Hamburg. Präsident klagt an: Fast 50 Stellen wegen Fachkräftemangels unbesetzt. Verfahren verzögern sich. Wie die Behörde reagiert.
Das Hamburger Amtsgericht funkt S.O.S.: Die Personalnot in den Geschäftsstellen dieser Gerichte ist mittlerweile so groß, dass sich die Verfahren verzögern, Mietstreitigkeiten erst nach geraumer Zeit geklärt werden oder Familien etwa bei einem Sorgerechtsstreit lange auf eine Entscheidung warten müssen. Das führt zu erheblichem Frust – bei Bürgerinnen und Bürgern sowie ihren Anwälten, aber auch bei den Mitarbeitern am Amtsgericht selbst.
Welche Ausmaße das Problem angenommen hat, zeigt jetzt ein ungewöhnlich offener Brief, den der Präsident des Amtsgerichts, Hans-Dietrich Rzadtki, an die Hanseatische Rechtsanwaltskammer schrieb, nachdem diese die Beschwerde einer Anwältin weitergeleitet hatte. Am Amtsgericht Barmbek hatte sich eine Familiensache stark verzögert, weil die Bearbeitung auf den Geschäftsstellen so lange dauerte.
Justiz Hamburg: Amtsgerichts-Präsident benennt Problem
Der Amtsgerichts-Präsident beschönigt in seinem Schreiben nichts, sondern nennt das Problem beim Namen: Dieser „Missstand“ betreffe „in unterschiedlicher, teilweise noch gravierenderer Form leider auch alle anderen Amtsgerichte in Hamburg“, schreibt Rzadtki,.
„Ursache ist der in den letzten Jahren unvermindert fortschreitende Mangel an Mitarbeiter*innen auf unseren Geschäftsstellen, und ganz besonders der immer geringere Anteil von qualifizierten Kräften“, so der Gerichtspräsident. Trotz einer Ausbildungsoffensive, die die Justizbehörde vor vier Jahren angestoßen hatte, habe man seither einen Rückgang von mehr als 50 Justizfachangestellten und -sekretärinnen zu verzeichnen.
Punkt erreicht, der politische Entscheidungen erfordert
Seit Jahren, so Rzadtki, bemühe man sich darum, die Justizlaufbahn attraktiver zu machen, neue Ausbildungsmodelle zu entwickeln, und intern „durch Verbesserung der Organisation, Vereinfachung von Abläufen und großes Engagement auch unter diesen Umständen einen geordneten Dienstbetrieb und angemessenen Service für Bürger und Anwaltschaft sicherzustellen“, schreibt Rzadtki, der seit 2009 Amtsgerichtspräsident ist.
Dann wird er in seinem Schreiben, das die Rechtsanwaltskammer öffentlich machte, deutlich: „Nach meiner Einschätzung haben wir inzwischen jedoch einen Punkt erreicht, der unverzügliche politische Entscheidungen erfordert.“ Er hat deshalb jetzt die politische Ebene eingeschaltet und das Schreiben an Justizsenatorin Anna Gallina weitergeleitet.
Von Mietstreit über Sorgerecht bis zu Strafsachen
Zum Verständnis: Das Amtsgericht Hamburg, zu dem acht Amtsgerichte gehören, ist für eine Fülle ganz unterschiedlicher Fälle zuständig. So werden hier Strafsachen verhandelt, bei denen eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als vier Jahren zu erwarten ist. Das Amtsgericht befasst sich aber auch mit Zivilsachen mit einem Streitwert von bis zu 5000 Euro, mit Mietstreitigkeiten und Familienrecht – von Sorgerechtsfragen bis hin zu Unterhalt –, es entscheidet Betreuungsfragen, fungiert als Nachlassgericht, und ist auch auch für Insolvenz- und Registerverfahren zuständig.
„Das Amtsgericht hat besonders viele Kontakte mit Bürgern und deren Rechtsvertretern“, so Rzadtki. „Alles in allem werden bei uns im Jahr rund 300.000 Anträge bearbeitet, beispielsweise allein 75.000 Grundbuchanträge. Wir sind das Gericht mit dem engsten und häufigsten Bürgerkontakt. Wenn wir personell Grundberührung haben, hat dies die größte Breitenwirkung.“
Anwaltskammer: „Armutszeugnis für den Rechtsstandort Hamburg“
Und die zeigt sich jetzt deutlich: „Das ist ein Armutszeugnis für den Rechtsstandort Hamburg“, klagt der Präsident der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer, Christian Lemke. Immer häufiger seien die Geschäftsstellen nicht erreichbar, Verfahren würden nicht terminiert, die Sachen bleiben wegen des Personalmangels liegen.
