Hamburg. In ihrem neuen Jugendbuch widmet sich die Autorin der Hamburger Nachkriegszeit – und erinnert sich an eigenes Erleben und Verstehen.

Der Kaffee an der langen Holztafel wird schon wieder kalt, das passiert Kirsten Boie offenbar öfter. Es gibt eben so viel zu erzählen im verlagseigenen Theaterraum des neuen Oetinger-Hauses an der Max-Brauer-Allee, wo sich neben den Kinderbuchklassikern von Astrid Lindgren und Paul Maar auch ihre Werke bis unter die Decke stapeln: „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ heißt Kirsten Boies soeben frisch erschienener Jugendroman, der seit diesem Wochenende in den Buchläden liegt und sich – wie schon ihre beklemmende Tatsachen-Novelle „Dunkelnacht“ vor rund einem Jahr – anhand der Schicksale einer Gruppe Heranwachsender mit der Zeit des Kriegsendes in Deutschland, in diesem Fall: in Hamburg, beschäftigt.

Gesellschaftlich sei dieses Kriegsende „keineswegs eine Stunde null“ gewesen, betont Boie und erinnert sich an das erst viel später erwachende Bewusstsein für die deutschen Verbrechen und die Schuld, an Nachkriegsgespräche mit der eigenen Familie und an das Spielen zwischen Trümmern in Barmbek.

Hamburger Abendblatt: „Dunkelnacht“ und „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ spielen beide direkt um das unmittelbare Kriegsende herum, einmal ganz kurz davor, einmal kurz danach – das Thema beschäftigt Sie offenbar derzeit besonders. Warum?

Kirsten Boie: Ehrlich gesagt hat sich beides ganz unabhängig voneinander ergeben. Vor „Dunkelnacht“ hatte ich zufällig Harald Jähners „Wolfszeit“ über das Nachkriegsdeutschland gelesen, im ersten Corona-Lockdown, als ich tatsächlich mal viel Zeit für meinen Lesestapel hatte. Darin gab es ein Kapitel zu den Endphasen-Verbrechen, wo auch die Morde von Penzberg auftauchten, um die es in „Dunkelnacht“ dann ja geht. Das hat mich sofort gepackt – diese Vorstellung, dass man die Amerikaner schon hört und eigentlich weiß, dass der Krieg vorbei ist. Und dann werden in diesem Ort noch 16 Menschen von den Nazis umgebracht. Diese Geschichte wollte ich unbedingt erzählen und habe noch im Lockdown mit der Archivarin von Penzberg telefoniert, die mir ganz viel Material geschickt hat. Beim neuen Buch gab es auch einen Auslöser: Zum 75. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 2020 gab es so viele Dokumentationen, in denen auch die zerstörten deutschen Städte gezeigt wurden – das hat mich wahnsinnig an meine eigene Kindheit erinnert.

Sie sind 1950 in Hamburg geboren – und haben selbst noch zwischen Trümmern gespielt, so wie die Kinder in „Heul doch nicht, du lebst ja noch“.

Boie: Ganz genau. Das Kriegsende habe ich nicht miterlebt, aber ich habe auf Trümmerfeldern gespielt. Hamburg war ja zu einem großen Teil dem Erdboden gleichgemacht, das hatten die natürlich nicht in den paar Jahren schon wieder alles aufgebaut. Meine ganze Kindheit war von diesem Krieg geprägt. Die Kriegsversehrten waren selbstverständlich. An meinem Mädchengymnasium gab es nicht viele männliche Lehrer, aber die vier, die ich hatte, hatten alle eine offensichtliche Kriegsgeschichte: Zwei hatten Beinprothesen, einer war im Gesicht und an den Händen vollständig verbrannt, einer war ein Ostpreußenflüchtling – weshalb ich diesen Dialekt, den ich viele Jahre so oft gehört habe, noch so gut im Kopf habe.

Wie haben Sie und Ihre Familie damals gewohnt?

