Hamburg. Prozesse wegen Blockaden in Hamburg offenbaren das Psychogramm der Bewegung. Flughafen reagiert auf Protestaktionen.
Die einen nennen sie „Klimakleber“, sie selbst haben sich den nicht minder eingängigen Namen „Letzte Generation“ gegeben. Doch auch Experten vertrauen am Ende auf die Suchmaschine Google, um die Aktionen dieser eigenwilligen Protestgruppe in Tiefe und Breite vollumfänglich zu verstehen. So wirft Richter Felix Lautenschlager im Prozess gegen zwei Mitglieder der Letzten Generation um eine Blockade an den Elbbrücken die Darstellung von Google Maps per Beamer an die Wand. Er will den Ort der Aktion am 4. Februar 2022 richtig verstehen. Es war der erste große Handstreich dieser Art in Hamburg.
Wie viele Fahrspuren gibt es hier am südlichen Stadteingang Hamburgs? Welche wurden blockiert? Wie weit ging der Stau zurück, nachdem sich einige der Aktivisten auf die Straße gesetzt hatten, einige sich dort sogar festklebten? Wo stand Zeuge 1 mit seinem Auto, wo Zeuge 2? Wie und wo hat Dienstgruppenleiter E. den Einsatz der Polizei koordiniert?
Letzte Generation in Hamburg: Blockade war Nötigung
Melanie G. ist eine der Mitgründerinnen der Letzten Generation. Die Verhandlung ist am Tag vor ihrem 28. Geburtstag. Sie hockte auf der Straße an jenem nasskalten Februarmorgen und ließ sich von Polizisten von der Fahrbahn begleiten. Jetzt sitzt sie wieder mal im Gericht. Im Polizeigewahrsam hatte sie nach der Blockade auch gesessen. Einmal hatte sie sechs Tage in einer Zelle ausgeharrt. Auf weiteres „Sitzen“ ist sie eingestellt. „Ich werde wohl eine Zeit meines Lebens im Gefängnis verbringen“, sagt Melanie G. im Laufe des Prozesses.
Doch das Ziel, die Menschheit aufzuklären über die Folgen des Klimawandels und die Kipppunkte, die eine „Katastrophe“ unumkehrbar herbeiführten, ist für sie wichtiger als ihr Einzelschicksal. So sieht es auch der Mitangeklagte Noah B. (27). Was ist schon, so klingt es in den ausschweifenden Redebeiträgen beider an, der Vorwurf der Nötigung von Hunderten Autofahrern gegen den drohenden Weltuntergang?
Was die Klimakleber von Fridays for Future unterscheidet
Das Ende der Menschheit muss Richter Lautenschlager im Saal A 6.04 des Amtsgerichts Harburg nebenbei mitverhandeln. Draußen dieseln unzählige Lkw über die chronisch verstopfte B73. Dahinter poltern Güterzüge Richtung Hafen. Und Zeuge 2 musste die Angeklagten erst googeln, um zu erfahren, warum er wohl hierher geladen wurde. Wie war das denn am 4. Februar 2022 in Reihe eins vor den Blockierern? Alles eigentlich ganz friedlich, sagt Zeuge 2. Auf welcher Spur stand denn Zeuge 2? Zeuge 1 hatte gesagt, er war wohl auf der zweiten von links. „Nein“, sagt Zeuge 2, „dann hätte er ja bei mir im Wagen gesessen. Zweite Spur von links, das war ich.“
Die Klimakleber genießen in der Öffentlichkeit nicht den guten Ruf wie die Klimakinder. So heißen die Mitglieder bei Fridays for Future im Straßenjargon. Eine Umfrage aus dem Juni zeigte: 85 Prozent der Deutschen halten die Blockaden nicht für gerechtfertigt. Für die Anhänger von Greta Thunberg und Luisa Neubauer gibt es erheblich mehr Sympathie. Als Ableger gründeten sich sogar die „Omas for Future“. In Hamburg herrscht selbst bei besonders klimabewussten Vordenkern wie Ehrenbürger Michael Otto Unverständnis über die hartgesottenen Kleber.
