Hamburg. FDP-Chefin Sonja Jacobsen über die Idee einer Tramlinie, die Immobilienentwicklung in der Metropolregion und den „faulen Zahn“ Elbtower.
Hamburg-Bergedorf ist ein Modell für die Bundesrepublik gewesen – auch wenn es viele nicht wissen: In der dortigen Bezirksversammlung bildete sich Anfang 2020 eine Koalition aus SPD, Grünen und FDP. „Wir verstehen den Auftrag der Wählerinnen und Wähler, für diese Wahlperiode Bergedorf mit einer ergebnis- und lösungsorientierten Politik voranzubringen“ hießt es in dem Koalitionsvertrag. Deutlich selbstbewusster bildeten Ende 2021 die gleichen Parteien im Bund das „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ unter dem Motto „Mehr Fortschritt wagen“. Während der Zauber des Anfangs in Berlin längst verweht ist, geht das Bergedorfer Bündnis nun auf die Zielgerade.
Die Bergedorferin Sonja Jacobsen hat die Koalition mitgeschlossen – und führt seit 2023 die Hamburger Liberalen. „Kommunalpolitik ist ein bisschen persönlicher, da kann man auch mal über einen Schatten springen“, sagt die Historikerin. Da sei ein Vergleich mit der Bundespolitik unfair. Trotz vieler Probleme mit dem grünen Partner sagt sie: „Wir haben geschafft, uns in einer sehr wichtigen Frage zusammenzuraufen: beim größten Neubauprojekt der Stadt, Oberbillwerder.“
Der städtische Projektentwickler IBA Hamburg plant in den Bergedorfer Marschlanden auf 118 Hektar Fläche einen neuen Stadtteil mit 6500 Wohnungen. Außerdem entstehen dort eine Hochschule, zwei Grundschulen, bis zu 14 Kitas und ein Schwimmbad, rund 4000 bis 5000 neue Arbeitsplätze sind geplant. Und die Ampel in Bergedorf hat sich darauf geeinigt, dass Oberbillwerder weitgehend autoarm wird.
FDP-Chefin spricht von 50.000 fehlenden Wohnungen in Hamburg
Der designierte CDU-Herausforderer Dennis Thering hatte vor einem Jahr erklärt, dass es mit ihm diesen neuen Stadtteil nicht geben werde. „Es ist mir völlig schleierhaft, wie die CDU da wieder rauskommen will“, kritisiert Jacobsen. „Damit sagt sie, in Hamburg nicht regieren zu wollen. Für die Sozialdemokraten ist der Verzicht auf Oberbillwerder ausgeschlossen.“
Auch die FDP will im Osten bauen: „Das ist eine Frage der Vernunft: In Hamburg fehlen 50.000 Wohnungen. Hier liegt eines der Hauptprobleme der Stadt“, sagt die gebürtige Düsseldorferin. Sie schränkt aber ein: „Wir hätten es gerne ein bisschen kleiner gehabt, weil Hamburg schlechte Erfahrungen mit Großsiedlungen gemacht hat.“ Immerhin sei es gelungen, Oberbillwerder um 650 Wohneinheiten zu verkleinern und die äußere Verkehrserschließung zu verbessern.
Jacobsen sieht die Politik gegen das Auto kritisch
Bevor neue Wohnungen entstehen, müsse die Infrastruktur funktionieren. „Das funktioniert in Hamburg nicht gut. Wenn die U5 eines Tages fertig ist, haben die Menschen im Osdorfer Born 70 Jahre auf den Anschluss gewartet.“ Jacobsen sieht die Politik gegen das Auto kritisch. „Selbst in der Neuen Mitte Altona im Zentrum der Stadt verzichten die Bewohner nicht auf einen Wagen. Die geplante Stellplatzquote von 0,3 klappt dort nur in kleinen Haushalten – bei Familien sind es fast 1,6. Denn die Lebenshaltungskosten sind so hoch, dass beide Elternteile arbeiten müssen und oft zwei Autos benötigen.“ Jacobsen zweifelt daran, dass in Oberbillwerder die geplante Stellplatzquote von 0,6 einzuhalten ist.
