Hamburg. Anwaltskammer schreibt wegen Personalnot Brandbrief an Senatorin Gallina. Gerichtschefin nennt Abläufe „schwer zu ertragen“.

Die Hanseatische Rechtsanwaltskammer spricht von einer „Kapitulation der Justiz“: In einem Schreiben an die Kammer erklärt die Direktorin vom Zivilsegment des Amtsgerichts Hamburg, Julia Kauffmann, dass mangels Personal und angesichts eines größeren Rückstands Aufgaben nur noch priorisiert bearbeitet werden, also eilbedürftige Fälle vorgezogen werden müssten. „Der Rest – d. h. alle Vorgänge ohne Priorisierung – muss sich ,hinten anstellen’“, teilt sie den Anwälten mit und dankt für ihr Verständnis.

Ist das der nächste Flächenbrand in der Hamburger Justiz? Christian Lemke jedenfalls, Präsident der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer, sieht vor allem Justiz- und Verbraucherschutzsenatorin Anna Gallina von den Grünen in der Verantwortung. „Wenn Frau Gallina es ernst meint mit dem Verbraucherschutz, dann muss sie dafür sorgen, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher zu ihrem Recht kommen“, sagte er dem Abendblatt.

Amtsgericht Hamburg: Zivilklagen betreffen Bürgerinnen und Bürger

Es geht um zivilrechtliche Klagen und Ansprüche – also Fälle, die normale Bürgerinnen und Bürger direkt betreffen. Kläger, die erwarten, in vertretbarer Zeit an ihr Geld zu kommen, müssen sich offensichtlich viele Monate gedulden. „Es ist für uns sehr gut nachvollziehbar, dass die daraus entstehenden Verzögerungen Rechtsanwält*innen irritieren“, schreibt Kauffmann.

„Dass sie sich wundern, wenn sie drei Monate nach Einreichung einer Klage noch keine Aufforderung zur Einzahlung eines Kostenvorschusses erhalten haben, und Verärgerung entsteht, wenn dann nach Einzahlung des Kostenvorschusses weitere Wochen ins Land gehen, bevor eine richterliche Erstverfügung zugestellt wird“, schreibt sie an die Rechtsanwaltskammer. „Auch aus unserer Sicht sind solche zeitlichen Abläufe unerwünscht und schwer zu ertragen.“

Anwälte in Hamburg sollen weniger häufig nachfragen

Die zunehmende Zahl von Anfragen seitens der Rechtsanwälte, die sich nach dem Sachstand erkundigen, verschärfe die Lage im Übrigen noch zusätzlich, weil die Beantwortung Zeit koste und „zudem den psychischen Druck auf den Geschäftsstellen erhöhe“, so die Direktorin. Die Kammer möge bei den Anwältinnen und Anwälten dafür werben, „in dieser schwierigen Zeit von Sachstandsabfragen nach Möglichkeit abzusehen“, so Julia Kauffmann.

Julia Kauffmann ist Direktorin vom Zivilsegment des Amtsgerichts Hamburg. Hier ist sie beim Juristenball im Hotel Atlantic zu sehen.
Julia Kauffmann ist Direktorin vom Zivilsegment des Amtsgerichts Hamburg. Hier ist sie beim Juristenball im Hotel Atlantic zu sehen. © Marcelo Hernandez

Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz, auf Terminverlegung oder ähnlich vorrangige Vorgänge müssten unverzüglich bearbeitet werden; die Langerfassung von Zahlungsklagen ohne besondere Dringlichkeit gehöre nicht zu den eilbedürftigen Aufgaben.

Direktorin macht wenig Hoffnung auf Besserung

Die Direktorin beschönigt die Lage am Amtsgericht nicht, und das ist offensichtlich auch nicht beabsichtigt. Wie auch in anderen Bereichen der Amtsgerichte sei die Personalsituation auf den Geschäftsstellen des Zivilsegments besonders belastet, es gebe „hohe Rückstände in der Aktenbearbeitung“, die Zahl offener Aufgaben wachse trotz aller Bemühungen. Und Hoffnung auf Besserung macht sie kaum: Die Zahl der Eingänge steige, und die Bewerberlage sowohl für den Quereinstieg als auch für die Ausbildungslehrgänge sei schlecht.