Was ist mit Krankenwagen bei Blockaden?
Das mag damit zusammenhängen, dass Blockaden Krankenwagen im Einsatz treffen können, wie in Berlin offenbar geschehen. Das schürt Wut – und sorgt bei so manch Blockiertem für Gewalt gegen die Klimakleber. Überhaupt ist die Lunte kurz im Straßenverkehr.
Der Protestforscher Dieter Rucht sieht den zivilen Ungehorsam wie bei der Letzten Generation als Mittel von Demonstranten längst etabliert und von der breiten Öffentlichkeit akzeptiert. Aber die Blockaden gingen den meisten zu weit. Und nur Aufmerksamkeit zu erregen, sagt Rucht, erscheine vielen zu billig vor dem Hintergrund des allseits verstandenen Klimawandels.
Letzte Generation präsentiert Aktionen auf Social Media
Auf ihrer Internetseite versammelt die Letzte Generation auch die – opulente – Resonanz auf ihre Aktionen. Lange Linklisten von Medienbeiträgen finden sich dort. In den sozialen Netzwerken sind die Aktivisten hyperaktiv. Zum Protest am Hamburger Flughafen brachten sie ein Kamerateam mit. Am Amtsgericht Harburg werden Besucher vor Verhandlungsbeginn kurz durchsucht. Nicht, dass ein Aktivist aus dem Zuschauerraum den Prozess für neuen Protest nutzt. Vor Gericht zitiert Noah B. stolz aus Schlagzeilen: Seine Bewegung habe Fridays for Future abgehängt. Protestforscher Rucht sieht bei der Letzten Generation Anzeichen für „Erweckungserlebnisse“ und eine „Endzeiterwartung“, die man von Sekten kenne.
Amtsrichter Lautenschlager lässt sich genau erklären, dass an den Elbbrücken bei einem Rettungseinsatz die Angeklagten sofort hätten Platz machen können. Alles gesetzeskonform also? Der Vorsitzende wirft die Frage in den Harburger Gerichtssaal, warum es denn von der „Zustimmung“ der Blockierer abhängen müsse, ob ein Wagen durch darf, ein anderer nicht. Der Angeklagte B. beruft sich auf den „übergesetzlichen Notstand“. Er sagt: „Ich war sicher, wegen der Dringlichkeit der Lage keinen Rechtsbruch zu begehen.“ Doch rechtfertigt ein hehrer Zweck jedes Mittel?
Flughafen Hamburg: Schadenersatzklage angekündigt
Am Hamburger Rathaus wurde die Fassade mit Farbe beschmiert. Sachbeschädigung ist strafbar. Der Senat verlangt nun die Reinigungskosten. An der Universität haben Letztegenerationisten das Audimax erst besetzt, dann beschädigt, als sie aufs Vordach stiegen. Hier wurden Strafbefehle verhängt, die Hochschule will ihren Schaden (18.000 Euro) ersetzt haben. In dieser Woche wurde das Audimax erneut besprüht. Im Juli zerstörten Klimakleber den Zaun am Flughafen, fuhren mit Stadträdern auf das Rollfeld und pappten sich am Boden fest. Der Flugbetrieb wurde über Stunden beeinträchtigt, Maschinen umgeleitet, Passagiere bestenfalls umgebucht.
Hier wird der Schaden gerade berechnet, sagte eine Flughafensprecherin dem Abendblatt, um ihn den Tätern in Rechnung zu stellen. In Berlin hatte die Lufthansa Group nach einem Vordringen von Klimaaktivisten in den Sicherheitsbereich des BER 120.000 Euro an Wiedergutmachung gefordert. Zehn Flüge wurden gestrichen, ein Jet musste in Leipzig landen, viele waren verspätet.
Härtere Strafen für Eingriffe in den Luftverkehr?
