Hamburg. Bachs beliebtestes Werk: Wer ist der Star im Orchester? Warum singen hier Männer Sopran? Wo gibt es in diesen Tagen in Hamburg noch Tickets?

  • Im protestantischen Norddeutschland geht im Advent nichts ohne das Weihnachtsoratorium
  • Für Kirchenchöre ist das Weihnachtsoratorium der Höhepunkt des Jahres
  • In Hamburg wird das Weihnachtsoratorium in diesen Tagen in besonders vielen Kirchen gespielt

Quasi seit den Sommerferien liegen Spekulatius in den Auslagen. Nur auf die Kirchen ist noch Verlass. Die haben pietätvoll abgewartet, bis der Totensonntag herum war, bevor das erste Weihnachtsoratorium stieg – aber seither gibt’s kein Halten mehr. Bei Bachs Allzeithit können selbst hartgesottene Atheisten nicht widerstehen, das Stück gehört in Hamburg, der inoffiziellen Hauptstadt der Kirchenmusik, zur Adventszeit nun mal dazu wie Zimtstern und Kerzenschimmer. Damit Sie mitreden können, machen wir einen kleinen Rundgang durch eine Aufführung. Eins schon mal vorweg: Wenn Musikerinnen und Musiker vom Weihnachtsoratorium sprechen, sagen sie WO (ausgesprochen We-Oh).

Weihnachtsoratorium 2024 in Hamburg: Was Sie wissen müssen, wo es läuft

Teile-Arithmetik: Was „1 und 4–6“ beim WO bedeutet
Das Weihnachtsoratorium besteht aus sechs Teilen, die praktischerweise alle etwa eine halbe Stunde dauern. Ursprünglich wurden sie in der Zeit zwischen dem ersten Weihnachtsfeiertag und dem 6. Januar einzeln in den Gottesdiensten gespielt. Man spricht von „WO eins bis drei“ oder „WO eins bis sechs“. Nur „WO vier bis sechs“ allein kommt kaum vor; erstaunlicherweise ist die erste Pakethälfte, also die Teile eins bis drei, wesentlich beliebter. Die sind so gut wie immer dabei. Die Teile vier bis sechs haben eher Bonuscharakter. Das haben sie nicht verdient. Es gibt auch handverlesene Kombinationen wie „1–3 und 6“ oder „1 und 4–6“. Hauptsache, die Trompeten sind dabei.

Der Evangelist braucht: Stimme, Kondition und eine Flasche Wasser
Der Evangelist (Tenor) erzählt in Rezitativen die Weihnachtsgeschichte nach Lukas (ein bisschen Matthäus ist auch dabei), vom Volkszählungsbefehl des Kaisers Augustus bis zum Abzug der Heiligen Drei Könige. Unerlässlich für diesen Nonstop-Einsatz sind eine bewegliche Stimme, eine klare Diktion, Kondition und eine Wasserflasche. Es gibt ein paar Berufsevangelisten, die während der Saison ganze Regionen versorgen. Es ist nicht übertrieben, für die Arien einen zweiten Tenor zu engagieren. Aber es kostet.

Ohne Kantor kein WO
Ohne die Kantorin oder den Kantor läuft gar nichts. Sie oder er steht nicht nur am Dirigentenpult, sondern hat auch die Gesangssolisten und das Orchester engagiert, die Noten eingerichtet und mit dem Chor auch dieses Jahr wieder die hohen Stellen in „Herrscher des Himmels“ geprobt. Die Kantorin teilt die Helfer für Auf- und Abbau der Podeste ein, ringt mit dem Küster um die Probenzeiten und ist Anlaufstelle für das frühere Chormitglied, das das Programmheft schreibt. Und sollte es den Kantor nach einem weiteren Job gelüsten, kann er noch am Cembalo in der Continuogruppe (siehe unten) mitmischen.

Weihnachtsoratorium in Hamburg: Chor oder Chor, was denn nun?

Chor oder Chor, was denn nun?
Der Kirchenchor ist das Herz der Gemeinde; einen stärkeren sozialen Klebstoff als das Singen kann man sich kaum denken. Das WO ist der Höhepunkt des Jahres. Hinterher gibt es ein Chorfest mit Büfett und Reden mit Rückblick, Ausblick und Verabschiedungen. Außerdem ist Chor die Bezeichnung für eine Chornummer, die kein Choral ist. Jeder Teil hat mindestens einen davon, der berühmteste ist der Eingangschor des ersten Teils „Jauchzet, frohlocket“.

Wie sinnlich klingt barocke Lyrik?
Die Solostimmen (Sopran, Alt, Tenor und Bass) haben ihre Auftritte in den Arien. Das sind die Momente, in denen der Einzelne die biblische Botschaft verinnerlicht. Die barocke Lyrik ist recht überschwänglich im Tonfall und nicht gerade leibfeindlich. „Labe die Brust, empfinde die Lust“, singt der Alt – natürlich der Alt – etwa in der Arie „Schlafe, mein Liebster“. Glaubenslust? Warum nicht? Vielleicht lassen Sie sich aber auch von der entzückenden Echo-Arie überraschen – einer von vielen Gründen, sich die Teile vier bis sechs doch mal anzuhören.

Was verdient man denn so mit einem Weihnachtsoratorium?

