Hamburg. Mehr Zuständigkeiten: Dann müssten Hamburger bei Nachbarschaftsstreit, offenen Rechnungen oder Erbsachen noch länger warten.
Lange andauernde Verfahren, Fälle, die liegen bleiben, weil sie nicht als eilbedürftig gelten, und Kläger, die sich viele Monate gedulden müssen: Beim Amtsgericht läuft es schon lange nicht mehr rund. Jetzt könnten die Abläufe bei dem Gericht, das unter anderem unter einem massiven Personalengpass zu leiden hat, noch weiter ins Stocken geraten.
Denn möglicherweise kommen weitere Aufgaben und damit noch mehr Verfahren auf die Richterinnen und Richter zu. So sehen es zumindest die Planungen der Justizministerkonferenz vor. Sie plädiert dafür, den Streitwert, bis zu dem die Amtsgerichte in Zivilsachen zuständig sind, von 5000 auf 8000 Euro anzuheben.
Amtsgericht Hamburg: „Es wird massive Probleme geben“
Eine solche Erweiterung der Zuständigkeit werde beim Amtsgericht „für massive Probleme sorgen“, warnt Christian Lemke, Präsident der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer. „Für eine Streitwertanhebung mag es durchaus gute Gründe geben, insbesondere mit Blick auf die Stärkung der Amtsgerichte in einzelnen Flächenstaaten. Das hiesige Amtsgericht allerdings ist aufgrund des bestehenden Personalmangels völlig überlastet. Wenn jetzt dort noch weitere Fälle auf den Tisch kommen, wird das zu einer Verschärfung der jetzt schon kaum hinnehmbaren Situation führen.“
Das Amtsgericht ist jener Teil der Justiz, mit dem die Bürger am ehesten in Berührung kommen und dort Rechtssicherheit suchen. So wird dort beispielsweise über Mietstreitigkeiten verhandelt und wenn es in Zivilverfahren etwa um Handwerkerrechnungen oder andere Dienstleistungen geht. Darüber hinaus ist das Amtsgericht für Strafsachen zuständig, bei denen eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als vier Jahren zu erwarten ist, außerdem für Fälle des Familienrechts, in Betreuungsfragen, und es fungiert auch als Nachlassgericht. Ferner sind dort Insolvenz- und Registerverfahren angesiedelt.
Amtsgericht Hamburg: Zuständig für Fluggastrechte und Nachbarschaftsstreitigkeiten
Und es besteht eine zentrale Zuständigkeit für das Handels-, Vereins- und das Schiffsregister. Nach der Vorstellung der Justizministerkonferenz sollen zudem unabhängig vom Streitwert Spezialzuständigkeiten bei den Amtsgerichten für Fluggastrechtesachen sowie Nachbarschaftsstreitigkeiten geschaffen werde.
Eine riesige Palette an Zuständigkeiten also. Und diese Masse an Verfahren lässt sich ohnehin kaum noch bewältigen. „Das Amtsgericht ist der Maschinenraum der Justiz. Die Maschine stottert bereits an verschiedenen Ecken“, hatte Hans-Dietrich Rzadtki, bis zu seiner Pensionierung Ende Oktober Präsident des Hamburger Amtsgerichts, bereits gemahnt. „Wir müssen verhindern, dass sie zum Stillstand kommt.“ In einer vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Statistik wurden an den Hamburger Amtsgerichten beispielsweise im Jahr 2022 knapp 25.000 Zivilsachen abgeschlossen. Im Schnitt werden pro Jahr rund 25.000 Zivil-, 14.000 Familien- und 14.000 Strafsachen bearbeitet. Dazu kommen die weiteren Aufgaben in den anderen Zuständigkeitsbereichen.
Der Punkt, an dem gar nichts mehr geht, rückt näher
Anwaltskammer-Präsident Lemke sieht den kritischen Punkt, an dem gar nichts mehr geht, zunehmend näherkommen, wenn beim Amtsgericht durch eine Ausweitung der Zuständigkeiten noch mehr Verfahren aufliefen. „Es ist absehbar, dass es dann in Hamburg so richtig kracht“, meint der Kammer-Präsident. „Das kann keiner wollen.“
Betroffen wären laut Lemke eine große Zahl der Fälle, die zurzeit noch in der Zuständigkeit des Landgerichts liegen, „im Prinzip alles, worüber man sich in Zivilsachen streitet. Also beispielsweise unbezahlte Rechnungen jeglicher Art“, sagt Lemke. „Die Folge wäre, dass noch viel mehr Sachen hintenangestellt werden müssen.“ Verfahren würden noch viel länger dauern, prognostiziert der Kammer-Präsident. Schon jetzt sei die Lage prekär. „Bei den Geschäftsstellen, die beispielsweise Termine verwalten, hat man praktisch keine Ansprechpartner mehr. Es sollen möglichst keine Sachstandsanfragen gestellt werden. Das bedeutet: Man klagt etwas ein, hört dann über lange Zeit nichts mehr und soll dann nicht einmal nachfragen dürfen.“
Die Verfahren würden noch viel länger dauern
Man könne auch nicht so einfach Personal aus anderen Bereichen der Justiz in die Geschäftsstellen „hinbeordern“, sagt Lemke. Eben weil die Situation an den Amtsgerichten speziell in der Hansestadt schon länger kritisch sei, so der Anwaltskammer-Präsident, sollte eine weitere Verschärfung der Lage möglichst vermieden werden. Umso mehr überrasche, dass sich Hamburgs Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) bei der Justizministerkonferenz für eine Anhebung des Streitwertes von 5000 auf 8000 Euro starkgemacht habe.
