Hamburg. Viele Tötungsdelikte nach Schizophrenie in Hamburg. Richterin: Landgerichte werden von solchen Verfahren „geradezu überschwemmt“.

Die Frau hatte keine Chance. Immer wieder stach ihr Verlobter auf sie ein, insgesamt mehr als 100-mal. Der 28-Jährige glaubte, seine Freundin habe sich mit den Hells Angels verschworen und wolle ihn töten. Und er müsse ihr zuvorkommen. Filip M. (Name geändert) leidet an Schizophrenie. Er sieht Gefahren, wo es keine gibt; er hört Stimmen, die nicht wahrnehmbar sind; und er betrachtet Menschen als Feinde, die ihm eigentlich wohlgesonnen sind.

Ausgelöst wurde seine psychische Störung sehr wahrscheinlich, weil der Hamburger bereits in seiner Jugend Cannabis konsumierte und das über viele Jahre fortsetzte. Im Jahr 2023 tötete der 28-Jährige bei seiner Verlobungsfeier seine Lebensgefährtin. Später im Prozess vor dem Landgericht bereute er die Tat: Seine Verlobte sei „das Großartigste gewesen, das ihm im Leben passiert ist“, sagte er. Sie habe nicht verdient zu sterben. „Ich habe einen schizophrenen Schub bekommen mit wahnhaften Gedanken. Aber was ich getan habe, ist nicht zu entschuldigen.“

Cannabis: Gefahren durch den frühen Konsum

Im Prozess gegen den 28-Jährigen vor dem Landgericht Hamburg nahm die Vorsitzende Richterin die Urteilsbegründung zum Anlass, auf die Gefahren hinzuweisen, die durch den frühzeitigen Konsum von Cannabis entstehen können. „Tatsächlich gab es in den vergangenen Jahren mehrere Tötungsdelikte, die von Menschen begangen wurden, die schon früh, also als Jugendliche, ihren ersten Joint geraucht und dann über Jahre regelmäßig Cannabis konsumiert haben“, warnte Richterin Jessica Koerner. Solche Fälle nähmen zu. Die Landgerichte würden davon „geradezu überschwemmt“.

Diese eindringlichen Worte wiederholt Koerner jetzt als Gast bei „Dem Tod auf der Spur“, dem True-Crime-Podcast des Hamburger Abendblattes mit Rechtsmediziner Klaus Püschel und Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher. Koerner ist seit dem Jahr 2000 Richterin in Hamburg und hat seit 2019 den Vorsitz einer Schwurgerichtskammer, verhandelt also Fälle von Mord und Totschlag.

Legalisierung von Cannabis: aktuell schlägt das Thema hohe Wellen

Die geplante Legalisierung von Cannabis in Deutschland ist ein Thema, das aktuell hohe Wellen schlägt und an dem sich die Geister scheiden. Manche schwören auf die Vorteile, die eine Entkriminalisierung mit sich bringe. Andere weisen ausdrücklich auf Gefahren hin, insbesondere mögliche gesundheitliche Folgen für Konsumenten. So gibt es Experten, die warnen, Cannabis könne bei jungen Menschen psychische Störungen auslösen, unter anderem Schizophrenie.

„Und diese an Schizophrenie erkrankten Personen haben dann teilweise unter brutalsten Umständen Menschen getötet, von denen sie sich verfolgt fühlten“, sagt Gerichtsreporterin Mittelacher. „Einige der Opfer waren Menschen aus ihrem allerengsten Umfeld, Menschen, die sie eigentlich liebten.“

Richterin: „Es gab eine bemerkenswerte Häufung von derartigen Tötungsfällen“

„Das war wirklich auffällig. Es gab eine bemerkenswerte Häufung von derartigen Tötungsdelikten“, meint Richterin Koerner. „Auffällig sind sie deshalb, weil diese Täter eines gemeinsam haben: Sie haben psychische Störungen entwickelt, nämlich eine Schizophrenie, und sind dann gewalttätig gegen andere Menschen geworden – insbesondere gegen Menschen aus ihrem engsten Umfeld. Und wenn man in ihrer Biografie nachschaut, fällt auf, dass der Konsum von Cannabis sehr wahrscheinlich die psychische Erkrankung begünstigt oder sogar ausgelöst hat. So haben das jedenfalls die psychiatrischen Sachverständigen, die wir in den Prozessen gehört haben, erläutert.“

„Die Hauptperson in unserem heutigen Fall, also der Täter und spätere Beschuldigte vor Gericht, hatte ja wohl das, was man eine klassische ,Drogenbiografie‘ nennt“, erklärt Rechtsmediziner Püschel. „Der erste Joint schon mit zehn oder elf, nicht lange danach der regelmäßige Konsum von Cannabis, dann kommen andere Drogen dazu.“

28-Jähriger hört Stimmen und fühlt sich verfolgt

Immer mal wieder kommt Filip M. dann in Behandlung wegen Schizophrenie. Diese äußert sich unter anderem dadurch, dass er Stimmen hört und sich verfolgt fühlt.

