Hamburg. Das Coronavirus sorgt für einen Bruch mit der Tradition. Wie Musiker diese auch finanziell schwierige Situation erleben.
Weihnachten ohne Weihnachtsoratorium? Für Musiker klingt das wie Christbaum ohne Lametta, Zimt ohne Stern, Glüh ohne Wein: unvorstellbar wie so vieles andere, was uns das sich neigende Jahr gebracht hat. Kein trompetenüberglänztes „Großer Herr und starker König“ in den Hauptkirchen mit ihren vielköpfigen Kantoreien, keine klein und fein besetzte Fassung im Vorstadtkirchlein mit Vokalensemble und historischen Instrumenten.
Sogar Vetter Franz aus Bottrop muss dieses Jahr darauf verzichten, sich als selbsternannter Evangelist heiser zu krähen, denn nicht einmal das großfamiliäre Wohnzimmer-W.O. darf stattfinden.
"W.O." bringt freier Musiker-Szene Großteil des Jahreseinkommens ein
„W.O.“, so geht unter Musikern die gängige Abkürzung für das Weihnachtsoratorium. Die zungenschonende Chiffre hat nichts mit Respektlosigkeit dem Werk gegenüber zu tun, sondern damit, dass die freie Szene in der Weihnachtszeit einen wesentlichen Teil ihres Jahreseinkommens einspielt.
Natürlich nicht nur mit dem W.O., aber es nimmt mit Abstand den Spitzenplatz im Weihnachtsrepertoire ein. Vom Vorabend des ersten Advents bis rund um den Dreikönigstag jauchzt und frohlockt es allenthalben im protestantisch geprägten Norddeutschland, mit einer starken Häufung um den dritten Advent. Jedes Jahr wieder.
Was bedeutet die Stille für Musiker?
Und nun, 2020: Stille. Was bedeutet sie für die Musiker? Wie geht es ihnen ohne dieses klanggewordene Ritual, das sie schier bis in die Taktzahlen auswendig kennen?
Gründe, es zu lieben, gibt es wahrscheinlich so viele wie Dirigenten, Solisten, Chorsänger und Instrumentalisten zusammengenommen. „An Weltklassemusik gibt es bei jeder neuen Beschäftigung anderes zu entdecken“, sagt Thomas Dahl, Kirchenmusikdirektor an der Hauptkirche St. Petri. „Nach einem Jahr gelebtem Leben schauen wir besonders die Choräle mit anderen Augen an.“
Fehlen des Weihnachtsoratoriums ist kalter Entzug
Gründe, es zu vermissen, dürfte es ähnlich viele geben. Das fängt beim menschlichen Miteinander an. Das Fehlen des W.O. ist kalter Entzug. Wer von all denen, deren Vorweihnachtszeit das Werk zeit ihres Berufslebens geprägt hat, kennt nicht dieses Gefühl von Geflutetwerden in der Aufführung? Als bräuchten die Musik und ihre Botschaft, vertraut und überirdisch zugleich, gar keinen Umweg über Ohren und Hirn zu nehmen. Diese Momente mit anderen zu teilen, stiftet klingende Verbundenheit.
Die Flötistin Christiane Carstensen gehört zu einer Instrumentengruppe, die gleich zu Beginn des Werks einen prominenten Einsatz hat. „Mir fehlt diese spezielle Konzentration bei den ersten Paukenschlägen: Bekommen wir den Triller gut zusammen?“, sagt sie, „es fehlt der leichte Nervenkitzel vor der Hirtenarie und die Freude, wenn man sie dann spielt.“
Schlimm ist die Angst, nie wieder gebraucht zu werden
Der Bratscher Ilja Dobruschkin berichtet von regelrechten Neidanfällen, als er seine Tochter mit der Schule den Choral „Wie soll ich dich empfangen“ spielen hörte: „Ich dachte einfach nur: Und ich darf das nicht?“
Reduziert und unwichtig fühle sie sich ohne die Konzerte, sagt die Cembalistin Anke Dennert, „plötzlich in den Vorruhestand versetzt.“ Und ihre Duopartnerin vom Ensemble La Porta Musicale, die Geigerin Gabriele Steinfeld, fügt hinzu: „Das Schlimmste ist die Angst vor dem nächsten Jahr. Die Angst, nie wieder als Musikerin gebraucht zu werden. Nicht systemrelevant zu werden. Als Berufsgruppe aussortiert zu werden. Die Angst vor einer Gesellschaft ohne Musik.“
Geigerin kritisiert Entscheidungen der Politik
Zu spüren ist durchaus auch Wut auf die Politik, die der Bedeutung und den Belangen der Kunst so wenig Priorität eingeräumt hat. „Im Winter frustriert es mich noch mehr, nicht auftreten zu dürfen. Im Sommer habe ich wenigstens Straßenmusik gemacht und konnte die Menschen auf das Fehlen der Kunst aufmerksam machen“, sagt eine Geigerin, die nicht namentlich genannt werden möchte. „Wir sollten ein Education-Projekt planen für die Virologen, Forscher, Planer, Minister: ,Bach macht satt‘.“ Sie meint es nur halb scherzhaft.
