Hamburg. Polizeipräsenz und Sozialarbeit sollen Lage verbessern. Vor Ort zeigt sich dramatisches Bild – dabei spielt Crack eine tragende Rolle.
Es ist das pure Elend auf dem Vorplatz des Drob Inn. In Sichtweite des Hamburger Hauptbahnhofs kauern Menschen in Gruppen zusammen, einige sind im Drogenrausch umgekippt oder schlafen auf dem Boden. Viele humpeln, weil sie Probleme mit den Füßen haben. In einem Rollstuhl fährt ein Mann über die Rasenfläche. Auf seinen rechten Fuß passt kein Schuh mehr. Er wirkt wie ein aufgeblasener Ballon.
Die einstige Rasenfläche zur Adenauerallee hin gleicht weitestgehend einer Steppe: sandiger Boden, auf dem kein Halm mehr wächst. Erst im letzten Drittel zur Straße hin gibt es wieder Gras, das Grün wird voller. Auffällig viele Vögel flattern herum und picken auf den Boden. Es gibt viel Müll.
Am Hauptbahnhof Hamburg: Das Drob Inn als Elendsort
Rund um das Drob Inn hat sich ein Hamburger Elendsort entwickelt, der in Deutschland seinesgleichen sucht. Etwa 250 Süchtige und Gestrandete sitzen hier jeden Tag. Besonders frequentiert ist der gepflasterte Weg, der durch die Grünfläche zum Drob Inn führt. An seinem Ende steht eine Menschentraube. Der zweite Sammelpunkt ist der Zaun zu den Bahngleisen. Auch dorthin zieht es besonders viele. Manche taumeln mehr, als dass sie gehen. Ein einbeiniger Bettler in völlig abgerissener Kleidung bahnt sich seinen Weg. Die Bewegungen der Menschen hier wirken so, als folgten sie der Regie eines Weltuntergangs-Szenarios für die Kino-Leinwand. Allerdings ist das hier tägliche Realität.
„Dort ist gerade ein Fass dabei überzulaufen“, sagt der Kriminologe Wolf R. Kemper von der Leuphana Universität in Lüneburg. „Es entwickelt sich eine Szene aus Menschen, denen alles egal ist. Das wird dann sichtbarer.“ Und es sind augenscheinlich immer mehr Menschen, die sich rund um den Hauptbahnhof sammeln. Die Gegend wirkt wie ein Magnet auf die Szene.
SPD-Fraktionschef: „So, wie die Situation jetzt ist, kann sie nicht bleiben“
Dabei kommen längst nicht alle Süchtigen, die dort anzutreffen sind, aus Hamburg. Viele sind nicht einmal aus Deutschland. Manche Süchtigen stammen aus Ost- oder Südosteuropa. Dazu kommt eine Trinkerszene, die sich mit der angestammten Drogenszene vermengt. Eine weitere Beobachtung von Kennern der Verhältnisse am Drob Inn: „Alt-Konsumenten“, also langjährig Abhängige, werden von vornehmlich aus Nordafrika stammenden Szenegängern in weiter entfernte Stadtteile und Einrichtungen wie das „Abrigado“ in Harburg verdrängt.
Die Hamburger Politik hat sich einen „Zangenangriff“ auf das größte Problem der City vorgenommen: Mit mehr und anderer Polizeiarbeit soll die Sicherheit für alle erhöht werden. Sozialarbeit, weitere Aufenthaltsangebote im Viertel und neue Konzepte bei Beratung und Behandlung von Suchtkranken und Obdachlosen sollen das ergänzen. SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf betont gegenüber dem Abendblatt: „So, wie die Situation jetzt ist, kann sie nicht bleiben – das muss jedem klar sein.“
Hauptbahnhof: Wie Crack zum größten Problem wurde
Allerdings verteidigt er auch die bisherige Strategie: „Bis vor zwei, drei Jahren hatte sich das Drob Inn als Lösung bewährt. Wir hatten es geschafft, das Drogenmilieu mit seinen Begleiterscheinungen und Belastungen aus dem Hauptbahnhof und den Nebenstraßen in St. Georg herauszuholen und dorthin zu verlagern. Das war natürlich auch keine Ideallösung, aber so hatten wir wenigstens Transparenz und wussten, was dort vor sich geht.“
Doch seit gut zwei Jahren gebe es „eine bedenkliche Entwicklung, auch quantitativ“, so Kienscherf. Seine Erklärung: „Das hängt mit der zunehmenden Crack-Problematik zusammen.“ Wenn solche relativ günstigen Drogen verfügbar seien, vergrößere sich die Szene. Gleichzeitig halte die Wirkung von Crack nur kurz an. Süchtige seien ständig unter Druck, sich Geld für den nächsten Rausch zu beschaffen. Das befördere das Betteln und die Diebstähle.