Die Krankheit von Filip M. eskalierte am 14. Dezember 2022. Da hörte er nämlich Stimmen, die sagten: „Nimm das Messer.“ Und mit zwei Messern aus der Küche hat der 28-Jährige dann auf seine Freundin Anita R. (Name geändert) eingestochen.

Ein Mann lächelte. Das reichte, um einen psychotischen Schub auszulösen

Vorausgegangen war, dass Filip M., Anita R. und zwei weiteren Freunden an jenem Tag die Drogen ausgegangen waren und Filip M. Nachschub holen wollte. An einer Bushaltestelle sah er einen Mann, der lächelte. Das reichte, um bei dem 28-Jährigen einen psychotischen Schub auszulösen. Der 28-Jährige eilte zurück in die Wohnung zu seiner Verlobten und deren Freundin, verbarrikadierte mit Möbeln die Wohnungstür. Er zog den Schlüssel ab – niemand sollte reinkommen oder rauskönnen. Die beiden Frauen saßen in der Wohnung fest. Und die 34-Jährige, mit der er sich gerade frisch verlobt hatte, sah Filip M. nunmehr als Bedrohung für sich an. Er glaubte, sie habe sich mit den Hells Angels verschworen, um ihn umzubringen, und habe ihm eine Falle gestellt.

„Nun drohte Filip M. in einem Telefonat mit seiner Mutter an, an dem Tag würden Menschen sterben“, erzählt Koerner. „Die Mutter, die einen schizophrenen Schub vermutete, alarmierte die Polizei. Doch als die Beamten anrückten, kamen sie erst nicht in die verbarrikadierte Wohnung hinein.“ In dieser Zeit stach Filip M. auf seine Verlobte ein, immer wieder. Als es der Polizei schließlich gelang, die Tür zu öffnen, kam für das Opfer jede Hilfe zu spät.

Opfer erlitt rund 105 Verletzungen durch Messertiche, vor allem am Hals

„Das Opfer erlitt rund 105 Schnitt- und Stichverletzungen am ganzen Körper, überwiegend jedoch in der Kopf-, Hals- und Nackenregion“, erläutert Rechtsmediziner Püschel. „Allein hier kam es zu etwa 36 Schnitt- und Stichverletzungen, insbesondere an der linken Halsseite. So wurde unter anderem die Halsschlagader verletzt, und es kam zu einem erheblichen Blutverlust. Durch einen weiteren Stich wurde das Opfer so schwer verletzt, dass es zu einer Atemlähmung kam. Die Frau starb also letztlich durch die Kombination einer Atemlähmung und einer Verblutung.“

Später musste sich der 28-Jährige, der seine Freundin umgebracht hatte, vor dem Landgericht verantworten. Schon in der Antragsschrift, die dem Hamburger Totschlag vorwarf, hieß es, dass der 28-Jährige wegen seiner psychischen Erkrankung schuldunfähig gewesen sein könnte, als er seine Lebensgefährtin tötete.

Sicherungsverfahren: Da geht es nicht um Strafe

„Es handelt sich deswegen nicht um ein Strafverfahren, sondern um ein Sicherungsverfahren, bei dem die Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus im Raum steht“, erklärt Koerner. „Um eine Bestrafung geht es dabei nicht. Häufig ist die Einsichtsfähigkeit der Beschuldigten aufgrund ihrer Wahnvorstellungen, die sie durch die Schizophrenie entwickeln, aufgehoben. Das bedeutet, dass sie bei Tatbegehung schuldunfähig sind.“

Filip M. begann bereits im Alter von etwa zehn Jahren mit dem Konsum von Cannabis, den er bis zur Tat vom Dezember 2022 regelmäßig fortsetzte. Etwa im Alter von 15 Jahren kam bei ihm der Konsum von Kokain, Amphetamin und Ecstasy hinzu. Und schließlich entwickelte er seine schizophrene Erkrankung. Filip M. unterlag einem zunehmenden Verschwörungs- und Verfolgungswahn und hörte häufig innere Stimmen, die ihm befahlen, sich oder anderen etwas anzutun.