Sie teilt das Credo des Bauen, Bauen, Bauen. „Wenn 50.000 Wohnungen fehlen, müssen wir Bedingungen schaffen, unter denen gebaut werden kann. Die Logik des rot-grünen Senats mit immer teureren Auflagen für den Klimaschutz aber treibt die Preise“, kritisiert die Liberale. Inzwischen koste der Quadratmeter in der Neuvermietung fast 21 Euro. „Wer soll das bezahlen? Ich könnte es nicht“, sagt die Mutter von zwei Kindern.
Um den Wohnraummangel in den Griff zu bekommen, sei ein Bündel von Maßnahmen erforderlich: „Bauen ist zu teuer, wir müssen von den hohen Erstellungskosten runter.“ Sie fordert, die Vorschriften radikal zu entschlacken und realistischere Klimaschutzvorgaben. „Die letzten Meter sind besonders teuer, bringen aber besonders wenig“, sagt sie. „Grün-Rot setzt teure Standards und fördert dann mit Steuergeld - das schafft keinen bezahlbaren Wohnraum und macht die Menschen unselbständig.“
Hohe Immobilienpreise treiben viele Steuerzahler ins Umland
Jacobsen sieht eine Gefahr in der Explosion der Mieten und Kaufpreise. „Das wirkt sich negativ auf die Zusammensetzung der Stadtbevölkerung aus: Hamburg verliert jedes Jahr Netto-Steuerzahler ins Umland.“ Wer seinen Traum vom Häuschen mit Garten verwirklichen wolle, müsse die Stadt verlassen. Zugleich zögen vor allem Menschen in die Metropole, die keine oder nur wenige Steuern zahlen. „Das führt zu einer Schieflage“, kritisiert die FDP-Politikerin. „Es ist bedenklich, dass fast 60 Prozent der Hamburger inzwischen Anspruch auf eine Wohnung im 1. und 2. Förderweg haben.“
Diese Entwicklung verändere Hamburg. „Was macht es mit einer Gesellschaft, wenn ich 60 Prozent der Menschen die Botschaft vermittle, du schaffst es alleine nicht, du brauchst Zuwendung vom Staat?“, fragt Jacobsen. Ihre Befürchtung: „Wir erziehen die Menschen zur Unselbstständigkeit.“
Daran werde sich angesichts der Lage auf den Immobilienmärkten so schnell nichts ändern: „Derzeit ist nur der Bau geförderter Wohnungen attraktiv, weil der Zins hier bei einem Prozent liegt.“ Eigentlich sieht das Hamburger Bündnis für das Wohnen vor, bei größeren Neubauprojekten ein Drittel gefördert zu bauen, ein Drittel Mietwohnungen und ein Drittel Eigentumswohnungen. „Das hat eine vernünftige soziale Mischung in den Quartieren geschaffen. Jetzt gerät der Drittel-Mix in Gefahr.“
Jacobsen: Eigentum hat eine wichtige soziale Funktion
Waren Eigentumswohnungen bis vor Kurzem besonders attraktiv, haben Zinssteigerung und Rezession den Markt komplett auf links gedreht. Eigentumswohnungen sind derzeit schwer verkäuflich, „Für die soziale Mischung in unseren Stadtteilen ist das nicht gut“, warnt Jacobsen. Die Liberale verweist darauf, dass Eigentum und die Chance darauf eine „wichtige soziale Funktion“ haben. „Das Ziel. Eigentum zu erwerben, motiviert die Menschen, sich anzustrengen.“ Das sei für eine Gesellschaft wichtig. Nun drohe Hamburg zur „reinen Mieterstadt“ zu werden.
