Hamburg. Hans-Dietrich Rzadtki warnt zum Ende seiner Amtszeit vor dramatischen Auswirkungen des Personalmangels und Frust der Hamburger.
Von seinem Büroschreibtisch blickt Hans-Dietrich Rzadtki auf ein großes Bild; eine Collage von Malereien seiner drei Kinder, als sie noch klein waren. Es ist ein fröhliches Kunterbunt in Rot und Gelb, Orange und Grün. Wenn der Präsident des Hamburger Amtsgerichts allerdings die Situation seiner Wirkungsstätte beschreibt, kommen keine leuchtenden Farben zum Tragen, sondern eher düstere.
Der Zuhörer denkt an Anthrazit, wenn nicht sogar an Schwarz, wenn Rzadtki in Bezug auf das Amtsgericht von einer „kritischen Lage“ und einer „stotternden Maschine“ spricht, bei der es gelte, eine vollständige Blockierung zu verhindern.
Präsident des Amtsgerichts Hamburg warnt: „Wir müssen Stillstand verhindern“
Doch neben den dunklen Farben gibt es viele Lichtpunkte, weil der 65-Jährige seiner Tätigkeit so viel Positives abgewinnt. „Mein Beruf hat mir immer Spaß gemacht“, sagt Rzadtki. „Die Zusammenarbeit mit den Menschen hier und die gemeinsame Suche nach Lösungen war durchweg toll.“
Fast 15 Jahre ist Rzadtki jetzt Präsident des Hamburger Amtsgerichts und kennt diesen Bereich der Justiz, den er als „Großunternehmen“ beschreibt, mit all seinen Facetten und seinen Problemen. Weil er als Chef von rund 1600 Mitarbeitern, davon 330 Richter, Ende Oktober in Pension geht, ist es an der Zeit für ein Gespräch über die Situation des Amtsgerichts. Ein Zustand, den die Öffentlichkeit in den vergangenen Monaten mitunter als desolat wahrgenommen haben könnte.
Amtsgericht Hamburg: große Personalnot und Verfahren, die hintangestellt werden
Von „Kapitulation der Justiz“ war in Berichterstattungen die Rede, von großer Personalnot, von Verfahren, die hintangestellt werden müssten, weil wegen fehlender Mitarbeiter viele Dinge nicht mehr oder nicht in der gebotenen Zeit erledigt werden könnten. Rzadtki formuliert weniger plakativ, die Botschaft ist gleichwohl deutlich: „Das Amtsgericht ist der Maschinenraum der Justiz. Die Maschine stottert bereits an verschiedenen Ecken. Wir müssen verhindern, dass sie zum Stillstand kommt“, warnt der Topjurist.
„Wir haben es extrem schwer, weil wir weniger geworden sind. Und das, obwohl das Amtsgericht personell schon immer auf Kante genäht war. Jetzt kommt der Fachkräftemangel noch dazu. Das trifft uns besonders hart.“
Amtsgericht Hamburg war „personell schon immer auf Kante genäht“
Und damit auch die gesamte Gesellschaft. Denn mit dem Amtsgericht kommt der Bürger nicht nur in Berührung, wenn er straffällig geworden ist oder Streit mit dem Vermieter hat. „Der Bürger kann mit dem Amtsgericht von der Wiege bis zur Bahre zu tun haben“, erklärt Rzadtki. „Das fängt bei einer möglichen Vaterschaftsfeststellung an, geht über die Familiengründung, den Hausbau, Trennung und Scheidung bis hin zum Betreuungsverfahren für die kranken, alten Eltern und endet mit einer Testamentseröffnung.“
Das Amtsgericht liege ihm „sehr am Herzen“, betont Rzadtki. „Es geht um das Funktionieren unseres Rechtsstaates. Das Amtsgericht hat als Bürgergericht eine enorme Multiplikationskraft. Alles, was nicht angemessen zeitnah bearbeitet wird, schafft bei jedem Einzelnen Unzufriedenheit mit dem Staat.“
Präsident des Amtsgerichts: „Es geht um das Funktionieren des Rechtsstaats“
Zum Amtsgericht gehören die Bereiche Straf- und Ziviljustiz, Familien- und Betreuungssachen, Nachlassangelegenheiten, Insolvenz- und Zwangsvollstreckungsverfahren, die Grundbuchämter und das Handelsregister. Und überall fehlten, insbesondere in den Geschäftsstellen, Arbeitskräfte, so Rzadtki, weil deren Anzahl sogar „abgeschmolzen“ sei. Die, die den Betrieb am Laufen halten, „arbeiten teilweise jenseits der Belastungsgrenze“.
Auch die Richter kämen an ihr Limit – dort, wo nicht mehr die erforderliche Zuarbeitung der Geschäftsstellen gewährleistet sei. Es gebe bei den Geschäftsstellen des Amtsgerichts etwa 60 unbesetzte Stellen, mehr als 70 weitere, in denen studentische Hilfskräfte arbeiteten, „wo eigentlich ausgebildete Fachkräfte sitzen müssten“.
Sparmaßnahmen hätten sich auf das Amtsgericht besonders dramatisch ausgewirkt
Anders als es in der Öffentlichkeit häufig wahrgenommen werde, bestehe die Arbeit der Justiz bei Weitem nicht allein aus dem Wirken der Richter, betont Rzadtki. „Das hat mit der Realität nichts zu tun. Die Mitarbeiter der Geschäftsstellen sind diejenigen, die das Büro managen, Kontakt mit den Bürgern und den Anwälten haben. Ohne diese Kräfte kommt nichts beim Richter an.“ Dabei werde von den Mitarbeitern „alles getan, um einen möglichst reibungslosen Betrieb in allen Verfahren zu ermöglichen“.