Die Gage? Ist Betriebsgeheimnis
Muggen (so kürzt die Szene „musikalische Gelegenheitsgeschäfte gegen Entgelt“ ab) sind unter Freischaffenden naturgemäß weit verbreitet. In der Weihnachtszeit spielen nicht fest angestellte Musikerinnen oft einen wesentlichen Teil ihres Jahreseinkommens ein. Den Spitzenplatz im Weihnachtsrepertoire nimmt das WO ein. Welches Honorar sie bekommen, darüber hüllen sich die Künstler und Künstlerinnen gern in Schweigen – genau wie umgekehrt die Kantoren über ihre Budgets. Auch in der Kirche gibt’s Betriebsgeheimnisse.

Kirche St. Michaelis mit Weihnachtstanne, in der Neustadt von Hamburg, Deutschland, Europa
Hamburgs Hauptkirche St. Michaelis ist zur Weihnachtszeit besonders schön geschmückt. © picture alliance / imageBROKER | Christian Ohde

Wer oder was ist ein Choral?
Die Gemeinde der Gläubigen reflektiert das Geschehen in Chorälen, das sind liedhaft schlichte vierstimmige Sätze. Weil im WO so viele davon vorkommen, muss man sich für die Gestaltung etwas einfallen lassen, aber manieriert soll es auch nicht werden. Manche Choräle sind von Bach, andere hat er bei seinen Kollegen und Vorläufern entlehnt. Das galt damals nicht als geistiger Diebstahl, sondern als Kompliment.

Weihnachten in Hamburg: Beim Weihnachtsoratorium gibt es auch männliche Sopranisten

Singen da etwa nur Männer?
Der Sopran hat in den ersten drei Teilen kaum zu tun. Lichtblick ist ein kurzer, aber prominenter Auftritt als Engel mit „Fürchtet euch nicht“. Übrigens ist er nicht notwendig eine Sopranistin, auch Knaben singen Sopran oder Alt. Das ist kein Zeichen, dass Bach in Genderfragen besonders fortschrittlich gewesen wäre, sondern Ausdruck des Schweigegebots für Frauen in der Kirche. Der Maulkorb ist zwar heute passé, bei Tenor und Bass ist aber dann auch schon wieder Schluss mit der Gleichberechtigung. Und die Originalklangbewegung setzt sowieso schamlos Countertenöre ein.

Wer ist der „Motor“ des Weihnachtsoratoriums?
Die Continuogruppe besteht üblicherweise aus Cello, Kontrabass (oder auch, bei historischen Instrumenten, dem Violone) sowie Orgel und/oder Cembalo, Oberbegriff im Musikerjargon ist „Taste“. Oft ist noch ein Fagott dabei. Das Continuo ist die Rhythmusgruppe jedes barocken Werks. Es trägt die Solisten auf Händen und ist pausenlos im Einsatz. Continuocellistinnen und -cellisten blättern mit links, während sie mit rechts weiterstreichen. Ob sie es während einer langen Note schaffen, ein Butterbrot zu essen, ist nicht überliefert. Es wäre ihnen aber zu gönnen.

Johann Sebastian Bach (1685-1750) Portrait, vielseitiger...
Der Komponist Johann Sebastian Bach (1685–1750) gilt wegen der Beliebtheit seiner Oratorien als fünfter Evangelist. © picture alliance / imageBROKER | Wolfgang Diederich

Was kann Cembalisten zur Verzweiflung bringen?
Die Höhe der einzelnen Töne innerhalb eines Systems nennt man Intonation. Musikinstrumente reagieren sehr individuell, um nicht zu sagen divenhaft auf Schwankungen der Luftfeuchtigkeit und Temperatur. Das kann insbesondere Cembalisten zur Verzweiflung bringen. Merke: Das Cembalo stimmt nie, der Cembalist stimmt immer.

Und wer ist der Star?
Die Trompete ist der instrumentale Star des WO. Schon der erste Teil ist ein Trompetenfest mit dem Eingangschor „Jauchzet, frohlocket“, der Arie „Großer Herr und starker König“ und dem Schlusschoral. Die Teile zwei, vier und fünf sind ohne Trompeten, aber trotzdem sehr schön. Hörner spielen dagegen nur in zwei Nummern im vierten Teil. Der Part liegt aber so hoch und ist so schwer, dass Hornistinnen oder Hornisten, die ihn spielen können, ähnlich rar sind wie gute Evangelisten. Es kommt vor, dass findige Kantoren die beiden Nummern einfach von den Trompetern auf dem Flügelhorn spielen lassen. Die sind ja sowieso schon da.

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Kein Kirchenkonzert ohne Toilettenschlange?
Nach drei Teilen haben alle Beteiligten eine Pause nötig, sofern dann nicht ohnehin Schluss ist. Manche Chöre stemmen auch noch ein Pausencatering. Für die Teile vier bis sechs braucht es meist eine Extra-Eintrittskarte, im Doppelpack mit den ersten drei sind sie aber oft sehr viel günstiger. Frühes Einreihen in die Toilettenschlange empfiehlt sich.

Hier wird das Weihnachtsoratorium in Hamburg gespielt – hier gibt es noch Karten:
Michel: Sa 21.12, 15.30 WO I-III, 18.00 WO IV-VI, 20.20 WO I-III, So 22.12., 15.30 WO I-III, 18.00 WO IV-VI, St. Katharinen: Sa 14.12., 17.00 WO I-III, 19.30 WO IV-VI, Kulturkirche Altona: So 15.12., 18.00 WO I+III, Kirche am Rockenhof (Volksdorf): Sa 14.12., 16.00, WO für Kinder, So 15.12., 17.00, WO I-VI, Christuskirche Othmarschen: So 15.12., 18.00 WO I-III, St. Nikolai: Mi 18.12., 18.00 + 20.15 WO I-III, St. Marien Dom (St. Georg): Sa 14.12., 20.00 WO I-III

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