Hamburg. Der Bach-Klassiker wurde an gleich zwei Abenden hintereinander in der Elbphilharmonie gespielt. Mit unterschiedlichem Ergebnis.
Huch, eine Doublette! Ist das dramaturgische Chuzpe oder einfach Zufall? Jedenfalls hat die Elbphilharmonie für diese Woche an zwei Abenden hintereinander Bachs Weihnachtsoratorium ins Angebot genommen, beide Male in hochkarätiger Besetzung. Ob nun beabsichtigt oder nicht, der direkte Vergleich verblüfft. Denn wer sich am ersten Abend besorgt gefragt hat, ob er oder sie noch ein Herz im Leibe hat, an das die Musik rühren könnte, der geht am zweiten beruhigt nach Hause. Nein, mehr. Beglückt. Aber der Reihe nach.
Masaaki Suzuki, der Altmeister der Originalklangbewegung in Japan, bringt die Teile I bis III zur Aufführung, das ist zwar nur die Hälfte des Werks, aber eine übliche Darreichungsgröße. Suzuki hat dafür zwei englische Elite-Combos mitgebracht, nämlich das Orchestra of the Age of Enlightenment und den Chor mit dem entsprechenden Bandwurmnamen. Die können alles. Paradoxerweise wird gerade deshalb ein schaler Nachgeschmack bleiben.
Elbphilharmonie Hamburg: Weihnachtsoratorien – der Stoff, aus dem die Lebendigkeit ist
Jeder und jede dieser Superprofis beherrscht das Weihnachtsoratorium (kurz W.O.) im Schlaf. Aber dieses Einzelkönnen muss stets aufs Neue zusammengefügt werden. Im Orchester klappert es gelegentlich, hängt die Intonation durch oder franst ein Schlusston aus. So klingt es, wenn man zu wenig geprobt hat.
Das ist, um es klarzustellen, Jammern auf höchstem Niveau. Die Age-of-Enlightenment-Ensembles reißen die Messlatten, die sie zuvor selbst mit hinreißend inspirierten Aufführungen gelegt hatten. Momentweise stellt sich durchaus Atmosphäre ein. Der Countertenor Hugh Cutting, kommt in der Weichheit oft einer Frauenstimme nah. Und der Tenor Guy Cutting (woher die Namensgleichheit rührt, bleibt ein Geheimnis) singt die Partie des Evangelisten mitsamt den Arien beseelt und aus dem Moment heraus. Suzuki allerdings dirigiert bei seinem Hamburger Gastspiel wie auf Autopilot und zeigt keinerlei Gespür für die Stimmung im Saal. Während das Publikum noch das Ende des ersten Teils nachklingen lässt, schaufelt der Dirigent unversehens mit den Armen und fordert förmlich Applaus ein.
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Ein seltsam digitales W.O. erklingt da. Suzuki gestattet weder sich noch anderen ein Atemholen, den Temporegler schiebt er weit nach oben (der Chor „Herrscher des Himmels“ klingt, als hätte jemand versehentlich den Plattenteller auf 45 statt auf 33 gestellt). Die Gruppe singt das alles locker weg, klanglich mühelos homogen, aber wenig geformt oder gar sprachnah gestaltet. Bachs Motette „Singet dem Herrn ein neues Lied“, vor dem dritten W.O.-Teil eingeschoben, gerät zu einer reinen Leistungsschau.
Selber Ort, nächster Abend, nächste Aufführung. Es singt das NDR Vokalensemble, die Leitung hat kurzfristig Holger Speck anstelle des erkrankten Chefdirigenten Klaas Stok übernommen. Corona hat einige Umbesetzungen gefordert, aber das wird man erstaunlicherweise nicht merken. Schon die ikonischen ersten Paukenschläge packen den Hörer. Friedhelm May von der Akademie für Alte Musik Berlin macht klar, wo der Taktschwerpunkt ist, steigert sich zum zweiten Takt und lässt die Lautstärke dann wieder abfallen. Genau dieses Gespür für die energetische Landschaft ist der Stoff, aus dem die Lebendigkeit ist.
Elbphilharmonie Hamburg: Kontemplation für 2000 Menschen
Über die sechs Teile hinweg nehmen Chor, Orchester, Dirigent und der Tenor Julian Prégardien als Evangelist das Publikum mit auf eine Seelenreise. Zwischen den Teilen fremdelt die Rezensentin zwar ein wenig damit, dass der Saal kein Kirchenraum ist. Es schwätzt sich so kuschelig. Aber das kann der Konzentration, mit der die Menschen dann wieder zuhören, nichts anhaben. Was sich überträgt, ist die Ernsthaftigkeit der Beteiligten. Nur wer sich einem Werk immer wieder neu zuwendet, kann dieses Staunen auch vermitteln. Wenn der Chor die kunstvoll verflochtenen Bewegungen der Musik herausarbeitet, wenn einzelne Stimmgruppen sich zurücknehmen, um andere hervortreten zu lassen, dann funkelt das, atmet, pulsiert.
Prégardien nimmt Kontakt mit dem Auditorium auf. Er erzählt die bekannte Geschichte, als wäre es das erste Mal, hält inne oder entfacht Minidramen, und das alles mit einem tragfähigen, lyrischen Timbre. Und wie souverän die Chormitglieder die Arien und Duette singen, zum Teil übrigens einigermaßen spontan, das kann man nur bewundern. Stellvertretend sei hier die Altistin Anna-Maria Torkel genannt. Einer von vielen herzergreifenden Momenten ist die Arie „Schließe, mein Herze“ im dritten Teil. Mit dem Konzertmeister Georg Kallweit und dem Continuocellisten Jan Freiheit stellt Torkel diese innige Musik hin wie ein Marienbild.
Kontemplation für 2000 Menschen. Was für ein Geschenk.
Nächstes Weihnachtsoratorium-Konzert: 11.12., 20 Uhr, Laeiszhalle, Gr. Saal: „Bachs Weihnachtsoratorium als urbane Kammermusik“ mit dem Ensemble Resonanz