Das bekommen auch die Anwälte zu spüren: „Wir Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sind mit den Konsequenzen davon tagtäglich konfrontiert, namentlich langen Verfahrenszeiten und einer mangelhaften Erreichbarkeit der Gerichte“, sagt Kammerpräsident Lemke. „Das alles geht zu Lasten unserer Mandantinnen und Mandanten.“ Die Ausbildungsinitiative scheine nicht auszureichen, um den größer werdenden Bedarf zu erfüllen. Zudem konkurrieren die verschiedenen Gerichte und auch die Staatsanwaltschaft um die Verteilung der Absolventen.
48 Stellen in Geschäftsstellen nicht zu besetzen
„Der Personalnotstand ist groß. Wir haben viel zu wenig ausgebildetes Fachpersonal. In den Geschäftsstellen des Amtsgerichts können wir derzeit 48 Stellen nicht besetzen – und das, obwohl wir für bestimmte Aufgaben wie beispielsweise das Protokollieren von Strafverfahren bereits Quereinsteiger und Studierende einsetzen“, sagt Rzadtki auf Anfrage des Abendblatts.
„In den Geschäftsstellen ist dies aufgrund der besonderen Qualifikationsanforderung nur eingeschränkt möglich. Auch haben wir eine erhebliche Abwanderung in andere Behörden. Die Generation, die jetzt auf dem Arbeitsmarkt ist, kann sich einen sehr viel kritischeren Blick auf die Arbeitsbedingungen erlauben. Und immer gegen Rückstände arbeiten zu müssen, wird nachvollziehbar nicht als befriedigend empfunden.“
Personalmangel: Geschäftsstellen schränken Servicezeit ein
Als Folge des Personalmangels mussten die Amtsgerichte die Servicezeiten der Geschäftsstelle nach Worten des Präsidenten bereits teils deutlich einschränken, etwa auf drei Stunden jeweils an drei Tagen.
„Wenn unser Personal so stark und absehbar dahin schmilzt und wir nicht mindestens im gleichen Ausmaß neue Kräfte qualifizieren, dann haben wir ein großes Problem. Es braucht eine politische Initiative: Wir müssen mehr Werbung für diesen Beruf machen und die Tätigkeit aus meiner Sicht auch deutlich besser bezahlen.“
Justizbehörde hat Zahl der Ausbildungsplätze erhöht
Man arbeite intensiv daran, die vorhandenen Ausbildungsplätze auch zu besetzen, heißt es aus der Justizbehörde. „Es gibt zu wenig Menschen, die dort arbeiten, und die Belastungen sind hoch. Diesem allgemeinen Trend steuern wir mit einem starken Recruiting entgegen“, erklärt die stellvertretende Pressesprecherin Linda Luft. Man habe die Zahl der Ausbildungsplätze seit 2016 in mehreren Stufen sehr deutlich erhöht.
Um die Stellen zu besetzen, „gilt es den Tendenzen des Arbeitsmarktes zu trotzen und auf Berufe aufmerksam zu machen, die nicht jeder Mensch kennt“, sagt Sprecherin Luft. So gehe man unter anderem mit einer Roadshow an die Schulen.
Behörde: Bezahlung könnte angehoben werden
Aus Sicht der Nachwuchsgewinnung sei eine Anhebung der Bezahlung nach der Ausbildung ein wichtiger Baustein, um gegenüber der Konkurrenz wie beispielsweise Anwaltskanzleien oder Notaren konkurrenzfähig zu sein, so die Behördensprecherin.
Derzeit bestünden Überlegungen, wie man die Höhe der Bezahlung für die Beschäftigten in den Geschäftsstellen strukturell und nachhaltig gestalten könne. Hamburg könne dabei aber nicht alleine agieren.
Justiz Hamburg: Verfahrensdauer erreicht Höchststände
Die durchschnittliche Verfahrensdauer an den Amtsgerichten hat in fast allen Bereichen Höchststände erreicht. Bei Zivilklagen liegt sie bei sechs Monaten, bei Strafsachen bei 6,2 und bei Familiensachen bei 6,9 Monaten. Das liege aber an Corona und der zunehmenden Komplexität der Verfahren, betont die Behörde.
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Doch anstatt besser könnte es für die Belastung der Amtsgerichte noch schlimmer werden: Die Justizministerkonferenz (JMK) erwägt, den Streitwert von Fällen, die an Amtsgerichten (und nicht an Landgerichten) verhandelt wird, anzuheben. Derzeit liegt er bei 5000 Euro und war zuletzt 1993 erhöht und 2002 lediglich gerundet worden. Eine Arbeitsgruppe unter Federführung der Justizministerien von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz prüft derzeit im Auftrag der JMK eine Anhebung. Zwar würde dies die Inflation vieler Jahre ausgleichen. Aber: „Das hätte auch zur Folge, dass noch mehr Verfahren als jetzt vor den Amtsgerichten geführt werden würden“, fürchtet Rechtsanwaltskammer-Präsident Christian Lemke.