Hamburg. Hamburger Fachanwältin hält die Situation an den Amtsgerichten für „brandgefährlich“. Was aus ihrer Sicht in der Praxis im Argen liegt.

Ungeduldige Gläubiger, eingefrorene Bankkonten und führungslose Unternehmen: Die Folgen der kaputtgesparten Hamburger Zivilgerichte bekommt Fachanwältin Judith Krämer täglich zu spüren – ihren Mandanten kann sie das kaum erklären.

Der Präsident der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer hatte vor einigen Tagen einen Brandbrief an Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) geschrieben. Darin sprach Kammerpräsident Christian Lemke von einer „Kapitulation der Justiz“ an den Amtsgerichten in Hamburg: Es sei inakzeptabel, dass Zahlungsklagen über Monate hinweg unbearbeitet liegen blieben und nicht priorisierte Vorgänge sich hinten anstellen müssten.

Justiz Hamburg: Anwältin nennt Situation brandgefährlich

Diese Zustände an den Gerichten sind für Judith Krämer, Fachanwältin für Familien- und Erbrecht, nicht neu, dennoch sei die Situation brandgefährlich. Die systematische Fehlentwicklung zeichne sich aus ihrer Sicht seit Jahren ab und sei durch die Corona-Pandemie weiter verschärft worden. Sie kennt die persönlichen Einzelschicksale, die in den Geschäftsstellen der Gerichte nur als Aktenzeichen auftauchen.

Krämer erinnert sich an einen Scheidungsprozess, der im Jahr 2010 begann. Zwei Ehepartner beantragten im November 2010 die Scheidung, 2016 wurde sie dann rechtskräftig. Doch oft wächst während der Ehe das Vermögen der Partner an, und es stellt sich die Frage, wem nach der Scheidung welcher Anteil dieses Zugewinns zusteht – so auch in diesem Fall.

Scheidung erst nach 13 Jahren endgültig geregelt

Der abgetrennte Teil des Verfahrens über die Ausgleichsforderung lief damit über Jahre hinweg weiter: Die vielschichten Sachverhalte müssen durchdrungen und komplexe Strukturen, beispielsweise von Immobilien und Gesellschaftsanteilen im Vermögen, begutachtet werden – das kostet fraglos viel Zeit. Doch das Gericht befasste sich noch bis zu diesem Jahr mit dem Zugewinnanspruch der Ehegatten.

„Kein Sachverhalt ist so komplex, dass man 13 Jahre darüber streiten muss“, findet Krämer. Jetzt haben die Beteiligten, die inzwischen über 70 und 80 Jahre alt waren, selbst einen Schlussstrich gezogen und im Frühjahr 2023 einen Vergleich geschlossen. Zu groß war die Sorge, dass einer der Beteiligten über den Prozess hinweg stirbt und man sich durch die ständigen Konflikte die letzten Lebensjahre verdirbt.

Todesfall: Erben kommen nicht an das Geld heran

In einem anderen Fall vertrat Krämer die Erben einer alten Dame, die ohne Testament verstorben war. Krämer kümmerte sich um den Nachlass, da die Erben im Ausland ansässig waren. Damit Rechtsnachfolger Zugang zum Nachlass erhalten, benötigen sie einen Erbschein oder ein öffentlich beglaubigtes Testament samt Eröffnungsniederschrift, um sich zu legitimieren.

Allein der Vorgang der Testamentseröffnung, also das Dokument abzustempeln und die Angehörigen zu benachrichtigen, dauert bei den Nachlassgerichten derzeit aber mehrere Monate, unter drei Monaten brauche man nicht mit einer Eröffnung zu rechnen.

Dann könnten weitere Monate ins Land gehen, bis der Erbschein oder auch ein Testamentsvollstreckerzeugnis ausgestellt würden. Solange dieses nicht passiert ist, ist der ganze Nachlass handlungsunfähig – außer man hat durch eine Vollmacht über den Tod hinaus vorgesorgt. Die Konten werden von den Banken im Todesfall sofort eingefroren und geben nur Geld für unmittelbare Kosten wie beispielsweise die Beerdigung heraus.

Unternehmen droht im Ernstfall der Bankrott

Gläubiger, die auf ihr Geld warten, werden dann ungeduldig: Anwältin Judith Krämer war durchgehend damit beschäftigt, Vermieter, Handwerker und andere Vertragspartner der verstorbenen Dame zu kontaktieren und sie zu bitten, „die Füße stillzuhalten“.

Wenn darüber hinaus Unternehmen zum Vermögen des Verstorbenen gehören und die Erben von den Gerichten über Monate keine Legitimationsurkunden erhalten, stehen Betriebe in dieser Zeit ohne Führung da, und es droht die Insolvenz. Es müssen dann im Extremfall externe Nachlassverwalter eingesetzt werden, obgleich die Erbenstellung offensichtlich sei. Das sei kein Einzelfall, sondern ein alltäglicher Zustand, so Krämer. Vom Tod der alten Dame bis zum Erhalt des Erbscheins vergingen eineinhalb Jahre.

