Hamburg. In den USA hat das Rauschgift bereits Heroin abgelöst. Die Aidshilfe informiert: Deutscher Schwerpunkt der Droge vermutlich in Hamburg.

Eine Menge so groß wie nur wenige Salzkörnchen kann zum sofortigen Tod führen. Fentanyl, ein synthetisches Opioid, ist rund 50-mal stärker als Heroin, macht extrem abhängig und forderte in den USA im Jahr 2022 bereits mehr als 100.000 Todesopfer. Für Drogenhändler ist das Rauschgift hochlukrativ, denn Fentanyl ist einfach und billig zu produzieren. Deshalb hat es in Nordamerika das Heroin längst verdrängt.

Ob illegales Fentanyl – denn legal ist es als starkes Schmerzmittel erhältlich – bereits auf deutschen Straßen gedealt wird, war bisher weitgehend unklar. Ein Projekt der Deutschen Aidshilfe zeigt nun erstmals, dass die gefährliche Substanz auch hierzulande eine Rolle spielt, nämlich zum Strecken von Heroin. Das Fatale dabei: Die Konsumenten wissen nichts von der hochpotenten und damit lebensbedrohlichen Beimischung in ihrem Stoff. Den von der Aidshilfe erhobenen Daten zufolge bildet Hamburg den deutschlandweiten Schwerpunkt des riskanten Rauschmittels.

Gefährliche neue Droge: Hamburg ist Fentanyl-Spitzenreiter

Das Rapid-Fentanlyl-Testing-Projekt (Raft) der Deutschen Aidshilfe ist eine der ersten Erhebungen über das Vorkommen von Fentanyl-Beimischungen in Deutschland. 17 Konsumräume – darunter auch das Hamburger Drob Inn, das Stay Alive und der Drogenkonsumraum ausschließlich für Frauen des Ragazza e.V. in St. Georg – waren Teil des Raft-Projekts. Im vergangenen Jahr boten sie Heroin-Konsumenten über sechs Monate an, ihren Stoff auf Fentanyl-Beimischungen zu testen. Dazu erhielten die Konsumräume Schnelltest-Kits. Für die fünf Minuten dauernden Proben wurden lediglich Abstriche von der Verpackung des Stoffs genommen, die Konsumenten mussten nichts von der Substanz abgeben.

Bei insgesamt 1401 Testungen konnten die Konsumräume in 50 Fällen Verunreinigungen mit illegalem Fentanyl feststellen. Aufhorchen lässt dabei, dass sich die Mehrzahl der Fälle in Hamburg konzentriert. Während der Anteil der positiven Testungen auf Fentanyl an der Gesamtzahl der Proben nur 3,6 Prozent beträgt, waren fast elf Prozent der Proben aus Hamburg positiv. Das ist der eindeutig höchste Wert unter allen untersuchten Städten. In Berlin waren beispielsweise gerade einmal 0,4 Prozent der Tests positiv, in Nordrhein-Westfalen zwei Prozent.

Ist der Hamburger Hafen schuld an den vielen Fentanyl-Beimischungen?

Illegales Fentanyl wird hauptsächlich in China und Mexiko produziert. Ob es pur oder direkt mit Heroin gemischt in Deutschland ankommt, kann Maria Kuban, Leiterin des Raft-Projekts der Aidshilfe, nicht eindeutig sagen. Hinsichtlich der vergleichsweise vielen positiven Tests auf Fentanyl-Beimischungen im Hamburger Heroin sagt sie jedoch: „Für mich wäre es zumindet eine nachvollziehbare Erklärung, dass sich der Schwerpunkt Hamburg durch den Transport über den Seeweg erklären lässt.

Doch die illegale Droge müsse nicht zwingend aus dem Ausland stammen. Denn Fentanyl ist kein experimentelles Produkt aus dem Drogenlabor. Im medizinischen Bereich dient der Wirkstoff als hochpotentes Schmerzmittel, das etwa gegen Tumorschmerzen verschrieben und von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als „unentbehrlich“ gelistet wird. „Auch daraus ergibt sich natürlich ein Schwarzmarkt“, sagt Kuban. So könnten verschreibungspflichtige Fentanyl-Pflaster aufgelöst und injiziert werden.

Ein Sprecher der Polizei Hamburg berichtet, dass es im vergangenen Jahr vereinzelt Diebstähle von neuen und gebrauchten dieser Pflaster aus Krankenhäusern und Pflegeinrichtungen in der Stadt gegeben habe. Ob die im Raft-Projekt gefundenen Beimengungen aus pharmazeutischer oder illegaler Produktion stammten, ist nicht festzustellen.

Fentanyl: In Deutschland bislang keine Situation wie in Nordamerika

In Ost- und Süddeutschland gibt es keine beziehungsweise kaum Drogenkonsumräume. Deshalb bilden die Ergebnisse des Raft-Projekts nicht das gesamte Land ab und bieten nur einen ersten Anhaltspunkt dafür, in welchem Umfang Fentanyl in Drogenszenen in Deutschland konsumiert wird, ohne dass es den Konsumierenden bewusst ist. Die Anzahl der positiven Tests lässt „keine gesicherten Schlüsse über die generelle Häufigkeit von Fentanyl zu, insbesondere nicht in Städten, in denen lediglich sehr wenige Proben positiv waren“, teilt die Aidshilfe mit.