„Was ich mir erarbeitet habe, pflege und bewahre ich besonders und übernehme Verantwortung“, sagt die Bergedorferin. Sie fordert, die Grunderwerbssteuer, die erst 2023 auf 5,5 Prozent erhöht wurde, auszusetzen. „So wird es für Familien etwas leichter, in Hamburg Besitz zu erwerben und nicht ins Umland abzuwandern.“ Das helfe auch beim Klimaschutz. „Wir müssen Arbeiten und Wohnungen näher zusammenbringen.“
„Wir sollten über die Straßenbahn nachdenken“
Die überzeugte Radfahrerin fordert ein neues Denken in der Verkehrspolitik und macht einen für die FDP ungewöhnlichen Vorschlag: „Wenn wir kluge Stadtentwicklung wollen, müssen wir die Pendlerverkehre in den Griff bekommen. Da sollten wir über die Straßenbahn nachdenken.“
Jacobsen will diese nicht in der hochverdichteten Innenstadt, aber außerhalb des Rings fahren lassen: „Wenn wir auf den viel befahrenen Strecken eine Tram baut, könnte man Verkehrsprobleme lösen.“ Die neuen Systeme benötigten keine Oberleitung mehr, sondern könnten über die Schiene oder an den Stationen laden. „Da hat sich viel getan. Es ist psychologisch attraktiver, ein schienengebundenes System zu haben. Niemand mag Busse.“ Sie selber meide die Busse wie der Teufel des Weihwasser. Zudem sei die Busbeschleunigung teuer und ineffizient. Trotz massiver Investitionen sind die Busse heute sogar langsamer unterwegs als vor 20 Jahren.
„Die neuen Tram-Bahnhöfe könnten Orientierungspunkte für die Stadtentwicklung werden.“ So ließen sich Bergedorf und Oberbillwerder besser an die Innenstadt anbinden. „Teilweise liegen sogar noch alte Gleise, die man nutzen kann.“ Die FDP in Bergedorf fordert eine Machbarkeitsstudie. „Wir sind für Technologieoffenheit. Da können wir doch kein Verkehrssystem kategorisch ausschließen.“
Elbtower: „Ein fauler Zahn thront über Hamburg“
Hart ins Gericht geht die Journalistin mit dem Senat in Sachen Elbtower. „Es muss aufgeklärt werden, warum ausgerechnet René Benko, gegen den schon damals Ermittlungen liefen, 2018 den Zuschlag bekam“, sagt sie. Harsche Kritik übt sie an der CDU, die keinen PUA fordert. Den Wolkenkratzer mit seinen 245 Metern selbst sieht sie aber positiv: „Es stimmt mich traurig, dass dieser städtebaulich herausragende Kontrapunkt nun seit einem halben Jahr als fauler Zahn über der Elbe thront.“ Den Chipperfield-Entwurf lobt sie ausdrücklich. „Ich radele da oft lang. Selbst in seiner unfertigen Rohform ist der kühne Schwung zu erahnen.“
Den Senat fordert sie zum Handeln auf: „Es wäre tragisch, wenn wir jetzt dazu kommen würden, dass Stadtentwicklung nie mehr irgendetwas wagt“, sagt die 52-Jährige. „Wir müssen alles tun, um den Elbtower entweder schnell fertig zu bauen oder abzureißen.“
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Die FDP möchte ein Expertenkonsortium gründen, das die wichtigen Akteure an einen Tisch holt und gemeinsam nach Lösungen sucht. „Wir können da nicht zehn Jahre lang einen faulen Zahn als Eingang zu unserer Stadt haben. Das ist schlicht und ergreifend peinlich.“ Kritisch sieht sie auch die Folgen der Benko-Pleite für den Mittelstand: Es sei ein Drama, dass Handwerker nun um ihre Existenz bangen.
