Hamburg. Die alte Bundesrepublik ist ein ferner Ort. Sie war ein Land der Aufbrüche. In Hamburg liefen, Tatsache, junge Leute über den Bahnsteig.

Es muss mit dem Kaputtsein anfangen. Gleich das zweite Foto in diesem dicken Bildband zeigt eine Trümmerwüste, Steine in der Brache, Hausgerippe, ein Loch inmitten der Stadt. Hamburg 1945, Deutschland am Nullpunkt. Das Buch, in dem diese historische Aufnahme zu sehen ist, heißt „Die Bonner Republik. Vier Jahrzehnte Westdeutschland 1949–1990“ und ist eine Fundgrube für alle geschichtlich Interessierten.

Er versammelt Impressionen aus einer längst versunkenen Welt: Das war die Bundesrepublik, das war Hamburg. Große Ereignisse wie Olympia in München, die Anti-AKW-Bewegung in Brokdorf (Schleswig-Holstein) Anfang der 80er-Jahre, aber auch Bilder vom Alltag in einem Land, das sich nach der Hitler-Barbarei und der Weltkriegskatastrophe wieder aufgerichtet hatte und prosperierte. Jugendliche in der Münchner U-Bahn, Swimmingpools in westfälischen Gärten, Tanzende in der Frankfurter Schwulen-Kneipe 1972.

Neues Buch mit vielen Hamburg-Bildern: „Die Bonner Republik“ porträtiert das alte Deutschland

Es ist die vornehmlich in Schwarz-Weiß gehaltene Retrospektive eines Landes, das nach einem gesellschaftlichen Vollversagen seinen Widerstandsgeist entdeckte und in dem, wie in anderen westlichen Nationen, nicht allein gegen Krieg demonstriert wurde. Als zentrales Ereignis spielt die Studentenrevolte auch in dieser vornehmlich visuellen Zusammenstellung eine Rolle. Im Audimax in Hamburg wurde ein berühmt gewordener Slogan in das mit einem Male nicht mehr gemütliche Wirtschaftswunderland getragen.

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In einer Protestaktion forderten Studentinnen und Studenten 1967 während des Rektorenwechsels in Hamburg lautstark in Sprechchören die Beschleunigung der Hochschulreform, ein Banner brachte die Aktion im Audimax auf den Punkt. © Staatsarchiv Hamburg 720-1/388-00_55903II_10 | Staatsarchiv Hamburg 720-1/388-00_55903II_10

Der große Krieg war aufgrund des geringen historischen Abstands immer präsent, letztlich auch bis in die Wendezeit hinein, in der die gerade zu Ende gehende Teilung Deutschlands stets als Kriegsfolge spürbar war. Die Feierlichkeiten vor dem Reichstag nach der Maueröffnung 1989 beschließen den Band.

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Hamburg 1967: Container am Burchardkai. © Staatsarchiv Hamburg Foto: Erich Andres 720-1_343-01_A2888_018 | Staatsarchiv Hamburg Foto: Erich Andres 720-1_343-01_A2888_018

Das Nachkriegserleben war ein zentraler Erfahrungsbestandteil vieler Menschen in der Bundesrepublik. Wer damals jung war, ist mittlerweile sehr alt oder schon tot. Uwe Timm, Jahrgang 1940, beschrieb vergangenes Jahr in seinem autobiografischen Buch „Alle meine Geister“ das Hamburg der Fünfziger- und Sechzigerjahre.

Die Bonner Republik
Das Buchcover von „Die Bonner Republik: Vier Jahrzehnte Westdeutschland | 1949-1990“, Greven Verlag, 336 S., 50 Euro. © Greven Verlag | Greven Verlag

Der seit Langem in München lebende Schriftsteller wuchs als Sohn eines Kürschners in Eimsbüttel auf. An die von den britischen Besatzern aufgestellten Unterkünfte und Baracken für Ausgebombte erinnerte er sich ebenso wie Hamburgs literarische Ehrenbürgerin Kirsten Boie noch Jahrzehnte später. Nach ihrem Erfinder, einem kanadischen Ingenieur, hießen sie im Volksmund „Nissenhütten“.

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Die „Nissenhütten“ dienten in Hamburg Tausenden Menschen als Notunterkünfte. © Staatsarchiv Hamburg Foto: Erich Andres 720-1/343-1/A0483_06 | Staatsarchiv Hamburg Foto: Erich Andres 720-1/343-1/A0483_06

Auch Hamburg, die Hafenstadt, trug erheblich zum „Wirtschaftswunder“ der Exportnation Deutschland bei. In heutiger Zeit kriselt es bisweilen unten an der Elbe, nach dem Krieg, beim Wiederaufbau, gab es nur eine Richtung – mit guten Zahlen in die Zukunft.

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Die Großmarkthalle in Hammerbrook im Jahr 1965: Aufnahme aus dem Bildband „Die Bonner Republik“. © Staatsarchiv Hamburg 720-1/343-1/C0003939 | Staatsarchiv Hamburg 720-1/343-1/C0003939

Neuer Bildband mit vielen Hamburg-Aufnahmen: Das war die alte Bundesrepublik Deutschland

In dem Bildband wird auch das Kulturleben der Nachkriegsjahrzehnte berücksichtigt (vielleicht zu wenig, übrigens). Über die weitaus längste Zeit war das Fernsehen eine schlichte Sache: ARD, ZDF, dritte Programme. Ob die deutsche Version der „Sesamstraße“, die beim NDR produziert wurde, angesichts des medialen Overkills heute noch so erfolgreich wäre wie damals?

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Uwe Friedrichsen mit Schnecke Finchen und „Monsterkind“ Tiffy, Ilse Biberti, Lilo Pulver, Horst Janson und Bär Samson, aufgenommen am 1. Januar 1980 im Studio Hamburg des NDR während der Dreharbeiten zur deutschen Ausgabe der „Sesamstraße“. © Bisagno/picture-alliance / dpa | picture-alliance / dpa

Alltagsszenen sind ein Hauptschwerpunkt in dieser Zusammenstellung. Immer wieder begegnen dem Betrachter junge Leute, ihre Aufnahmen vermitteln stets Aufbruchstimmung, auch Unschuld. Keiner und keine von ihnen ist in der Hitlerjugend oder im Bund Deutscher Mädel. Die generationelle Privilegiertheit, die „Gnade der späten Geburt“, offenbart sich auch auf einer beinah schon langweilig normalen Aufnahme vom Hamburger Hauptbahnhof 1982: Jugendliche schultern ihre Rucksäcke. Schön, diese Freiheit in, trotz des Eisernen Vorhangs, friedvollen Zeiten.

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Jugendliche mit Rucksäcken auf einem Bahnsteig im Hamburger Hauptbahnhof am 21. Juli 1982. Die Abbildung entstammt dem Bildband „Die Bonner Republik – vier Jahrzehnte Westdeutschland“, erschienen im Greven Verlag. © Werner Baum/picture-alliance/ dpa | Werner Baum/picture-alliance/ dpa

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