Viele deuten ihre wirtschaftlichen Sorgen nur an – wie es überhaupt eine bemerkenswerte Erfahrung dieses Jahres ist, dass die, die von der Krise am härtesten betroffen sind, oft am wenigsten jammern. Manche brechen klaglos ihre eisernen Reserven an, andere kommen mit Unterrichten über die Runden, einige haben eine gewisse Sicherheit dank fester Stellen, wieder andere verdingen sich in Gartenbetrieben oder Großküchen – wenn sie genommen werden.
Will ich wirklich so weitermachen?
Der Umgang mit dem Wegbrechen einer unverrückbar gewordenen Gewohnheit ist individuell. Weniger Hektik in der Vorweihnachtszeit, einen Advent mit Zeit zum Innehalten, das hatte die Geigerin Katharina Wulf sich schon lange gewünscht. „Nun habe ich beides, tappe aber etwas unsicher herum“, erzählt sie. „Bisher war es ja nur Wunschdenken und musste nicht gelebt werden. Jetzt ist es Realität, eine Herausforderung.“
Einige bringt die oktroyierte Innerlichkeit zum Nachdenken über ihre beruflichen Perspektiven: Will ich wirklich so weitermachen? An den Wochenenden Konzerte mit dem gängigen Repertoire spielen und unter der Woche mindestens einer weiteren Arbeit nachgehen, damit genug Geld reinkommt? „Ich hatte das Gefühl, dass ich drei bis vier Jobs mache und mich auf keinen so richtig konzentrieren kann“, sagt die Geigerin Galina Roreck. „Das einmal zu überdenken, war wichtig.“
Andere entdecken mit Staunen, was man mit einem freien Adventswochenende alles anfangen kann, wie die Flötistin Christiane Carstensen schildert: „Ich habe zum ersten Mal Elisen-Lebkuchen gebacken, lese viel mehr Zeitung, spiele mit der aCappella-App Quartette mit mir selbst, stricke einen vor zwei Jahren begonnenen Pullover weiter, spiele mit meinem Mann Kniffel und mit meinem Handy Schach.“
Viele Musiker versuchen, den Zauber zu erhalten
2020 wird in die Geschichte eingehen als das (hoffentlich nicht: erste) Jahr ohne W.O. – und als das Jahr der digitalen Adventskalender. Vor einem Jahr hätte sich der gemeine norddeutsche Kirchenmusiker nicht träumen lassen, zu welcher Meisterschaft er es in kurzer Zeit darin bringen würde, Tonspuren zusammenzulegen und zu bearbeiten, Filme zurechtzuschneiden und Kachelvideos zu basteln.
Wenigstens beim Unterrichten versuchen viele, einen Rest vom Zauber zu erhalten. Eine Geigerin verlegt das traditionelle Schülervorspiel kurzerhand in den Garten, mit Feuerkorb und heißen Getränken, und spielt mit den Kindern in der Dämmerung Weihnachtslieder. Auch Christiane Carstensen hat für ein Schülerensemble Choräle aus dem W.O. bearbeitet. „Als sie die gespielt haben, musste ich plötzlich doch fast ein bisschen weinen. Was für unglaublich schöne Musik.“
Flötistin: „Fürchtet Euch nicht!“ des Engels wird vermisst
Sie klingt im Innern der stillen Musiker weiter, lebendig und tröstend. Doch die Bange bleibt. Die Flötistin Susanne Geiger vermisst den Engel, der den Hirten auf dem Felde im zweiten Teil des W.O. „Fürchtet Euch nicht!“ zuruft, in himmelhoher Sopranlage, von einer silbrigen Streicheraura umgeben: „Ihn bräuchten wir doch gerade ganz besonders.“
Ob er 2021 wieder da sein wird?