Hamburg. Harsche Post aus der Praxis: Wer Hausarztverträge verweigert, dem soll gekündigt werden. Doch dahinter steckt eine Verbesserung.

In Hamburg einen Hausarzt zu finden, das gleicht immer mehr einer Glückslotterie. Von einem Hamburger Hausarzt als Patient aus der Praxis gedrängt zu werden – das kann in diesen Tagen schon eher passieren. So zumindest empfinden es Patienten, wenn „ihr“ Doktor E-Mails schreibt, in denen Sätze stehen wie: „Alle unsere Patienten müssen an den Hausarztverträgen teilnehmen. Den Patienten, die sich einer Teilnahme aus uns nicht nachvollziehbaren Gründen verweigern, kündigen wir hiermit den Service.“ Da Patienten 50 Euro Kosten verursachten, dem Hausarzt aber nur 45 Euro brächten, könne die Praxis nicht anders überleben. „Für eine nicht kostendeckende Bezahlung können Sie außer Krankschreibungen und Überweisungen dann nichts erwarten, Ausnahme echte Notfälle.“

Die Praxis fordert ihre Patientinnen und Patienten zudem zum Wechsel der Krankenkasse auf für den Fall, dass ihre Kasse keine Hausarztverträge anbietet. Wie das gelingt, wird auch gleich erklärt. Und: „Falls Sie sehr an Ihrer alten Kasse hängen, bedenken Sie bitte: Eine Krankenkasse, die seit zehn Jahren ein Gesetz nicht umsetzt, was uns Hausärzten das Überleben sichern soll, hat Ihre Beiträge schlicht nicht verdient!“

Hausarzt Hamburg: Honorarstreit hat drastische Folgen

Der Honorarstreit der niedergelassenen Ärzte mit den gesetzlichen Krankenkassen und Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und ihr tiefer Frust sind angekommen im innigen und geschützten Verhältnis zu ihren Patienten. In den Praxen muss nun ausgetragen werden, was sich gesundheitspolitisch in den vergangenen Monaten extrem hochgeschaukelt hat. Gestiegene Personalkosten, hohe Mieten und Energiepreise, die Überalterung und anstehende Verrentung der Babyboomer-Generation von Ärztinnen und Ärzten und Unmut über lahmende Praxis-Technologie und Stückwerk wie das e-Rezept – das sind tiefe Ursachen für rhetorisch eskalierte Patientenkommunikation. Hamburgs Ärzte lassen Dampf ab.

Hausarzt Dr. Frank Stüven aus Nettelnburg ist einer von Ihnen. Zwei Drittel der von ihm Versorgten sind bereits in einen Hausarztvertrag eingeschrieben. Das bedeutet: Sie haben sich gegenüber ihrem Hausarzt und ihrer Krankenkasse verpflichtet, immer zuerst dessen Praxis aufzusuchen (außer Notfälle). Von ihm erhalten sie Überweisungen zu Fachärzten, falls das notwendig ist. Nur so erhält der Hausarzt sicher den Bericht des Facharztes und kann die Ergebnisse wieder in seine Behandlung integrieren.

Mit dem Schnupfen gleich zum HNO-Arzt oder in die Notaufnahme?

Stüven sagt: „In Deutschland kann man mit der Krankenkassen-Chipkarte hingehen, wohin man will. Da gehen manche mit Kopfschmerzen zum Neurologen.“ Andere vom Abendblatt befragte Allgemeinmediziner können diese Liste falscher – und teurer – Inanspruchnahme spezieller medizinischer Angebote bei Allerweltserkrankungen noch ergänzen. Sie berichten von Menschen, die beim ersten ungewohnten Ziehen im Rücken einen Termin beim Orthopäden machen, mit Schnupfen einen Hals-Nasen-Ohren-Experten aufsuchen oder nach dem Abendessen gleich die Notaufnahme heimsuchen. Da klingt Spott mit.

