. Einerseits. Und andererseits eine Art Handlungsreisender für das Bewusstmachen.

Im Kaisersaal spricht Klitschko fünf Minuten in die Kameras. Sechs Kamera-Teams mit 25 Medienvertretern haben sich hinter einem schwarzen Trennband aufgebaut – und Klitschkos Augen wandern beim Sprechen von einer zur nächsten Kamera. NDR, RTL, ZDF, Sat.1. Klitschko scheint sichergehen zu wollen, dass auch jeder Zuhörer und Zuschauer seine Botschaften mitbekommt.

33.000 Ukrainer leben derzeit in Hamburg

„Wir sind dankbar für die humanitäre und wirtschaftliche Hilfe für Kiew“, sagt er. Tatsächlich sind es aktuell rund 33.000 Ukrainer, die in Hamburg eine Bleibe gefunden haben. Ungefähr die Hälfte ist nach Angaben der Innenbehörde in Unterkünften untergekommen, die andere Hälfte lebt in privaten Haushalten.

Die Solidarität ist riesig, scheint aber endlich. So nahmen in den vergangenen Wochen auch die Diskussionen um Kapazitätsgrenzen zu. Er habe diese Diskussionen bislang nicht mitbekommen, antwortet Klitschko nach langem Nachdenken auf Abendblatt-Nachfrage. Aber natürlich wisse auch er, dass dieser Krieg nicht nur für sein Heimatland eine Herausforderung sei. Sondern auch für Deutschland, Europa, die ganze westliche Welt.

Wie kann es nach dem Krieg weitergehen?

„Es ist ein Fehler, wenn man glaubt, dass sich der Krieg in mehr als 1000 Kilometern Entfernung abspielt“, sagt Klitschko. „Jeder ist von diesem Krieg betroffen. Jeder.“ Umso wichtiger sei es, dass man sich mit Partnern wie Hamburg darüber Gedanken mache, wie man die Ukraine aktuell unterstützen kann – und wie es nach einem möglichen Ende des Krieges weitergehen könnte.

Immer wieder macht Tatjana Kiel von der Initiative #WeAreAllUkrainians Zeichen, dass man hinter dem Zeitplan her hinke. Nach drei Fragen ist Schluss. Bürgermeister Tschentscher bekommt noch einen roten Boxhandschuh mit Widmung: „Lieber Herr Tschentscher, danke für Ihre Unterstützung, let’s keep on punching.“ Foto hier, Foto da, da gehen die beiden Hünen zu Fuß direkt zum nächsten Termin in die Handelskammer.

Klitschkos tragen sich ins Goldene Buch der Handelskammer ein

Hier warten Norbert Aust, Präses der Handelskammer, und Hauptgeschäftsführer Malte Heyne. Beide nehmen die Klitschkos im Raum Kolumbus in Empfang, damit sich die Brüder ins Goldene Buch der Kammer eintragen.

„Dank unserer Partner im Städtepakt #HamburgKyiv können wir konkrete Hilfe leisten“, sagt Aust, der bereits fünfmal in Kiew war. „Hamburgs Wirtschaft unterstützt mit Geld- und Sachspenden, darunter beispielsweise medizinische Hilfsgüter, Lebensmittel und Spezialfolie, um vom Kampf beschädigte Fenster abzudichten. Im Rahmen des Städtepakts wollen wir auch frühzeitig Perspektiven für einen Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur schaffen und langfristige Wirtschaftsbeziehungen etablieren.”

Kiews Bürgermeister erlaubt sich einen Scherz

Wieder Fotos, wieder Lächeln, wieder eine Einladung. „Wir würden uns freuen, wenn wir auch Sie bei uns in Kiew begrüßen dürfen“, sagt Vitali Klitschko, zeigt auf seinen Bruder und erlaubt sich trotz der schweren Zeiten einen Scherz: „Wir können Ihnen die beiden besten Bodyguards der Stadt garantieren.“

Nach eindreiviertel Stunden ist alles vorbei. Schnell noch ein Foto vor der Handelskammer unter der Ukraineflagge, zwei weitere Unterschriften für geduldig wartende Autogrammjäger, dann steigen Klitschko und Klitschko in den schon wartenden Tesla und fahren in Richtung Flughafen.

Der Krieg macht keine Pause.