Der Flughafenverband ADV verlangt nach zahlreichen Aktionen der Letzten Generation härtere Strafen. Hauptgeschäftsführer Ralph Beisel sagte dem Abendblatt: „Bislang konnten ,Aktivisten‘, die vorsätzlich in den Sicherheitsbereich der Flughäfen eingedrungen sind, meist nur zu überschaubaren Geldstrafen aufgrund von Nötigung, Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung verurteilt werden. Die vorhandenen Instrumente des Straf- und Zivilrechts sind nicht ausreichend, um die Störer des Flughafenbetriebs zur Verantwortung zu ziehen.“
Beisel fürchtet, dass die Allgemeinheit das Vertrauen in die Sicherheit verliere. „Um weitere Taten dieser Art wirksam zu verhindern, bedarf es aus Sicht der ADV dringend einer Verschärfung der drohenden Strafen. Die ADV fordert daher eine deutliche Verschärfung im Strafgesetzbuch bzw. im Luftsicherheitsgesetz.“
Airport Hamburg: Mehr Streifen, bessere Kameras und Sensoren
Die Staatsanwaltschaft Hamburg ermittelt weiter gegen die Rollbahn-Blockierer vom Juli. Es geht um den Verdacht der Sachbeschädigung und des Hausfriedensbruchs. „Für einen gefährlichen Eingriff in den Luftverkehr fehlte es bislang zumindest an Anhaltspunkten für das Vorliegen einer konkreten Gefahr“, teilte die Behörde dem Abendblatt mit. Die Bundespolizei wollte nicht sagen, ob es schärfere Sicherheitsmaßnahmen am Airport gebe. Sie verwies auf die Wirtschaftsbehörde.
Die wiederum erklärte dem Abendblatt: Der Zaun sei besser gesichert, als es internationale Anforderungen vorsehen. „Kamera- und Sensorsysteme am Zaun“ würden weiter verbessert. Es gebe zudem mehr Streifen. „In Abstimmung mit den für die Sicherheit zuständigen Behörden werden kontinuierlich weitere Maßnahmen geprüft und vorbereitet.“
So finanziert sich die Letzte Generation
Am besten vorbereitet auf alles scheint: die Letzte Generation. Sie hat eine „Kriegskasse“ für Anwalts- und Prozesskosten. Nach Einnahmen und Ausgaben blieben ihr laut Transparenzbericht im Jahr 2022 genau 383.106,40 Euro. Das Geld kam von Spendern. Die Initiative „Gemeinnützige Bildungsarbeit“ sammelte auch Zuwendungen vom Climate Emergency Fund ein, den wiederum finanzstarke US-Gönner fördern und der von Rory Kennedy mitgegründet wurde, einer Tochter des früheren Senators Robert F. Kennedy. Die Initiative unterstützt die Letzte Generation finanziell.
Ob sich aus dem vergleichsweise kleinen Überschuss Schadenersatzklagen von Fluggesellschaften bedienen lassen? Wer klebt, kriegt laut Transparenzbericht der Letzten Generation kein „Gehalt“. Das Geld geht unter anderem raus für Material (Transparente, Kleber), Seminare (Miete) und Fahrtkosten der Aktivisten.
Mitgründerin der Letzten Generation lebt von ihren Eltern
Nirgendwo müssen sich die Aktivisten so „nackt“ machen wie vor Gericht. In zahlreichen Prozessen, die das Abendblatt begleitet hat, wird deutlich: Der rigorose Einsatz für den Klimaschutz führt mitunter zu persönlicher Selbstaufgabe. Mitgründerin Melanie G. stammt aus dem Hamburger Umland. Sie sagt freimütig: „Ich bin in einer Spielstraße aufgewachsen und wurde zum Klavierunterricht gefahren.“ Beste Noten sollte sie bringen. Heute fragt sie sich: wofür? „Ich fühle mich verarscht.“
Die Politik tue nichts, um eine Klimakatastrophe zu verhindern. Dabei lägen alle Vorhersagen wissenschaftlich begründet auf dem Tisch. „Ich habe alles aufgegeben für die Letzte Generation.“ Bis Ende 2021 hat die Wirtschaftsinformatikerin in der IT-Branche gearbeitet. Seitdem ist sie arbeitslos und lebt von dem, was die Eltern ihr zahlen: die Miete in der WG plus 250 Euro fürs Essen.
