Hamburg. Bei der zweiten Großdemonstration gegen Rechtsextremismus binnen weniger Tage sind viele Familien dabei. Wir haben uns umgehört.
Am frühen Sonntagmorgen musste erst einmal gemalt werden. Auf einem weißen Bettlaken hat Hennig mit großen schwarzen Buchstaben „No AfD!“ geschrieben, darunter dann in bunten Buchstaben „Für eine multikulturelle Gesellschaft!!! Für ein geeintes Europa!!! Für Akzeptanz und Toleranz!!! Freiheit, Gleichheit, Menschlichkeit.“ Seine Töchter Frida und Marla durften das Transparent noch mit selbst gemalten Blumen veredeln – und fertig war das Plakat für die Demonstration.
Wenige Stunden später stehen Papa Hennig (46), Töchterchen Marla (4) und Oma Dorothee (72) auf der überfüllten Ludwig-Erhard-Straße, halten die selbst gemalte Botschaft in den blauen Himmel und lauschen den ersten Reden der zweiten Großdemo gegen Rechtsextremismus in Hamburg binnen weniger Tage. Oma Dorothee ist aus Harburg gekommen, Sohn Hennig und Enkeltochter Marla sind sogar aus Bad Oldesloe angereist.
Hamburger Veranstalter sprachen von 100.000 Demonstranten gegen Rechtsextreme
„Wir wollen ein Zeichen setzen. Die breite Masse will für die Demokratie einstehen, die AfD will das nicht“, sagt Hennig, der sich freut, dass neben ihnen erneut Zehntausende zu der Demonstration gekommen sind, zu der ein breites Bündnis verschiedener Organisationen aufgerufen hatte.
Seit mehr als einer Woche steht die Republik auf der Straße. Auf dem Jungfernstieg waren es vor zehn Tagen mehr als 50.000 Menschen. Es folgten Berlin, München, Köln, Leipzig. Mehr als eine Million Menschen, die vor einer Woche gegen die AfD und ihre Ideologie demonstrierten. Doch das war erst der Anfang.
Dienstag: Darmstadt, Heilbronn, Rottenburg am Neckar. Überall waren es Tausende. Am Mittwoch dann: Chemnitz, Dessau-Roßlau. Donnerstag: Mönchengladbach, Siegen, Rostock. Freitag: Frankfurt am Main, Saalfeld, Gütersloh. Sonnabend: Kaiserslautern, Kiel, Wismar. Zwischen Dienstag und Sonntag wurden 230 Veranstaltungen im ganzen Land angemeldet. Wieder klare Kante, wieder ein deutliches Zeichen gegen Rechtsextreme.
Und am Sonntag hieß es schon wieder „Nie wieder!“ in Hamburg. „Wir haben eine gute Demokratie, die müssen wir aber verteidigen“, sagt Oma Dorothee, die auch schon vor einer Woche auf dem Jungfernstieg dabei war.
Rechtsextrementreffen in Potsdam: Recherche von Correctiv hat Deutschland aufgerüttelt
Das Treffen in Potsdam, das die Rechercheplattform Correctiv aufdeckte, hat etwas verändert im Land. „Für mich war das ein Klickmoment“, sagt Hennig aus Bad Oldesloe. Nachdem öffentlich wurde, wie ungeniert und ungeschminkt AfDler und andere Rechtsextreme über sogenannte Remigrationspläne fabulieren, scheint ein Ruck durch Deutschland – und vor allem durch Hamburg – zu gehen.
Die Entwicklung ist beeindruckend. Am Tag nach dem ersten Bericht über das Potsdamer Treffen waren es etwa 80 politisch Interessierte, die vor der AfD-Zentrale in der Innenstadt demonstrierten. Bei einer Kundgebung einen Tag später waren es schon 2000. Dann die Jungfernstieg-Demonstration mit mehr als 50.000 AfD-Gegnern. Und an diesem Sonntag, nur eine Woche danach, schon wieder Zehntausende Menschen, die Flagge zeigen. So ganz genau weiß das keiner.