Boie: Mein erstes Lebensjahr habe ich in Othmarschen verbracht, in einem Wäschekorb in einem Untermietzimmer. Dann sind wir nach Barmbek gezogen, in eine Zweizimmerwohnung an einem Kanal, wo die Brücke weggesprengt war. Eines der beiden Zimmer hatten wir untervermietet. Und ich hatte eine Freundin, die in einer Nissenhütte aus Wellblech gewohnt hat. Im Sommer glutheiß, im Winter eiskalt. Schrecklich.

Wurde Ihnen als Kind vom Krieg erzählt oder gab es da viel Schweigen?

In den Hinterhöfen (hier: Poststraße, 1955) trafen sich in Hamburg die Kinder zum Spielen.
In den Hinterhöfen (hier: Poststraße, 1955) trafen sich in Hamburg die Kinder zum Spielen. © SZ Photo | Foto Germin

Boie: Meine Mutter hat mir viel erzählt: von Bombennächten, vom Luftschutzkeller, dass man immer einen gepackten Koffer stehen hatte. Den gepackten Koffer hatte meine Mutter übrigens noch bis in meine Pubertät stehen, sie hat immer gesagt: Man weiß nie, was kommt. Ich glaube, dass es vielen so ging. Ich hatte außerdem viele Cousins und Cousinen, die noch vor dem Krieg geboren wurden, ich komme aus einer riesigen Familie, auch die haben viel erzählt. Über Hunger und Kälte, darüber, dass man jede Strecke zu Fuß zurücklegen musste. All das kam wieder an die Oberfläche, als ich zum Jahrestag diese Dokumentationen sah. Gehört habe ich als Kind allerdings vor allem die Leidensgeschichten, über Schuld oder Shoah wurde nicht gesprochen.

In „Heul doch nicht...“ erwacht jedoch auch diese Erkenntnis bei einigen Figuren ganz langsam. Erinnern Sie, wann das Ihr Bewusstsein erreichte?

Boie: Ich war vielleicht elf oder zwölf, als der Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem stattfand. 1963 gab es den Auschwitz-Prozess in Frankfurt. Danach war alles anders. Plötzlich hat der Holocaust das Gespräch dominiert. Innerhalb weniger Jahre hat sich das Narrativ komplett gedreht. Bis dahin gab es nur Geschichten, in denen die Deutschen Opfer waren, jetzt wurde die Shoah zum Thema. Das war natürlich auch absolut notwendig, und das ist unbedingt auch heute noch richtig so. Aber Jugendliche, die heute nach rechts abdriften, die haben womöglich nur davon gehört. Und die mögen nun vielleicht denken: Das muss mich nicht interessieren, ich bin kein Jude und kein Rom, ich bin nicht schwul, ich wäre nicht ins KZ gekommen. Ich glaube, wir brauchen uns nicht einzureden, dass wir diese Jugendlichen über Opfergeschichten sensibilisieren. Auf vielen Schulhöfen ist „Opfer“ oder sogar „Jude“ heute ein Schimpfwort. Es gibt eine Faszination für Heldengeschichten, auch für Soldaten. Diesen Jungs mal zu erzählen, was der Krieg für alle angerichtet hat, auch für jene, die nicht verfolgt wurden, das war mir wichtig.

Die Figur der Bäckerstochter Traute begreift im Buch so langsam, was mit dem jüdischen Jungen und seinen Eltern passiert ist, dem sie auf der Straße begegnet. Wie konkret erinnern Sie sich an dieses Gefühl der Erkenntnis?