Sicher sei wiederum: „Eine Situation wie in Nordamerika zeichnet sich aus unserer Sicht aktuell nicht ab.“ In den USA und Kanada herrschen verheerende Zustände, auch weil es dort jahrelang recht einfach war, Fentanyl als Schmerzmittel verschrieben zu bekommen. Der Rapper Coolio zählt zu den Opfern der Opioidkrise und auch Prince hatte vor seinem Tod unwissentlich eine Überdosis Fentanyl eingenommen – zwei gängige Namen unter Hunderttausenden unbekannten. Davon ist Deutschland weit, weit entfernt – noch. Doch auch hier starben im Jahr 2022 bereits 83 Menschen nachweislich unter Einwirkung synthetischer Opioide.

Hamburg: Drob Inn und Ragazza e.V. zufrieden mit Projekt der Aidshilfe

Mal wieder gilt, eine kommende Welle frühzeitig zu brechen. „Der Hintergrund des Projekts (Raft) ist, dass es in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern Fentanyl-Krisen gibt oder gab“, erklärt Kuban. Neben den USA und Kanada habe sich beispielsweise schon in Estland beobachten lassen, wie Heroin-Konsumenten in großer Zahl auf die neue, hochpotente Alternative umsteigen. Für die europäischen Länder sollte das Anlass sein, sich schon jetzt auf eine mögliche Schwemme vorzubereiten. Projekte wie Raft geben dabei nicht nur einen ersten Einblick, inwiefern Fentanyl in Deutschland bereits in Umlauf ist. Zugleich sensibilisieren sie die Szene für die neue Droge und ihre Gefahren.

„Fentanyl wird bisher vor allem von Menschen genommen, die vorher schon Opiate konsumiert haben“, sagt Kuban. Doch wie das Raft-Projekt zeigt, gibt es auch immer wieder Fälle von unbemerkten Beimengungen des Stoffs. Dann erhalten Heroin-Konsumenten etwas ganz anderes von ihren Dealern, als sie erwarten. Für die Händler lohnt sich das, weil Fentanyl deutlich günstiger ist als Heroin und noch abhängiger macht. Es ist das perfekte Streckmittel. Die Konsumenten hingegen gehen ein großes Risiko ein, weil das Rauschgift deutlich geringer dosiert werden sollte. „Die Menschen sind ja nicht erfreut über die Beimengung von etwas, was sie nicht bewusst gekauft haben. Sie möchten die Wirkung, die sie kennen, aber sie möchten nicht sterben“, sagt Kuban.

Drob Inn: Heroin-Konsumenten nahmen Raft-Angebot vielfach wahr

70 Prozent aller Konsumenten, denen im Rahmen von Raft ein Testangebot gemacht wurde, haben es angenommen, so die Aidshilfe. Die hohe Zustimmung bestätigt auch Lisa Duvinage, Einrichtungsleiterin des Drob Inn. Sie berichtet, dass das Testangebot von den dortigen Konsumenten nach einer Weile teils sogar eingefordert wurde. Die Mitarbeiter hätten viel Aufklärungsarbeit leisten können, auch außerhalb der Konsumräume, beispielsweise auf dem Vorplatz der Einrichtung. Die Teilnahme am Raft-Projekt empfindet sie als lohnenswert, da es Konsumenten und Drob-Inn-Mitarbeitern ein besseres Bewusstsein verschafft habe, was derzeit tatsächlich im Umlauf ist.

Ähnlich positiv blickt der Ragazza e.V. auf die Teilnahme am Projekt zurück. Laut einer der Sozialarbeiterinnen haben hier rund 220 Heroin-Konsumentinnen das Angebot wahrgenommen, ihren Stoff testen zu lassen. Als einziger Hamburger Konsumraum habe Ragazza dabei nicht eine einzige positive Testung auf Fentanyl-Beimengungen gemacht – was alles andere als negativ ist.

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Die Aidshilfe leitet aus den Raft-Projektergebnissen dringenden Handlungsbedarf ab, um Zustände etwa wie in den USA tunlichst zu vermeiden: „Es ist nun höchste Wachsamkeit geboten“, sagt Winfried Holz aus dem Vorstand der Deutschen Aidshilfe. „Die Bundesländer sowie die Kommunen müssen jetzt dafür sorgen, dass Drogenhilfeeinrichtungen und Konsumierende vorbereitet sind.“ Es bedarf umfassender Aufklärung innerhalb der Szene und der Verfügbarkeit von Schnelltests in Drogenkonsumräumen.

Die Aidshilfe plädiert zudem dafür, dass mehr Menschen Zugang zum Wirkstoff Naloxon erhalten. Als Nasenspray kann Naloxon einen Heroin- oder Fentanyl-bedingten Atemstillstand abwenden. Naloxon hat kein Missbrauchspotenzial und ist dennoch verschreibungspflichtig, weshalb selbst Streetworker das Medikament in der Regel nicht beziehen können – und die eigentlich gefährdeten Konsumenten schon gar nicht.