Atila (46), Susann (42) und Laura (11) waren bei all den Hamburg-Demonstrationen mittendrin statt nur dabei. An diesem Sonntag steht die Familie aus Bergstedt in der ersten Reihe – und hält ein buntes Peace-Zeichen auf einem braunen Karton in die Höhe. „Wir demonstrieren für unsere freiheitlichen Grundrechte“, sagt Papa Atila, der zwar in Schleswig-Holstein geboren ist, aber selbst einen türkischen Migrationshintergrund hat.
Deswegen ist es auch für die elfjährige Laura gar keine Frage, dass sie am Sonntag bei der Demonstration dabei ist. „Es betrifft ja auch meine Familie“, sagt die Fünftklässlerin vom Gymnasium Buckhorn. In der Kindernachrichtensendung „Logo“ hat sie erstmals von der AfD und dem Potsdamer Treffen gehört. „Die AfD ist gegen alle Menschen, die irgendwie anders sind“, erklärt sie.
Annika Rittmann von Fridays for Future organisierte die Großdemo
Anders als vor einer Woche, als der Protest eng, unübersichtlich und ein wenig chaotisch daherkam, wurde an diesem Sonntag an alles gedacht. Annika Rittmann von der Klimabewegung Fridays for Future hatte sich der Sache angenommen. Tagelang wurden der perfekte Ort und die perfekte Strecke ausgearbeitet, über Instagram wurde Werbung gemacht, Ordner wurden gesucht und gefunden, und sogar an eine Familienzone wurde gedacht.
Der Fernsehmoderator Michel Abdollahi tritt auf, Luisa Neubauer hält eine Rede, und auch der Schauspieler Prince Kuhlmann ist dabei. Zwischendurch gibt es Musik von Alli Neumann, Enno Bunger und Chi Chi – und immer wieder lautstarke Sprechchöre: „Ganz Hamburg hasst die AfD.“
„Wir haben ein Problem im Land, und irgendwer muss den ersten Schritt machen. Und irgendwer ist immer man selbst“, sagt Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauer in ihrer umjubelten Rede. Wer „weiße Privilegien“ besitze, habe die Pflicht, jetzt aufzustehen und „die Hand zu reichen und die Augen aufzumachen“.
Prince Kuhlmann, der als Zehnjähriger den Simba im Musical „König der Löwen“ spielte, zitiert Nelson Mandela und spricht von seinem „German Dream“. „Wir dürfen nicht zulassen, dass Rechtsextreme das Klima vergiften und Menschen, die hier geboren wurden, diesen Traum zerstören.‘“
Unter den Zuhörern im Familienbereich sind auch Papa Till und Tochter Jelve aus Bergedorf, die zahlreiche durchgestrichene „AfD“-Sticker auf ihre Jacken geklebt haben. Für die sechsjährige Jelve ist es die erste Demonstration in ihrem Leben. „Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass es viele Menschen gibt, denen es nicht so gut geht – und die gerne nach Deutschland möchten. Und die AfD ist dagegen“, sagt Architekt Till.
Ähnlich würde es wohl auch Nils vom „Bündnis gegen Rechts“ erklären. In seiner Rede auf der Bühne erinnert er daran, dass Thüringens AfD-Chef Björn Höcke schon 2018 öffentlich von „Remigration“ gesprochen habe. Als er sagt: „Es ist Zeit für ein AfD-Verbot“ und „Kein Millimeter dem Faschismus“, brandet Jubel auf.
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Auch bei Laura, Atila und Susann in Reihe eins. „Ich bin auch aus Thüringen, und eigentlich war ich immer stolz darauf“, sagt die Teamleiterin der Agentur für Arbeit. Doch was in ihrer Heimat derzeit passiert, macht ihr Sorge, sogar Angst. „Wir müssen uns wehren, wir müssen aufstehen“, sagt sie.
Und sie ist nicht allein. 30.000 Teilnehmer hatten die Organisatoren vorher erhofft. Sonntagnachmittag twittert Justizsenatorin Anna Gallina von 40.000 Demonstranten, die Polizei geht am Abend von mindestens 60.000 Menschen aus, Fridays for Future spricht sogar von 100.000 Protestlern. Die genaue Zahl weiß am Sonntag noch niemand. Nur das: Es sind viele. Sehr viele.
Und es werden immer mehr.