Kauffmanns Schreiben könnte als eine Art Weckruf verstanden werden, der auch die politisch verantwortliche Senatorin erreicht. Christian Lemke, Chef der Rechtsanwaltskammer, hat sich am Mittwoch postwendend in einem Schreiben an Justizsenatorin Gallina gewandt, das dem Abendblatt vorliegt. Darin kritisiert er: Die geschilderten Umstände seien „unerträglich und kommen einer Kapitulation der Justiz am Amtsgericht gleich“. Hier könne von einem Zugang zum Recht kaum noch die Rede sein.

Rechtsanwaltskammer: Monatelanges Warten „inakzeptabel“

Es sei „absolut inakzeptabel, dass etwa Zahlungsklagen von Bürgerinnen und Bürgern und Unternehmen, die dringend auf die Titulierung und Beitreibung ihrer Forderungen angewiesen sind, als nicht dringlich beurteilt werden, über Monate hinweg unbearbeitet liegen bleiben und den Rechtssuchenden auch noch mitgeteilt wird, sie müssten sich ,hintenanstellen´, weil es sich nicht um eilige Sachen handele“.

Der Rechtsanwaltskammer-Chef fordert Gallina „im Namen der verfassten Anwaltschaft“ auf, „umgehend Abhilfe zu schaffen und die seit Langem bekannten, sich unverändert ausweitenden Defizite der Hamburger Justiz endlich zu beseitigen“.

Hamburger Justizbehörde räumt Personalnot ein

Die Justizbehörde sei sich der angespannten Situation auf den Geschäftsstellen bewusst, teilte diese am Mittwoch auf Anfrage mit. Der allgemeine Mangel an qualifizierten Fachkräften treffe auch Bereiche der Justiz – und dies in allen Bundesländern. Das sei in der Justiz leider nicht viel anders als in anderen Bereich der öffentlichen Verwaltung und der Wirtschaft.

„Wir haben hier nicht zu wenige Ausbildungsplätze oder Stellen, sondern stehen vor der besonderen Herausforderung, diese vollumfänglich zu besetzen“, erklärte Behördensprecher Dennis Sulzmann. „Wie sich aus dem Schreiben ergibt, ist das Amtsgericht Hamburg darauf eingestellt, eine Priorisierung zwischen den einzelnen Verfahren nach ihrer Eilbedürftigkeit vorzunehmen.“

Kurzfristige Lösungen gebe es leider nicht. „Wir arbeiten an langfristigen Lösungen und steuern dem allgemeinen Trend des Fachkräftemangels mit einem starken Recruiting entgegen.“ Aktuell laufe eine Werbekampagne zur Hamburger Justiz allgemein und den Ausbildungsberufen im Speziellen an. Die Behörde arbeite intensiv daran, die Ausbildungsplätze auch zu besetzen. Man sei selbstverständlich auch im Internet und in Stellenbörsen unterwegs. Das Bewerbungsverfahren wurde vereinfacht. Darüber hinaus sei man im Austausch mit den Amtsgerichten, um auf die aktuelle Situation reagieren zu können.

Aufgrund des demografischen Wandels und der großen Besetzungsnot aller Dienststellen in ihren Geschäftsstellen habe die Behörde seit 2016 aufgestockt und biete nun jedes Jahr Ausbildungsplätze für 40 Justizsekretäre (JuSe) sowie 20 Justizfachangestellte (JuFa) an. Vor 2016 verlief die Ausbildung versetzt zweijährig, seit 2018 wurde die Zahl der Ausbildungsplätze für die Justizsekretärsausbildung verdoppelt. Auch die Plätze in den anderen Ausbildungsgängen (Rechtspfleger, Gerichtsvollzieherwesen, Justizwachtmeister) seien ausgeweitet worden.

Amtsgericht Hamburg funkte bereits S.O.S

Erst im vergangenen Herbst hatte das Hamburger Amtsgericht S.O.S. gefunkt: Die Personalnot in den Geschäftsstellen dieser Gerichte sei mittlerweile so groß, dass sich die Verfahren verzögern, Mietstreitigkeiten erst nach geraumer Zeit geklärt werden oder Familien etwa bei einem Sorgerechtsstreit lange auf eine Entscheidung warten müssten. Das führt zu erheblichem Frust – bei Bürgerinnen und Bürgern sowie ihren Anwälten, aber auch bei den Mitarbeitern am Amtsgericht selbst.

Welche Ausmaße das Problem angenommen hatte, zeigte auch damals ein ungewöhnlich offener Brief, den der Präsident des Amtsgerichts, Hans-Dietrich Rzadtki, an die Hanseatische Rechtsanwaltskammer schrieb, nachdem diese die Beschwerde einer Anwältin weitergeleitet hatte.