Christine Tügel vom Drob-Inn-Trägerverein Jugendhilfe sagt, der Crackkonsum innerhalb der Klientel sei seit Jahren relativ stabil. „Insgesamt ist laut der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht ein Anstieg des Kokainkonsums zu verzeichnen, der sich jedoch auf unterschiedliche soziale Gruppen verteilt.“ Dazu zählen etwa auch Besucherinnen und Besucher von Clubs.
Drob Inn: Was ein Kriminologe sagt
Bevor Crack den Markt eroberte, war Heroin die Droge, die die Szene beherrschte. Die Abhängigen vegetierten auch damals im Stadtteil rund um den Hauptbahnhof vor sich hin. Viele benutzten dieselbe Spritze. Krankheiten wie Aids oder Hepatitis breiteten sich aus. Infektionen führten zu schlimmen Entzündungen an Armen und Beinen, manchmal sogar im Mund, wenn sich die Konsumenten Heroin unter die Zunge spritzten.
Crack galt deshalb als „sauber“, als Droge, bei der man keine Nadel brauchte. „Es hatte sich damals eine komplette Infrastruktur gebildet“, sagt der Kriminologe Kemper, der die Szene in Hamburg gut kennt. In jedem Kiosk gab es Crack-Pfeifen und andere Utensilien wie spezielle Feuerzeuge zum Entzünden des Crack-Steins. Einen zusätzlichen Schwung gab es, weil Konsumenten, die sich mit „normalem“ Kokain die Nase löchrig gekokst hatten, auf den Konsum von Crack umstellten, das geraucht wird.
Das neue Toilettenhäuschen wird zweckentfremdet
Dass Crack im Prinzip nichts Neues sei, sagt auch Thomas Jungfer, Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG). „Als ich Ende der 1990er Jahre selbst dort als Polizist in der Drogenszene gearbeitet habe, war Crack bereits ein Thema.“ Der Kriminologe Kemper verortet den Aufstieg des chemisch aufbereiteten Kokains, das nach dem Inhalieren binnen zehn Sekunden den Konsumenten in einen Rauschzustand versetzt, mehr an den Anfang bis in die Mitte der 1990er Jahre. Das legt auch eine Mitteilung nahe, die das Drob Inn anlässlich seiner fünfjährigen Tätigkeit herausgab. Damals bezifferte man die Zahl der Nutzer, die dort Crack, aber auch Heroin geraucht hatten, bereits auf 93.000. Die Zahl der Spritzen, die das Drob Inn ausgab, wurde damals mit 193.000 angegeben.
Heute ist es so, dass aufgrund der Ballung an Süchtigen vor Ort eine öffentliche Toilette aufgestellt wurde. Sie hat zwei Kabinen, die ständig belegt sind – und lang. Eine Frau steht davor, rüttelt am Klohäuschen und ruft immer wieder: „Macht schnell.“ Sie will hinein. Dringend. Was im Innern vorgeht, lässt sich erahnen, weil die Türen unten und oben zum Teil offen sind. So sieht man die Füße der Benutzer. Ihre Stellung verrät, dass die Toiletten in vielen Fällen offensichtlich nicht im Sinne der Benutzungsordnung aufgesucht werden.
