Hamburg. Keine Krankmeldungen und Rezepte wegen Systemabstürzen in der Telematik. Ärzte und Patienten genervt von Wartezeiten.
Aus technischen Gründen kommt es in zahlreichen Hamburger Arztpraxen derzeit zu Einschränkungen und Verzögerungen, die für erhebliche Verstimmungen sorgen. Im Gespräch mit dem Abendblatt sagen Ärztinnen und Ärzte, dass ihre Praxen zum Teil lahmgelegt werden. Das hat Auswirkungen auf Patientinnen und Patienten, die ein Rezept brauchen, eine elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) oder die Daten auf ihrer elektronischen Gesundheitskarte aktualisieren lassen müssen. Sie müssen mit mehr Wartezeit rechnen.
Hintergrund sind Abstürze bei der Computer-Verbindung der Praxis zur sogenannten Telematik-Infrastruktur (TI). Über ein mutmaßlich sicheres System mit eigenen Konnektoren, also einer Art Verschlüsselungsbox, verbindet sich die Praxis mit diesem geschützten Daten-Netzwerk. Nach Zahlen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung hatten sich die täglichen Störungen bei neun Prozent aller Geräte auf 18 Prozent (2020 auf 2021) bereits verdoppelt. Im Jahr 2022 tauchten tägliche Störungen bei 29 Prozent aller Konnektoren auf. Bei Hausärzten war fast jede zweite Praxis davon betroffen. Offenbar kann das Netzwerk die Last der Zugriffe nicht verkraften.
Computerpannen bei Ärzten in Hamburg: „Praxen massiv gestört“
Der Hamburger Orthopäde Dr. Torsten Hemker sagte dem Abendblatt: „Ich bin ein Fan der Digitalisierung. Aber die Verbindung der Praxen zur Telematik-Infrastruktur ist massiv gestört. Jeden Tag gibt es Systemabstürze, die die Praxen lahmlegen.“ Hemker und sein Team sind bis zu drei- oder viermal täglich davon betroffen. Jeder Neustart dauert bis zu 30 Minuten. Hemker ist im Berufsverband engagiert und außerdem Ärztlicher Geschäftsführer der Facharztklinik und hat somit tiefere Einblicke in die Organisation der Niedergelassenen in Hamburg.
„Meine Helferinnen sind maximal genervt. Sie sagen: Ich bin doch kein Computerfreak. Uns fehlt noch mehr Zeit, die eigentlich für die Behandlung der Patienten reserviert ist.“ Ärzte und Patienten müssten unnötig lange warten, sagt Hemker. Bei Abstürzen müsse alles per Hand eingegeben werden. „Das ist ein Riesenaufwand – und alles wegen einer Technik, die aus dem Jahr 2003 stammt. Stellen Sie sich vor, Sie hätten ein Handy von 2003!“
Kassenärztliche Vereinigung: „Eine irrsinnige Digital-Bürokratie“
Die in der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg für IT zuständige Vorständin Caroline Roos sagte, es habe sich mittlerweile eine „irrsinnige Digital-Bürokratie“ entwickelt, die Ärzten und Psychotherapeuten Zeit für ihre Patienten raube. „Das können wir uns als Gesundheitssystem und als Gesellschaft nicht leisten.“ Roos schrieb im „KVH Journal“, digitale Formulare hätten „gut funktionierende analoge Prozesse“ abgelöst, „ohne die Prozesse konsequent zu durchdenken“. Die KV-Vorständin hat sich in den vergangenen Jahren zur IT-Expertin entwickelt, die bei Vertreterversammlungen den Niedergelassenen erklären muss, welche neuen Kniffe aus der Gematik in Berlin kommen.
Das ist die Technik-Gesellschaft, die von Ärzten, Apothekern, Krankenhäusern und Krankenkassen getragen, aber mehrheitlich vom Bundesgesundheitsministerium bestimmt wird. Diese Gematik verantwortet auch die elektronische Gesundheitskarte, die seit ihrer Einführung für Ärger sorgt – und die nach Jahren künftig Zugang zu einer elektronischen Patientenakte (ePA) für alle bieten soll. So sehen es auch die Pläne von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vor. Die ePA kann helfen, überflüssige Untersuchungen zu vermeiden und die Kommunikation zwischen verschiedenen Behandlern eines Patienten zu verbessern.
Elektronische Patientenakten für alle gesetzlich Versicherten
Für das „Befüllen“ dieser digitalen Akte wiederum sollen die Ärzte verantwortlich sein, die dafür ein „beschämend geringes“ Honorar erhalten sollen, wie ein Verantwortlicher sagte. Das Ministerium widersprach zuletzt Berichten, die Patientendaten auf der ePA seien nicht sicher und könnten von der Forschung oder gar Pharmaunternehmen abgesaugt werden. Auf der ePA sollen alle Diagnosen, Behandlungen und Laborwerte eingetragen werden. Patienten sollen laut Ministerium entscheiden können, ob sie ihre Daten für die Forschung zur Verfügung stellen. Das soll in einem anonymisierten, verschlüsselten Verfahren geschehen.
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Hinter der elektronischen Gesundheitskarte und ihrem in diesen Tagen gestörten Zugang zum Netzwerk an Patientendaten steckt also erheblich mehr als nur die Einzelabrechnung mit der Krankenkasse. Ein bundesweit beachtetes Projekt aus Hamburg will im Auftrag der Gematik die wackeligen Konnektoren in den Praxen ganz abschaffen und eine Art WhatsApp für Gesundheitsdaten entwickeln – nur sicherer als die Facebook-Tochter.
WhatsApp für Gesundheitsdaten – Projekt aus Hamburg
Das Ärztenetz um Laborarzt Dr. Jens Heidrich und Markus Habetha, IT-Chef des Marienkrankenhauses, hat mehrere Krankenhäuser, Pflegedienste und die Sozialbehörde ins Boot geholt. Sie arbeiten an einem Messengerdienst fürs Handy, der zum Beispiel schon dem Notarzt im Rettungswagen ermöglichen soll, wichtige Patientendaten zu überspielen. Karte einstecken und einen eventuell vorhandenen Notfalldatensatz auslesen – das soll in Zukunft zeitgemäßer gelöst werden.
Elektronische Rezepte sollen gesetzlich Versicherte schon von Juli an bekommen und einlösen können. Lauterbach und die Gematik versprechen Patienten und Ärzten eine Zeitersparnis und, dass die Gesundheitskarte dafür reichen soll. Allerdings muss es die modernste Version sein, und Apotheken müssen ein Kartenlesegerät haben, das eine schnelle Verbindung aufbaut. Patienten können sich auch die App aufs Handy holen, die das Einlösen bei der Apotheke möglich macht, oder einen ausgedruckten Code vom Arzt.
Karl Lauterbach am Freitag in Hamburg
Der von Computer-Pannen verärgerte Orthopäde Hemker sagte: „Wenn sich der Minister hinstellt und sagt: Jetzt kommt das E-Rezept, dann frage ich: Wem nützt das? Nicht den Patienten und Ärzten.“
Am Freitag besucht Lauterbach Hamburg und lässt sich im Integrierten Notfallzentrum des Marienkrankenhauses zeigen, wie Hightech dabei hilft, Akutpatienten richtig zu steuern. Die Klinik wird bundesweit als Vorreiter für Notaufnahmen betrachtet. Mit Spannung wird erwartet, was der Minister zum Stand der Krankenhausreform sagen kann.