Filip M.: ein schwerer Fall, aber kein Einzelfall

Vermutlich ist Filip M., der im Zuge seiner schweren psychischen Störung seine Verlobte mit mehr als 100 Messerstichen umbrachte, ein wirklich extremer Fall. Aber ein Einzelfall, bei dem Drogen einen Menschen in den Wahn trieben, ist er ganz sicher nicht.

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Gerichtsreporterin Mittelacher zitiert den Hamburger Suchtforscher Rainer Thomasius, der sagt: „Der Anteil der Neuerkrankungen an Schizophrenie, die auf eine Cannabiskonsumstörung zurückgeführt werden können, ist in den letzten fünf Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen.“ Der Ärztliche Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Uniklinikum Eppendorf (UKE) warnt: „Wir haben Belege dafür, dass Cannabis die Hirnentwicklung und Hirnreifung sehr stark in Mitleidenschaft zieht.“

Ähnlich sähen das psychiatrische Sachverständige, die in mehreren Sicherungsverfahren vor dem Hamburger Landgericht als Experten ausgesagt haben, sagt Koerner. „Alle Sachverständigen, die wir in diesen Sicherungsverfahren gehört haben, kommen zu dem gleichen Ergebnis: dass nämlich eine Schizophrenie zugrunde lag, die durch den frühzeitigen, regelmäßigen Konsum von Cannabis aus der Latenz gehoben wurde.“

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Mehr Verbrechen von psychisch Kranken nach Cannabis-Konsum

Im Prozess gegen Filip M. kam das Gericht schließlich zu dem Ergebnis, dass der 28-Jährige – wegen seiner Schizophrenie – psychisch krank und deshalb im rechtlichen Sinne nicht zu verurteilen ist für das, was er getan hat. „Die Unterbringung des Beschuldigten in einem Psychiatrischen Krankenhaus wurde angeordnet“, erklärt Koerner. „Diese Maßnahme war erforderlich, weil der 28-Jährige für die Tat – einen Totschlag begangen im Zustand der Schuldunfähigkeit – nicht verantwortlich gemacht werden kann, aber weiterhin für die Allgemeinheit gefährlich ist. Dies hatte eine psychiatrische Sachverständige in einem Gutachten ausgeführt.“

In der Urteilsverkündung sagte Koerner: „Wir haben es bedauerlicherweise in den letzten Jahren des Öfteren mit versuchten und vollendeten Tötungsdelikten zu tun, bei denen psychotische Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis, hervorgerufen durch den Konsum von Cannabis, zugrunde lagen.“ Dann zählte die Richterin acht Verbrechen und Prozesse vor dem Hamburger Landgericht auf, bei denen nach Überzeugung der zuständigen Richter eine ähnliche Konstellation vorlag und jeweils die Unterbringung der Täter in einem Psychiatrischen Krankenhaus angeordnet wurde. „Es war eine Liste“, sagt Mittelacher, „die den Schrecken und die grausamen Folgen ahnen lassen. Verbrechen, die erschüttern.“

Cannabis: In Schulen sollte vor den Gefahren aufgeklärt werden

Koerner betonte im Abendblatt-Podcast, sie plädiere ausdrücklich davor, dass in Schulen über die Gefahren durch Cannabis-Konsum aufgeklärt werden müsse. „Die Jugendlichen müssen wissen, dass es sich bei Cannabis bei Weitem nicht um eine angeblich harmlose Droge handelt, sondern der frühzeitige und regelmäßige Konsum sehr gefährliche Folgen haben kann.“

Das bestätigt auch Püschel. Es müssten „die erheblichen Gefahren“ des Cannabis-Konsums „hervorgehoben werden“, fordert der Rechtsmediziner. „Und es muss unbedingt verhindert werden, dass Kinder, Jugendliche und auch junge Erwachsene Cannabis konsumieren.“ Es gehe um die mögliche Entwicklung von Psychosen, aber auch um weitere mögliche Schädigungen des Gehirns, „die Minderung der Intelligenz und die entstehende Antriebslosigkeit im Zusammenhang mit Cannabis-Konsum“, erläutert Püschel. „Im medizinischen Sinne spricht man gerade bei Cannabis dann davon, dass ein sogenanntes amotivationales Syndrom entsteht“. Gemeint seien damit Menschen, die unter einer ausgeprägten Form des Motivationsverlustes mit Leistungsminderung und Antriebsstörung litten. Püschel: „Also: Kein Bock zu nichts.“

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