Zweites Drob Inn am Hauptbahnhof? „Schon die Standortfrage wäre schwierig“
SPD-Mann Kienscherf hält den zweigleisigen Lösungsansatz für geboten: „Es ist richtig, auf der einen Seite repressivere Maßnahmen zu ergreifen und auf der anderen Seite zu gucken, wie man das Drob Inn entlasten kann. Das wird von den Behörden sehr intensiv geprüft.“ Er habe den Eindruck, dass die größere Zahl an Polizeikräften am Hauptbahnhof und am ZOB – die örtliche Wache wurde um 30 Kräfte verstärkt –schon etwas bewirke: „Das waren schwierige Zustände, aber jetzt läuft es besser.“
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In der Diskussion um eine zweite Hilfeeinrichtung für Drogenabhängige zeigt sich Kienscherf skeptisch: „Die Frage nach einem weiteren Drob Inn allein wird der komplexen Problemlage nicht gerecht. Schon die Standortfrage wäre ja schwierig. In der City wird man kaum geeignete Orte finden können und Industriegebiete fallen schon deshalb weg, da wir die Personen ja auch dazu bewegen müssen, dorthin zu kommen.“ Auch wenn es schwierig sei: „Unser Ziel muss es bleiben, an die Menschen am jetzigen Standort heranzukommen – damit wir sie im Blick haben und ihnen helfen können.“
Drob Inn hat extra einen Crack-Raum und könnte auch sonntags öffnen
Christine Tügel vom Drob Inn begrüßt es, dass die Sozialbehörde mit anderen Bundesländern ein Modellprojekt beim Bundesgesundheitsministerium angestoßen habe, um eine medikamentöse Therapie von Crack-Sucht zu erforschen.
Im Drob Inn können Süchtige in einem geschlossenen Raum „mit entsprechender Lüftung“ Crack konsumieren. Tügel sagt, die Öffnungszeiten der Einrichtung seien in der Vergangenheit mehrfach ausgeweitet worden. „Aktuell ist eine Öffnung am Sonntag im Gespräch. Hierzu sind die Verhandlungen mit der Sozialbehörde jedoch noch nicht abgeschlossen.“
Polizeigewerkschafter: „Das erzeugt einen Sogeffekt“
Seit einigen Monaten ist die Polizei auch im Rahmen der „Allianz Sicherer Hauptbahnhof“ mit einem großen Aufgebot nah an der Szene dran. Polizei, Bundespolizei und die Sicherheitsdienste der Bahn und der Hochbahn haben sich enger vernetzt und gehen gemeinsam Streife – auch Richtung Drob Inn.
Polizeigewerkschafter Jungfer nennt das Konzept „nicht nachhaltig“. In der Vergangenheit sei in St. Georg immer wieder die Polizei eingesetzt worden, um die Gegend „einigermaßen zu befrieden“, so Jungfer. „Es ist wie eine Wellenbewegung. Am Ende hat kein Konzept eine dauerhafte Lösung gebracht. Das gilt nicht nur für die der Innenbehörde, sondern auch aller anderen Behörden oder sozialen Einrichtungen.“ Er hielte es für sinnvoller, die Attraktivität der Gegend für die Szene herabzusetzen. „Man muss sich nichts vormachen. Viele Dinge, die gut gemeint sind, erzeugen einen Sogeffekt.“
Kienscherf plädiert dafür, die Zustände rund um den Hauptbahnhof ernst zu nehmen, aber nicht zu dramatisieren: „Hamburg ist der meistfrequentierte Bahnhof Deutschlands. Daher wird aufgrund der absoluten Zahlen an Delikten manchmal der Eindruck erweckt, er sei der schlimmste Bahnhof im ganzen Land. Dabei liegt der Hamburger Hauptbahnhof nur an zehnter Stelle, wenn man sich die Straftaten pro Besucher anschaut. Trotzdem sind wir mit der Situation nicht zufrieden: Da muss man da ran und wir sind da dran!“