Hamburg. Mahlers 6. Sinfonie mit den Wiener Philharmonikern wurde zum schmerzhaften Inferno, dabei kamen ungewöhnliche Instrumente zum Einsatz.
Schaut man die Orchesterbesetzung bei Mahlers 6. Sinfonie a-Moll an, beginnt sich der Kopf zu drehen, Schwindel pur. Allein die Blechbläser: acht Hörner, sechs Trompeten, vier Posaunen, Tuba. Dann das Schlagwerk: kleine und große Trommel, Becken, Tamtam, Rute (!), Glockenspiel, Xylofon, Herdenglocken und vor allem: der Hammer. Zweimal gibt es im 30-minütigen Finale Schläge mit einem riesigen Holzhammer auf eine Kiste. Nach dem zweiten Mal ebbt es in Wellen ab und endet mit einem dunkel-ernüchternden, leisen Orchester-Pizzicato. Nach einer Stunde und 25 Minuten herrschten nach dem letzten Ton lange Sekunden Stille in der Elbphilharmonie. Dann wurden Dirigent Klaus Mäkelä und die Wiener Philharmoniker gefeiert.
Vor wenigen Tagen erst gab der 28 Jahre junge finnische Dirigenten-Star sein Debüt beim Wiener Traditionsorchester im Musikverein. Hamburg war die erste Station einer Deutschland-Tournee. Dass er sich Mahlers monumentale Sechste als „Einstand“ wählte, spricht vielleicht Bände. Will er hoch hinaus wie der Komponist? Mäkelä ist schon Chef des Oslo Philharmonic und des Orchestre de Paris, bald wird er Chef des Chicago Symphony Orchestra und des Concertgebouw Orkest Amsterdam, er hat schon die Berliner Philharmoniker oder das Cleveland Orchestra dirigiert. Das ist die Crème de la Crème der Spitzenorchester. Die wissen, wen sie sich einladen. Mäkelä ist einer, der genau weiß, was er musikalisch will, der ein klares Konzept hat und der es auch vermitteln kann. Dennoch kann einem bei diesem Senkrechtstarter schon ein wenig schwindlig werden.
Ehefrau Alma hielt die Sechste für Gustav Mahlers „allerpersönlichstes Werk“
Mäkelä brennt für die Musik – wie eine Kerze an beiden Enden. Er lebt und leidet, behält aber die Kontrolle. Mit welcher Kompromisslosigkeit, mit welcher Detailgenauigkeit er den eineinhalbstündigen Sinfonie-Koloss gestaltete, das ließ schon staunen.
„Tragische“ ist der Beiname von Mahlers Sechster. Düsterer, grotesker, lauter, aufschreiender, pessimistischer ist kaum eine andere Sinfonie. Unerbittlich zwingt ein marschartiger Rhythmus zu Beginn in ausweglose Monotonie, immer wieder taucht er auf. Die Hammerschläge im Finale scheinen das Schicksal zu besiegeln. Eigentlich waren es drei Schläge, der dritte, so Mahler, fälle den Helden – natürlich der Komponist selbst – „wie einen Baum“. Das war dann wohl doch eine Spur zu fatalistisch, Mahler strich den letzten Hammerschlag. Ehefrau Alma hielt die Sechste für Mahlers „allerpersönlichstes Werk“. Tatsächlich blickt die Sinfonie prophetisch in die Zukunft. Nur ein gutes Jahr nach der Uraufführung 1906 stirbt Mahlers Tochter Maria an Diphtherie, und der herzkranke Mahler selbst wird nur noch fünf Jahre leben.
Philharmoniker markieren vernichtenden Rhythmus wie Gang zum Schafott
Mit unglaublich fokussierter Energie und präzise markierte Mäkelä mit den Philharmonikern den vernichtenden Rhythmus wie einen Gang zum Schafott. In schrille Höhen schraubten sich die sonst so weichen Wiener Streicher, die immer wieder auch mit dem Holz des Bogens spielen und so in das Geisterhaft-Groteske der Sinfonie führen. Nur beim zweiten, lyrischeren, leiseren (Alma-)Thema blitzte ein wenig Wiener Charme durch. Die Ruhe- und Sehnsuchtsinseln sind rar in dieser Sechsten. Mäkelä ließ sie etwa im langsamen Andante-Satz mit weich-schmelzenden Melodien fließen, holte warme Streicher- und Bläser-Farben aus dem Orchester, baute dabei die Spannung mit so zwingender Intensität auf, vermittelte dabei den Schmerz so hautnah spürbar, dass Mahlers Abgründe sich wie ein Inferno auftaten.
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Die schrill-hohen Lagen am Ende des Andante brannten sich dann wie Feuer in die Ohren, um dann im wuchtigen Scherzo mit harten Paukenschlägen, bedrohlich dräuenden Posaunen noch gesteigert zu werden. Hinkende Rhythmen entziehen einem da jede Orientierung, etwas Erleichterung verschafft das Trio, „grazioso“ und „altväterisch“ schreibt Mahler vor. Und es war einmal mehr atemberaubend, wie souverän und frei Klaus Mäkelä Mahlers Gefühlsextreme ausbalancierte – seine lauten Aufschreie, seine Sehnsuchtsmomente, wenn im Orchester beispielsweise Herdenglocken Nostalgie beschwören. So erzählte er vom Schmerz dieser so zerrissenen Komponistenseele, vermied aber Pathos und sorgte durch seinen klaren, strukturellen, interpretatorisch zwingenden Zugang dafür, dass niemand in diesem Fegefeuer bleiben musste.
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