In zwei Fällen verstarb eine Partei zwischenzeitlich

Die Probleme der Justiz zeigen sich in jedem Fachbereich, in jeder Größenordnung. Von einer Schadenersatzforderung im Millionenbereich, die seit 2018 anhängig ist und vermutlich dieses Jahr im November den ersten mündlichen Verhandlungstermin hat, bis hin zu einem Freiberufler, der ebenfalls im Jahr 2018 eine sechsstellige Honorarforderung einklagte, über die ebenfalls noch nicht mündlich verhandelt wurde. Lediglich der Antrag der Beklagten auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wurde zwischenzeitlich abgewiesen.

In beiden Verfahren ist jeweils eine Partei zwischenzeitlich verstorben. Das ziehe sich „querbeet durch das Gemüsefeld des Zivilrechts“, sagt Krämer.

Mandanten haben kein Verständnis für jahrelange Prozesse

Für die Mandanten hat diese Entwicklung mitunter fatale Konsequenzen. Man versuche, das zu kommunizieren, stoße aber meistens auf Unverständnis. „Viele können es sich schlichtweg nicht leisten, jahrelang zu prozessieren“, sagt Krämer. Dazu komme, dass sich bei jahrelangen Prozessen um Geld in vielen Fällen hohe Zinsen anhäufen.

Es werde dann oft überlegt, ob überhaupt gerichtliche Hilfe in Anspruch genommen werde, teilweise müsse man Mandanten raten: „Vergessen Sie das, bis das Verfahren zu Ende ist, müssen wir eine andere Lösung finden.“

In den Augen von Juristin Krämer beschneide man damit das Recht auf den gesetzlichen Richter. Und auch für den Wirtschaftsstandort Hamburg bedeute es ein Problem, wenn sich Unternehmen überlegten, die Stadt zu verlassen, weil sie sich auf die dortige Justiz nicht mehr verlassen könnten.

Anwältin: „Hamburgs Justiz heruntergewirtschaftet“

Als Ursache für diese Situation sieht Krämer das jahrelange Herunterwirtschaften der Justiz. Es gebe einen hohen Personalmangel, zudem sei das vorhandene Personal teilweise nicht spezialisiert genug und dadurch fehleranfällig.

Das wundere sie nicht, denn die Arbeitsbedingungen seien von starren Hierarchien und Inflexibilität in den Gerichten geprägt, so Krämer. Der Großteil der Mitarbeiter dort sei motiviert, aber durch die Organisationsstrukturen mache sich ein Ohnmachtsgefühl breit – und das führe zu Resignation.

Niedrige Richter-Gehälter und verschleppte Digitalisierung?

Gleichzeitig seien die Gehälter der Richter kaum konkurrenzfähig, das zeige sich vor allem im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. „Als alleinverdienender Richter können Sie in einer Großstadt wie Hamburg kaum mehr eine mehrköpfige Familie ernähren“, sagt sie.

Hinzu komme aus ihrer Sicht die verschlafene Digitalisierung der Gerichte. Seit Januar 2022 sind Anwälte verpflichtet, ihre Klagen und Schriftsätze über das digitale besondere elektronische Anwaltspostfach einzureichen. Doch die Gerichte ziehen da nicht mit: Die elektronisch versendeten Dokumente würden Seite für Seite ausgedruckt und abgeheftet.

Selbst einfache Vorgänge wie ein Gerichtskostenvorschuss des Klägers werde nach wie vor analog abgewickelt, obwohl es kein Problem sei, so etwas zu digitalisieren. Die Verfahren würden immer langwieriger – und das bei einem Rückgang der erstinstanzlichen Zivilverfahren zwischen 1993 und 2020 um bundesweit 41 Prozent.

Anwältin: „Freiheitlich demokratische Grundordnung“ in Gefahr

In Krämers Augen sind diese Probleme Symptome einer strukturellen Misswirtschaft und organisatorischen Fehlbesetzung – auf der verantwortlichen politischen Ebene. Wenn Bürger kein Vertrauen mehr in den Rechtsstaat hätten, sei das auch ein Nährboden für jegliche Extreme. „Wir bewegen uns damit in Richtung der Gefährdung der freiheitlich demokratischen Grundordnung“, befürchtet die Juristin.

Die Justizbehörde ist sich der angespannten Situation auf den Geschäftsstellen der Amtsgerichte bewusst, wie sie auf Anfrage zum Brandbrief der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer erklärt hatte. Der allgemeine Mangel an qualifizierten Fachkräften treffe auch Bereiche der Justiz – und dies in allen Bundesländern. Das sei in der Justiz leider nicht viel anders als in anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung und der Wirtschaft.

„Wir haben hier nicht zu wenige Ausbildungsplätze oder Stellen, sondern stehen vor der besonderen Herausforderung, diese vollumfänglich zu besetzen“, so Behördensprecher Dennis Sulzmann. Die Zahl der Ausbildungsplätze sei aufgestockt worden. Man arbeite intensiv daran, diese auch zu besetzen.