Hamburg. Wozu braucht man Erinnerungen? Olga Grjasnowa findet im neuen Roman „Juli August September“ auf Gran Canaria und in Israel Antworten.

  • Auf welche Art jüdisch will diese Berliner Familie sein?
  • Die Hauptfigur forscht auf den Kanaren, in Yad Vashem und bei der Tante nach Zugehörigkeiten
  • Olga Grjasnowas Geschichte endet offen, aber mit Zuversicht - wenn man das wirklich so verstehen will

Es ist verkorkst. Auf vielen Ebenen. Unerbittlich, vielleicht unlösbar. Dabei zusätzlich auch ganz alltäglich verkorkst, so wie es alle Leben mitunter eben sind, in denen man seine fünfjährige Tochter von der missglückten ersten Übernachtung bei einer Kindergartenfreundin abholen muss. Bloß, dass sie diesmal von einem Bilderbuch berichtet, das Adolf Hitler geschrieben habe: „Anne Frank“. Was und wie und wie viel erklärt man nun einer Fünfjährigen? Einem Berliner Mädchen, einem jüdischen Kind? Und wie jüdisch, auf welche Art jüdisch, ist die eigene Familie überhaupt?

Jüdischer Salon Hamburg: Darum geht es in Olga Grjasnowas neuem Roman „Juli August September“

Lou, die Mutter dieses Mädchens, beginnt sich mit ihrer Herkunft auseinanderzusetzen – ihr Vorname ist in Olga Grjasnowas neuem Roman „Juli August September“ (Hanser Berlin, 224 Seiten, 24 Euro) dabei nur ein fluides Detail unter vielen: Lou, Koseform von Ljuda. Ljuda, Kurzform von Ludmila. Gentrifizierte Berlinerin, Tochter-Mutter, Mutter-Tochter (Status: schwierig), Ehefrau (auch gerade schwierig), Jüdin, viel gereiste Galeristin, nein: Ex-Galeristin, Kontingentflüchtling, Akademikerin.

In dieser Frau lauern viele Ansätze, viele Identitäten. Was sie mit ihrer Schöpferin, der in Berlin lebenden, in Baku geborenen Autorin und zweifachen Mutter Olga Grjasnowa, die ebenfalls Familie in Israel hat, verbindet. So wie die auf einer tatsächlichen Erfahrung beruhende Auftaktszene mit dem Anne-Frank-Bilderbuch.

Neues Buch von Olga Grjasnowa – ein jüdisches Identitätspuzzle mit Mut zur Lücke

Während Grjasnowa bislang eher die Ansicht vertrat, „Heimat“ sei ein verklärtes Konstrukt und der Begriff „Migrationshintergrund“ ohnehin überstrapaziert, ist Lou besonders an den Kontaktpunkten zur Vergangenheit interessiert – auch weil „zwischen der Familienerzählung und der Wirklichkeit eine große Lücke“ klafft.

Lou, die mit einem erfolgreichen, aber in der eigenen Kunst schwankenden Konzertpianisten verheiratet ist, entschließt sich, zu einem Familientreffen auf die Kanaren zu reisen. Mit Tochter, Mutter und einem Haufen einander in herzlichster Missgunst verbundener ex-sowjetischer Verwandter aus Israel, während ihr Mann in Salzburg eine Journalistin trifft.

Israelis protestieren in Tel Aviv gegen die Regierung.
Im Jahr 2023 kam es in Israel (hier in Tel Aviv) zu scharfen Protesten einer breiten Öffentlichkeit gegen ihre Regierung. © picture alliance / ZUMAPRESS.com | Eyal Warshavsky

Nach ihrem Debüterfolg „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ ist „Juli August September“ inzwischen Olga Grjasnowas fünfter Roman, und man könnte ihm vermutlich vorwerfen, dass er sich nicht so recht entscheidet, was er sein möchte. Eine Satire aus dem All-Inclusive-Club? Eine moderne Altbau-Beziehungsstory aus dem überheblich-fragilen Kulturmilieu? Eine Auseinandersetzung mit dem Judentum, ein Blick auf Israel? Ein Hadern mit Mutterschaft? Mit Labeln und der Möglichkeit, Leerstellen durch Fantasie aufzufüllen? Mit der Unzuverlässigkeit von Erinnerung?

Die weibliche Hauptfigur lässt sich treiben und von misstrauischen weiblichen Verwandten beäugen

Es ist all das. Identitäten setzen sich hier aus Splittern zusammen, aus Scherben, auch aus Wünschen. „Manchmal glaube ich, dass es nicht mir passiert ist. Und dann erinnere ich mich wieder an alles“, sagt Lous 90 Jahre alte Großtante Maya an einer Stelle. Allerdings baut sie sich ihre Erinnerungen so, dass sie damit leben kann.

Das alles ist manchmal ausgesprochen hart, manchmal lustig, mal schrullig, mal zynisch. Es ist so selbstironisch wie zweifelnd, so angreifbar wie Lous Unsicherheit. Lou reist nicht nur nach Gran Canaria, sondern direkt weiter nach Tel Aviv. Sie forscht in Yad Vashem und bei der Großtante nach der Familienhistorie und nach Zugehörigkeiten, lässt sich treiben und von misstrauischen weiblichen Verwandten beäugen, während sich die israelische Gesellschaft im Spätsommer 2023 gegen ihre Regierung auflehnt und Lou irgendwann nicht mehr weiß, ob sie oder ihr Mann die Familie verlassen haben. Oder er die Musik. Oder beides. Oder weder noch.

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Ein brüchiger, feinfühliger, dennoch temporeicher Roman, der gerade in seiner Orientierungslosigkeit funktioniert. Die Geschichte endet offen, aber durchaus mit Zuversicht. Wenn man das denn wirklich so verstehen will. Denn unausgesprochen steckt die alles erneut verkomplizierende Fortsetzung bereits im Titel: Auf Juli, August, September folgt auch im Jahr 2023 zwangsläufig ein Oktober. Und damit ein furchtbarer 7. Oktober. Auch wenn sich einzelne Antworten finden, leichter wird nichts.

Olga Grjasnowa liest und erzählt am 2. Dezember im „Jüdischen Salon“ im Warburg-Haus (Heilwigstraße 116), 19.30 Uhr, Eintritt 5–12 Euro, Moderation: Sebastian Schirrmeister

Buchcover von Juli, August, September.
Das Buchcover von Olga Grjasnowas Roman „Juli, August, September“, Hanser Berlin, 24 Euro, 224 Seiten. © Hanser Berlin | Hanser Berlin

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