Hamburg. Prozess gegen 57-Jährigen nach besonders grausamem Mordversuch. Der Fall offenbart „menschliche Abgründe“, sagt der damalige Richter.

Es grenzt an ein Wunder, dass die Frau überlebt hat. Ihr Leben stand auf des Messers Schneide – im wahrsten Sinne des Wortes. Die 64-Jährige wurde Opfer eines Gewaltverbrechens, begangen von ihrem Freund. Der Mann aus Hamburg hatte mehrfach mit einem Messer auf sie eingestochen, mit dem Ziel, seine Lebensgefährtin zu töten – und sie vorher möglichst lange leiden zu lassen. Mit allerletzter Kraft konnte die Frau Hilfe rufen.

„Auch für mich als sehr erfahrenen Rechtsmediziner sind die Ereignisse und Verletzungen in diesem Fall ungewöhnlich gewesen, und das Leid des Opfers war ganz sicher beträchtlich“, sagt Rechtsmediziner Klaus Püschel in „Dem Tod auf der Spur“, dem Crime-Podcast des Hamburger Abendblatts mit Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher. Das Duo hat über dieses Verbrechen aus dem Jahr 2012 mit Richter Wolfgang Backen gesprochen, der damals den Prozess gegen den Messerstecher leitete – und den Fall jetzt in seinem neuen True-Crime-Buch „Das Leben ist zerbrechlich“, 2, dargestellt hat. Der erste Band ist 2021 erschienen.

Verbrechen in Hamburg: 64-Jährige wurde mit langem Küchenmesser attackiert

„Ich habe in meiner Zeit als Richter viele Verfahren erlebt, in denen es um menschliche Abgründe geht“, sagt Jurist Backen, der mehrere Jahre lang Vorsitzender Richter einer Schwurgerichtskammer war. Baran (Name geändert) attackierte seine Freundin mitten in der Nacht des 30. Mai 2012, weil er sich darüber ärgerte, dass sie seine Annäherungsversuche zurückwies und sagte, sie wolle sich einen anderen Partner suchen, wenn er weiter so grob sei. Der 57-Jährige nahm ein Küchenmesser mit einer 21 Zentimeter langen, spitz zulaufenden Klinge und stach mehrfach auf Daria (Name geändert) ein, unter anderem in die Bauchregion.

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„Eine lange, spitz zulaufende Klinge: Damit sind schwerste Verletzungen möglich, häufig verursachen solche Messer sogar tödliche Verletzungen“, sagt Rechtsmediziner Püschel. „Viel zu oft habe ich auf meinem Obduktionstisch Tote untersucht, denen mit genau solchen Waffen Schnitte und Stiche zugefügt worden waren.“

Messerstecher wollte seine Freundin langsam verbluten lassen

„Baran nahm aufgrund der Vielzahl der Stiche an, dass seine Freundin nun verbluten würde“, erzählt Richter Backen. Doch die Frau versuchte verzweifelt, aus dem Schlafzimmer zu entkommen. Er hinderte sie daran, indem er sie in eine enge Lücke zwischen dem Bett und der Wand zwängte. Hier blieb sie in unbequemer Lage eingekeilt auf dem Bauch liegen, unfähig, sich zu befreien. Jetzt eröffnete ihr Freund ihr ruhig und emotionslos, dass er sie in dieser Position verbluten lassen werde.

„Dem Tod auf der Spur“ ist der Crime-Podcast mit Rechtsmediziner Klaus Püschel und Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher
„Dem Tod auf der Spur“ ist der Crime-Podcast mit Rechtsmediziner Klaus Püschel und Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher © Hamburg | Hamburger Abendblatt

„Wenn ich höre, wie kaltblütig der Mann offenbar vorgegangen ist, gruselt es mich richtig“, meint Mittelacher. Auch das weitere Vorgehen des Messerstechers zeugt von besonderer Gefühlskälte. Als die eingekeilte Schwerverletzte Baran im Namen Allahs anflehte, er solle sofort einen Notarzt holen, sie wolle nicht so früh sterben, lachte er kurz auf und entgegnete, das sei ihm total egal. Schließlich flehte sie ihn an, entweder Hilfe zu holen oder sie von ihren Leiden endlich zu erlösen. „Da versprach ihr Daran, mit einem weiteren Messerstich ihr Sterben zu beschleunigen“, berichtet Backen.