Die Ärzte können nicht verstehen, wie viele Menschen ihr Körpergefühl verloren zu haben scheinen. Und ihr rationales Argument sticht: Wenn sich leichter Erkrankte sofort an Fachärzte wenden, blockieren sie dort Termine für chronische oder schwere Fälle. Doch kann man Patienten einen Vorwurf machen, wenn sie nicht wissen, was Hausarztverträge sind und dass es sinnvoll sein könnte, sich dort einzuschreiben?

Arzt Hamburg: Personalkosten, Mieten und Energiepreise drücken auf die Honorare

„Wir bekommen seit Jahren 45 Euro pro Kassen-Patienten pauschal im Quartal. Unsere Kosten liegen jedoch bei etwa 50 Euro durch die Personalkosten, Mieten, Energie und so weiter. Ist der Patient bei einer Krankenkasse mit einem Hausarztvertrag, erhalten wir 85 Euro.“ Stüven ist sicher, dass seine Praxis bislang nur überleben konnte, weil der Anteil seiner Patienten mit Hausarztvertrag so hoch ist.

Kollegen Stüvens glauben, dass in Hamburg eine Praxis anders nicht mehr überlebensfähig ist – außer mit extrem vielen Privatpatienten oder der viel kritisierten „Husch-husch-Medizin“, also oberflächlicher Begutachtung in kurzer Zeit. „Mit diesen Verträgen können wir uns mehr Zeit nehmen für die einzelnen Patienten. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass die Versorgung durch einen Hausarzt mit diesen Verträgen besser und die Sterblichkeit bei Patienten geringer ist“, sagt Stüven.

Tatsächlich belegt das eine Studie zweier Unis, die das für den Hausärzteverband Baden-Württemberg über einen längeren Zeitraum untersucht haben. Bei zahllosen Diabetikern konnten Verschlechterungen ihres Gesundheitszustandes vermieden werden, Schlaganfälle und Herzinfarkte ebenso.

Hausarztverträge: KV Hamburg ermahnt Ärzte

Die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg unterstützt die Ärzte-Proteste gegen die Gesundheitspolitik. Doch was die harsch klingende Kommunikation mit den Patienten und die rechtliche Seite angeht, da kennt die KV kein Pardon. In einer Stellungnahme für das Abendblatt heißt es, man verstehe, dass Praxen ihre Patienten über die Hausarztzentrierte Versorgung (HzV) informieren wollen. Für die Überlastung und eine „desaströse Honorarsituation“ habe man Verständnis.

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„Die Teilnahme an der HzV allerdings zur Bedingung der Behandlung eines Patienten zu machen würde einen Verstoß gegen die gesetzlichen Regularien (insbesondere Paragraf §13 Bundesmantelvertrag-Ärzte beziehungsweise Paragraf 7 Musterberufsordnung-Ärzte) darstellen und entsprechende Konsequenzen nach sich ziehen, sowohl von Seiten der KV als auch von Seiten der Ärztekammer. Auch der Verweis auf einen möglichen Kassenwechsel wäre nicht rechtmäßig.“

Den Medizinern sind in ihrem Werben für die Hausarztverträge also enge Grenzen gesetzt. Stüven jedoch denkt bereits an einen Nachfolger, sollte er dereinst in Rente gehen. „In Hamburg ist die Grenze überschritten. Man kann eine Praxis ohne Hausarztverträge nicht mehr wirtschaftlich betreiben. Das ist aber auch eine Voraussetzung, um in Zukunft einen möglichen Nachfolger zu finden, der die Patienten dann weiterversorgt.“ Stüven hat nicht nur den ärztlichen Nachwuchs im Blick. Nach eigenen Angaben zahlt er seinen Medizinischen Fachangestellten einen zehnprozentigen Aufschlag, damit sie etwas mehr Geld in der Tasche haben in der Hochpreis-Metropole Hamburg.