„Ich weiß, dass diese Haltung der Senatorin am Amtsgericht durchaus mit Befremden zur Kenntnis genommen wurde.“ Hinsichtlich der angespannten Lage sei zudem „zu wünschen, dass sich der neue Amtsgerichtspräsident klar positioniert und die gerichtlichen Interessen selbstbewusst nach außen vertritt“.
Als neuer Präsident des Amtsgerichts ist gerade Guido Christensen, der bisherige Vizepräsident des Oberlandesgerichts, gewählt worden (das Abendblatt berichtete). Christensen wird damit Chef von rund 1600 Mitarbeitern, darunter 330 Richtern.
Mitarbeiter arbeiteten „teilweise jenseits der Belastungsgrenze“
Sein Vorgänger Hans-Dietrich Rzadtki hatte zum Ende seiner Dienstzeit im Oktober gewarnt: „Wir haben es extrem schwer, weil wir weniger geworden sind. Und das, obwohl das Amtsgericht personell schon immer auf Kante genäht war. Jetzt kommt der Fachkräftemangel noch dazu. Das trifft uns besonders hart“, sagte Rzadtki.
Mehrere Sparrunden der jeweiligen Senate hätten dazu geführt, dass die Zahl der Mitarbeiter in den Geschäftsstellen „abgeschmolzen“ sei. Diejenigen, die den Betrieb am Laufen hielten, „arbeiten teilweise jenseits der Belastungsgrenze“. Vor dem Rechtsausschuss der Bürgerschaft hatte Rzadtki in dramatischen Worten schon 2022 darauf hingewiesen, dass sich die Belastung einer „roten Linie“ nähere und der „Kipppunkt“ bald erreicht sei. „Es geht um das Funktionieren unseres Rechtsstaates.“
1800 Verfahren zusätzlich für die Amtsgerichte
Nachwuchs für die Geschäftsstellen ist schwer zu finden, der Fachkräftemangel trifft auch die Gerichte, war in der Vergangenheit aus der Justizbehörde zu hören. So sei es schwierig, ausreichend Bewerber für die Ausbildungsplätze und Stellen zu gewinnen.
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Nach der vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Statistik wurden an den Hamburger Amtsgerichten im Jahr 2022 knapp 25.000 Zivilsachen abgeschlossen. „Wir schätzen, dass knapp 20 Prozent der erstinstanzlichen landgerichtlichen Zivilverfahren einen Streitwert im Bereich von 5000 bis 8000 Euro haben“, sagt Gerichtssprecher Kai Wantzen auf Abendblatt-Anfrage. „Das entspricht nach einer Auswertung, die das Jahr 2022 umfasst, aufs Jahr gerechnet rund 1800 Verfahren, die bei einer entsprechend höheren Streitwertgrenze mutmaßlich beim Amtsgericht eingereicht worden wären.“
Bestimmte Zuständigkeiten sollen auf die Landgerichte übergehen
Dieser hypothetische Zuwachs in einer Größenordnung von rund sieben Prozent dürfe allerdings nicht isoliert betrachtet werden, so Wantzen. „Denn nach allem, was über die Diskussion zur Anhebung der Zuständigkeitsgrenze bekannt ist, soll es in bestimmten Sachgebieten zu einer streitwertunabhängigen Zuständigkeitsverlagerung von den Amts- auf die Landgerichte kommen.“
Diskutiert werde das beispielsweise für alle Klagen im Zusammenhang mit Heilbehandlungen, also wenn etwa Arztrechnungen nicht vollständig beglichen sind. Dadurch könnte der rechnerisch ermittelte Zuwachs bei den Amtsgerichten ganz oder teilweise ausgeglichen werden, je nachdem, welche Zuständigkeiten im Gegenzug von den Amts- auf die Landgerichte verlagert werden sollen.