Angeklagter: Es droht die Klima-Apokalypse
Noah B. hat einen Abschluss in Elektrotechnik. Über seine Einkommensverhältnisse mag er nichts sagen. Dafür umso mehr über den „zivilisatorischen Kollaps“, der der Welt drohe. Von mehreren Zetteln liest er seine letzte Botschaft vor der Urteilsverkündung ab. Wir „leben in einer mehrheitlich unaufgeklärten Gesellschaft“, sagt er. Er hat sich von der Anklagebank erhoben. Wie ein Pastor von der Kanzel predigt er die Klima-Apokalypse.
Richter Lautenschlager hört aufmerksam zu, als seien nicht schon deutlich mehr als zwei Stunden der Verhandlung verstrichen und als gäbe es nicht Aktenberge mit weiteren Fällen. Überhaupt zeigt die Hamburger Richterschaft viel Verständnis für den Protest. „Amtsrichter Gnadenlos“ – das war einmal. Im Verfahren gegen die Uni-Besetzerin Lina S. sagte die Vorsitzende, wie gut sie die Anliegen um mehr Klimaschutz verstehen könne. Doch gemeinschaftliche Sachbeschädigung sei nun mal strafbar. Am Audimax wurde orange und rote Farbe der Marke „Schöner Wohnen“ versprüht. Im Urteil über eine andere Angeklagte der Uni-Aktion hieß es: „Außerdem hat das Gericht zugunsten der Angeklagten berücksichtigt, dass sie mit der Tat auf die Folgen der Klimakrise aufmerksam machen wollte und für sich keinen anderen effektiven Weg zur Beeinflussung der Gesellschaft und der Politik gesehen hat.“
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16 Minuten Blockade an den Elbbrücken – es war Nötigung
Die ehemalige Philosophie-Studentin Lina S. hatte ihr Studium für die Letzte Generation aufgegeben und zog wieder zu ihrer Familie. Sie lebt von einem Mini-Job. Die Strafe von 40 Tagessätzen à 15 Euro für die Aktion an der Uni Hamburg sind in etwa ihr Monatsverdienst. Melanie G. und Noah B. erhalten ebenfalls Strafen von 35 und 40 Tagessätzen à 15 Euro. Richter Lautenschlager wertet ihre Aktion an den Elbbrücken als Nötigung. Da hilft auch nicht, dass der eigentliche Polizeieinsatz gegen die Blockierer, ehe die ersten Autofahrer wieder langsam durchkamen, laut Protokoll von 7.53 Uhr bis 8.09 Uhr dauerte.
Das summiere sich ja auf 16 Minuten, rechnet der Richter dem Polizeibeamten E. vor. Ja, sagt E. Letzte Generation, sowas sei doch Routine. RTW dazugeholt (wegen möglicher Verletzungen), die technische Hundertschaft alarmiert (wegen des Klebstoffs) und den Stau peu à peu wegmoderiert. „Hamburg ist eine versammlungsfreundliche Stadt“, sagt E.
Letzte Generation in Hamburg: Aktivistin Melanie G. verpasste Termin wegen Blockade
Doch die Staatsanwälte sind alles andere als geneigt, die Verfahren einzustellen. B.s Verteidiger in Harburg argwöhnte eine Dienstanweisung „von oben“. Das bestritt die Staatsanwältin vor Ort. In bisherigen Prozessen gab es deutschlandweit gegen Mitglieder der Letzten Generation Freisprüche, Strafbefehle, Geldstrafen und sogar Haft, zumeist auf Bewährung.
Die Mitgründerin der Letzten Generation, Melanie G., stand sich bei der Blockade an den Elbbrücken in gewissem Sinne selbst im Weg. Sie sagte vor Gericht, sie habe nicht damit gerechnet, dass die Polizei sie mitnimmt. „Eigentlich dachte ich, das ist alles schnell vorbei.“ War es auch. Nur für sie nicht. Die junge Frau verpasste ihren Arzttermin.