Boie: Das kam mit einem Schlag. Das hat ganz viel verändert. Die Eichmann-Prozesse im Radio habe ich vielleicht nur halb verstanden. Aber dann habe ich „Sternkinder“ von Clara Asscher-Pinkhof gelesen, die selbst deportiert wurde und die Geschichten niederländischer jüdischer Kinder erzählt, die unglaublich eindringlich sind. Das hat bei mir einen Schalter umgelegt, das war ein echter Kipppunkt. Plötzlich war alles ganz konkret. Da habe ich angefangen zu Hause zu fragen – und wie in vielen Familien hat das die Beziehung zu den Eltern phänomenal belastet. Weil immer die Antwort kam: Wer das nicht erlebt hat, kann auch nicht drüber sprechen.

Erkenntnis durch Literatur. Für wen haben Sie das Buch also geschrieben? Und erreichen Sie solche Kinder und Jugendliche überhaupt?

Boie: Wenn ich die, die heute abdriften, erreichen würde, würde ich mich natürlich freuen. Aber ich mache mir auch nichts vor: Es ist für Literatur schwierig, etwas oder jemanden zu erreichen, wenn es schon zu spät ist. Einen Jugendlichen, der schon zu einer solchen Gruppe gehört, werde ich wohl schwerlich berühren. Aber auf dem Weg dahin kann viel passieren! Die Jugendlichen geraten in ein solches Milieu in der Regel zwischen 12 und 15 Jahren. „Dunkelnacht“ ist ab 14 Jahren, für „Heul doch nicht...“ ist 12 Jahre das Lesealter, denke ich.

Es gibt darin den jüdischen Jungen, Jakob, der versteckt in Ruinen zunächst gar nicht mitbekommt, dass der Krieg vorbei ist, es gibt aber auch den wütenden einstigen Hitlerjungen Hermann, dessen Vater beide Beine verlor ...

Boie: Es war mir ganz wichtig, dass es den jüdischen Jungen Jakob gibt. Das war aber nicht einfach: Die Transporte aus Hamburg ins KZ waren zwischen 1941 und 1943, die waren ja längst abgeschlossen. Es gab also praktisch nur noch Kinder aus sogenannten Mischehen für meine Geschichte. Und auch Menschen aus solchen Familien sind noch im Februar 1945 aus Hamburg nach Theresienstadt abtransportiert worden. In Gesprächen mit Mitarbeiterinnen der KZ-Gedenkstätte Neuengamme habe ich darüber viel erfahren, auch zwei Bücher von Beate Meyer vom Institut für die Geschichte der deutschen Juden waren enorm hilfreich. In einem geht es ausschließlich um die Situation dieser Mischehen. Das war wirklich sehr erschütternd. Man denkt immer, man weiß alles, und man kennt so viele Bilder und Berichte. Aber wenn man die Hamburger Straßennamen immer wieder liest und die persönlichen Briefe von den Menschen … Das fand ich schwer zu verarbeiten. Aber es hat mir geholfen, die Figur des Jakob zu finden.

Ihre Sprache im Buch richtet sich spürbar an jüngere Jugendliche – manche Szenen allerdings sind absolut schonungslos. Da gibt es zum Beispiel die Passage, in der der Vater, dem nur noch der Rumpf geblieben ist, seine Frau anbrüllt, dass sie sexuell trotzdem zu gehorchen hat und ihm zur Verfügung stehen soll: „Du kommst jetzt her! Dafür braucht man keine Beine!“

Boie: Ja, auch das Frauen- und das Männerbild war noch ein ganz anderes. Das können Jugendliche von heute ruhig erfahren. Ich denke, ab 12 werden Kinder vermutlich zumindest verstehen, worum es geht. Womöglich sind sie da noch in der Phase, in der sie kichern, weil es ihnen peinlich ist. Ich bin ja der Überzeugung, dass man Kindern und ganz sicher Jugendlichen durchaus einiges zumuten kann. Was Literatur will, ist ja berühren. Wenn ich an meine eigene Lektüre damals denke, waren vor allem die Bücher, die mich beunruhigt haben, jene, die etwas bewirkt haben. Dass es Kinder völlig überfordert, kann ich mir ganz schwer vorstellen.