Kluge Nachnutzungen für Kaufhof und Karstadt Sport
Sorgen macht sich die FDP-Chefin auch um die Innenstadt. Eine drohende Verödung der Mönckebergstraße hätte Folgen für die gesamte City. „Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass der Einzelhandel von allein für Leben in der Stadt sorgt.“ Deshalb seien gerade für die beiden Kaufhäuser – das ehemalige Karstadt-Sport-Gebäude und der frühere Kaufhof – kluge und schnelle Nachnutzungen nötig. Ihr schwebt in einem der Kaufhäuser eine große Markthalle vor, das andere könnte einen Indoor-Spielplatz beherbergen. „Das wäre ein Magnet für Familien, und HafenCity und City würden sich weniger Konkurrenz machen.“
Nach dem Vorbild der Rambla in Barcelona könnte auf der Mö eine Promenade zum Flanieren und Genießen entstehen. „Die Mönckebergstraße könnte zu Kunst- und Kulturmeile werden“, sagt Jacobsen. „Wir müssen Gastronomen durch schnelle und einfache Genehmigungen unterstützen. Der Hauptbahnhof hat jeden Tag 500.000 Besucher – die wollen auch etwas essen oder einkaufen gehen.“ Bei dem Hamburger Schietwetter müssten die Pavillons aber überdacht werden.
Grüne und SPD „haben die Schnauze voll voneinander“
Ausdrücklich wirbt die Bergedorferin darum, in Hamburg neue Wege zu beschreiten und Neues zu wagen: „Die Idee aus dem letzten Podcast, einen Weg auf dem Wasser über das Nikolaifleet zu bauen, überzeugt mich. Auf dem Wasser haben wir noch ein bisschen Platz. Wir müssen mehr ausprobieren.“
Das könnte auch für mögliche Regierungsoptionen gelten: „Koalitionsfragen zum jetzigen Zeitpunkt sind ein bisschen schwierig“, sagt sie. „Die FDP ist prinzipiell offen. Die SPD ist in Hamburg eine staatstragende Partei. Da halte ich eine Deutschlandkoalition für realistisch.“ Sie nehme wahr, dass sich die Grünen und die SPD im Senat entfremdet hätten. „Die haben die Schnauze voll voneinander.“
Fünf Fragen an Sonja Jacobsen
Meine Lieblingsstadt ist natürlich Hamburg. Hier bin ich aufgewachsen, dann hat es mich in die Welt gezogen nach Köln, Berlin, Leipzig, London, München. Eigentlich habe ich 25 Jahre versucht, wieder nach Hause zu kommen. Als mein Sohn in Bayern aus dem Kindergarten kam und sagte: „Mama, die Kuh braucht a Heu“, da habe ich gedacht: Nee, min Jung. Ahoi ist wat ganz anners – wir müssen hier weg!
Mein Lieblingsstadtteil ist Bergedorf, hier fühlen wir uns zu Hause. Ich mag dieses Stadt-in-der Stadt-Gefühl. Es gibt eine eigene Kaffeerösterei, einen der ältesten Weinkeller Hamburgs, früher gab es sogar eine Tabakfabrik – also alles, was man für ein gesundes Leben braucht.
Mein Lieblingsplatz liegt an der Elbe – egal wo. Mit dem Rad fahre ich oft runter an die Dove Elbe und dann den Fluss hinauf bis in die HafenCity. Wenn nachts der Mond auf dem schwarzen Wasser glänzt, berührt mich das jedes Mal.
Mein Lieblingsgebäude ist St. Petri, diese unaufgeregte alte Kirche. Als Kind war ich bei den Quempas-Sängern zu Weihnachten dabei: Mit einer Kerze in der Hand singend durch das dunkle Kirchenschiff zu schreiten war etwas ganz Besonderes.
Einmal mit der Abrissbirne ... In Hamburg wird nach meinem Empfinden viel zu leichtfertig abgerissen. Die City-Höfe zum Beispiel standen als Nachkriegsmoderne einst für den Aufbruch in eine bessere Zeit und wurden später hässlich verkleidet. Die hätte ich gern in ihrer alten Schönheit restauriert, statt sie einfach plattzumachen und durch einen gesichtslosen Backsteinbau zu ersetzen.