Anstatt den Personalbestand im nicht richterlichen Bereich zumindest zu erhalten, hätten sich über viele Jahre Sparmaßnahmen der jeweiligen Hamburger Regierungen auf das Amtsgericht besonders dramatisch ausgewirkt, stellt Rzadtki fest. „Das ist der rote Faden meiner Tätigkeit: beginnend mit dem Ausbildungsstopp zu Beginn meiner Amtszeit und weiteren Sparverpflichtungen in späteren Jahren.“
Warnung im Rechtsausschuss: Die „rote Linie“ stehe bevor
Immer wieder habe er im Rechtsausschuss der Bürgerschaft darauf hingewiesen, dass sich einer „roten Linie“ angenähert werde, sie schließlich unmittelbar bevorstehe. „Im letzten Rechtsausschuss vor einem Jahr habe ich dann gesagt, dass der Kipppunkt erreicht sei.“ Zu der seit Jahren angespannten Personalsituation komme jetzt der Fachkräftemangel. „Die Situation ist unverändert kritisch.“ Es gebe acht Amtsgerichte und 16 Verfahrensarten. Der Bürger müsse in vielen Bereichen damit rechnen, „dass einzelne Verfahrensschritte nicht so schnell abgearbeitet werden, wie man sich das wünscht“.
Allein wegen „des großen Engagements aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind die Erledigungszeiten glücklicherweise noch nicht in der Fläche signifikant in die Höhe gegangen. Ausnahmen gelten für die an einigen Gerichten krisenhaften Bereiche wie Nachlassgericht, Familiengericht und Betreuungsgericht.“ So müssten Bürger schon jetzt beispielsweise sehr lange Wartezeiten in Kauf nehmen, um einen Erbschein zu bekommen.
Amtsgerichtspräsident sieht als Weg aus der Misere: Modernisierung und bessere Gehälter
Ein weiteres Problem sei die vom Gesetzgeber geforderte Umstellung auf die sogenannte elektronische Akte. Unendlich viele Schriftstücke müssten eingescannt werden, was zusätzliche Arbeit bedeute. „Da ist etwas Geduld erforderlich.“
Den Weg aus der Misere sieht Rzadtki in einer Modernisierung der Justiz und einer Aufwertung der Gehälter für Geschäftsstellenmitarbeiter. Es gebe nicht mehr genug Bewerber für diese Tätigkeit. Manche würden während oder nach der Ausbildung auch abspringen. „Wir haben nur noch die Hälfte der Leute in der Ausbildung, die wir eigentlich brauchen.“ Es gebe allerdings Hoffnung, unter anderem wegen einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, nach der die Geschäftsstellentätigkeit höher vergütet werden muss.
Quereinsteiger aus kaufmännischen Berufen fangen in der Justiz an
Allerdings müsse sich die Stadt „darum kümmern, dass bei den Bezügen für Beamte gleichgezogen wird. Geld brauchen wir auch für unsere IT, um die Digitalisierung voranzubringen.“ Hier müsse die Justiz konkurrieren können mit IT-Anbietern auf dem freien Markt. „Das wäre gut angelegtes Geld für den Rechtsstaat.“
Positiv sei, dass der Kreis der möglichen Bewerber größer werde, weil mittlerweile Quereinsteiger aus kaufmännischen Berufen nach einer kürzeren und intensiven Ausbildung in der Justiz anfangen könnten.
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„Wir beschäftigen uns auch intensiv mit der Frage, ob und wo wir KI einsetzen können“, sagt Rzadtki. Diese könne in bestimmten Bereichen zur Erleichterung der Arbeit beitragen, etwa in Massenverfahren. Dies seien beispielsweise Klagen im Zusammenhang mit Fluggastrechten bei Verspätungen.
Hier könne gebündelt werden, wo es sich um denselben Flug handele. „KI könnte uns mit einer Fachsoftware helfen, das herauszufiltern, sodass über bestimmte Dinge viel effektiver Beweis erhoben werden kann.“ Doch so eine Umstrukturierung brauche Zeit. Auch wenn mit den Maßnahmen längst begonnen wurde, „ist es ein langer Prozess“, weiß Rzadtki. Dies weiterzuführen und zu vollenden ist dann die Aufgabe seines Nachfolgers. Wer das sein wird, ist allerdings noch nicht entschieden.
Amtsgericht Hamburg: In bestimmten Bereichen könnte KI eingesetzt werden
Rzadtki selbst wird jetzt nach Ende seiner Amtszeit erst mal mit seiner Familie in den Urlaub fahren, in sein liebstes Reiseland Italien. Später werde er vielleicht ein Ehrenamt ausüben. „Als Richter war ich für Verfahren zuständig, bei denen es um die Akuteinweisung psychisch Kranker in die geschlossene Psychiatrie geht. Also um die Frage, ob jemand untergebracht werden muss oder nicht“, erzählt Rzadtki. „Das war immer spannend und hat mich geerdet. Dieses Feld interessiert mich weiterhin.“
Und noch etwas hat der Amtsgerichtspräsident sich vorgenommen, wofür in den vergangenen Jahren zu wenig Zeit war. „Ich möchte wieder mehr Klavier spielen. Ich mag Musik sehr“, erzählt der Jurist. Davon zeugen auch zwei großformatige Poster in seinem Büro, die beide das Jazzfestival in Montreux zum Thema haben. Diese Bilder wird er, wenn er seinen Arbeitsplatz räumt, abhängen und mit nach Hause nehmen. Ebenso wie die farbenfrohen Malereien seiner Kinder.