Mit letzter Kraft konnte das Opfer Hilfe herbeitelefonieren

„Er verabreichte ihr sechs bis sieben Schmerztabletten“, erzählt Backen weiter. „Dann deckte er der 64-Jährigen die Augen mit der Bettdecke zu, damit er ihr bei dem Stich nicht in die Augen sehen musste, und vielleicht auch deshalb, weil er ihr den Anblick des Messers ersparen wollte. Anschließend rammte er ihr die lange Klinge des Brotmessers vollständig bis zum Griff in den Bauch. Dorthin und nicht etwa ins Herz, denn ein bisschen länger leiden sollte sie schon noch.“ Dann verließ der Messerstecher die Wohnung, steckte vorher noch das Handy seiner Freundin und deren Autoschlüssel ein. So wollte er verhindern, dass Daria Hilfe herbeitelefonieren oder fliehen konnte.

Allerdings gelang es der Schwerverletzten, das Küchenmesser langsam aus ihrem Bauch zu ziehen und anschließend auf den Knien das Telefon im Wohnzimmer zu erreichen. Mit letzter Kraft rief sie ihre Schwester an, um sich von ihr zu verabschieden. Doch die Schwester konnte die Schwerverletzte dazu bringen, ihr die Adresse zu nennen, wo sie sich aufhielt. Dann rief sie die Rettungsdienste an. Den Ersthelfern gelang es, das Opfer so weit zu stabilisieren, dass sie in ein Krankenhaus gebracht werden und dort notoperiert werden konnte. Der Täter wurde in der Nähe der Wohnung festgenommen.

Mit einem Messerstich in den Arm hat der Täter das Opfer gezielt gelähmt

Neben den Messerstichen in den Bauchraum hatte Daria weitere Verletzungen erlitten, unter anderem war ein Nerv am Ellbogen durchtrennt. „Tatsächlich hat der Mann den Arm seiner Freundin offenbar gezielt gelähmt“, bestätigt Püschel. „Wie später festgestellt wurde, wurde spätestens durch das Herausziehen des Messers der im Ellbogen verlaufende Nerv durchtrennt, wodurch Darias rechte Hand augenblicklich gefühllos wurde.“

Wieso er ausgerechnet diese Verletzung herbeiführte, ist teilweise mit Barans Biografie zu erklären. Der gebürtige Iraner hatte seit 1970 als Soldat im Krieg seines Heimatlandes gelernt, seine Gegner zu töten und sah, wie seine Kameraden verstümmelt wurden und starben.

Täter erlebte im Krieg im Iran Grausamkeiten – und lernte daraus

„In diesem Krieg gab es offenbar eine Besonderheit, um Gegner unschädlich zu machen“, erzählt Backen. „Oft machten sich die Soldaten nicht die Mühe, Gefangene zu fesseln. Sie schnitten ihnen stattdessen bestimmte Sehnen durch und durchtrennten Muskeln in den Beinen, um sie zu lähmen und an einer Flucht zu hindern. Dies endete für die Gefangenen nicht selten tödlich. Viele verbluteten.“

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1990 flüchtete Baran aus dem Iran über die Türkei nach Deutschland, wo er, seine Ehefrau und ihre drei Kinder 1991 Asyl erhielten. Hier arbeitete er längere Zeit als Hausmeister, begann schließlich, Alkohol zu trinken und Drogen zu konsumieren, überwiegend Kokain. Seine Ehe wurde geschieden. Später trat Daria in sein Leben; sie zogen zusammen. Und dann kam es zu der verhängnisvollen Tat in der Nacht zum 30. Mai 2012. Zu dieser Zeit war Baran alkoholisiert und hatte Kokain konsumiert.

Nachdem er Daria so schwer verletzt hatte, musste unter anderen der verletzte Nerv im Bereich ihres Ellenbogens operativ versorgt werden. „Trotz der Schwere dieser Schädigung durch den Messerstich war dies noch die am wenigsten bedrohliche Verletzung“, erzählt Püschel. „Den damaligen medizinischen Berichten zufolge hing ihr Leben wirklich am seidenen Faden. Sie war wegen der massiven Stichverletzungen im Bauch länger auf der Intensivstation, wurde eine Zeit lang künstlich beatmet …“

Messerstecher erhielt vor Gericht acht Jahre Freiheitsstrafe

Später verurteilt das Schwurgericht den 57 Jahre alten Angeklagten Baran unter anderem wegen versuchten Mordes zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren. Neben der Strafe ordnete die Kammer seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Das heißt, er musste sich einer Therapie in einer geschlossenen Klinik unterziehen.

Außerdem wurde Baran zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 12.000 Euro verurteilt. „Obgleich Daria im Prozess als Nebenklägerin aufgetreten war, bat sie am Ende des Verfahrens um Gnade für Baran“, erzählt Richter Backen. „Sie verzeihe ihm – er sei trotz allem ein guter Kerl. Wir fragten uns“, so Backen, „war die Aussage von Daria aufrichtig? Da sie viel gelitten hatte, kamen daran Zweifel auf. Übte etwa jemand Druck auf sie aus?“

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