Das Mitfühlen mit Opfergeschichten sei in manchen Gruppen schwierig, haben Sie vorhin gesagt. Ist das etwas, was Sie grundsätzlich beobachten: Dass die Empathie abnimmt?

Boie: Generell glaube ich das nicht. Diese Empathie gibt es bei ganz vielen Jugendlichen, ganz genauso wie früher. Aber in manchen Gruppen gibt es für Opfer statt Mitgefühl nur Verachtung. Da finde ich es sinnvoll zu erzählen, dass auch die vermeintlich Starken am Ende schwach waren. Was bedeutet es für einen Jungen wie Hermann, der in einer Machokultur aufwächst, wenn er geschlagen ist und auch feststellen muss, dass sein Vater völlig hilflos ist? Das Bewusstsein der Gesellschaft war damals ja nicht mit einem Schlag ein anderes. Diese Stunde null hat es in den Köpfen der Menschen zunächst gar nicht gegeben.

Ihre Bücher „Monis Jahr“ von 2003 und „Ringel, Rangel, Rosen“ von 2010 beschäftigen sich ebenfalls mit der Wahrnehmung der NS-Zeit und der Nachkriegszeit. Verändern sich die Reaktionen Ihrer Leserinnen und Leser auf diese Themen?

Boie: Na ja, wenn ich in Schulklassen eingeladen werde, sind die ja in der Regel gut vorbereitet. (lächelt) Ich erinnere mich an eine Lesung von „Dunkelnacht“ in einer Bonner Realschulklasse. Die waren ganz großartig. Unglaublich interessiert, unglaublich empört. Und wenn wir darüber sprechen, warum wir die Erinnerung an den Nationalsozialismus wachhalten müssen, was unsere Verantwortung ausmacht, gehört auch dies dazu: Inzwischen haben in Hamburg bei den Einschulungen mehr als die Hälfte der Kinder einen Migrationshintergrund. Das heißt, deren Familiengeschichte hat mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun. Aber wir haben als Deutsche eine besondere Verantwortung. Wir haben erlebt, wie aus zivilisierten Menschen, die man als „moralisch gefestigt“ beschrieben hätte, innerhalb kürzester Zeit Barbaren geworden sind. Was es einmal gegeben hat, kann es wieder geben. Und in dem Augenblick, in dem ich Deutscher oder Deutsche bin, erbe ich sozusagen auch die Geschichte. Das bedeutet aber auch, dass wir diesen Menschen mit Migrationshintergrund das Gefühl geben müssen, dass sie wirklich Deutsche sind. Die Frage, was wir unter „Wir“ verstehen, finde ich eine faszinierende. Diese Realschulklasse in Bonn zum Beispiel bestand sicher zu 70 oder 80 Prozent aus Jugendlichen, deren Großväter oder Großmütter zu dieser Zeit nicht in Deutschland gelebt haben. Aber es war spürbar ganz genauso ihr Thema wie das der anderen Kinder.

Anders als die wahre Geschichte von „Dunkelnacht“, wo die Täter von Penzberg nach dem Krieg alle freigesprochen wurden, endet „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ zuversichtlicher. Bei fast allen Charakteren gibt es einen Hoffnungsschimmer für die Zukunft.

Boie: Ja, ich finde es zwar wichtig, auch für jüngere Leserinnen und Leser nicht zu verharmlosen, nicht zu beschönigen – aber, wo es möglich ist, Bücher für diese Lesergruppe dennoch mit Zuversicht zu beenden. Ich war überrascht, aber natürlich auch total glücklich, als ich las, dass vom letzten Hamburger Transport nach Theresienstadt fast alle zurückgekommen sind. Sie zu ermorden haben die Deutschen nicht mehr geschafft. Und so konnte ich in der Geschichte auch die Mutter des jüdischen Jungen Jakob zurückkommen lassen. So gibt es am Schluss ein kleines bisschen Hoffnung.

Zwischen den beiden Büchern, über die wir jetzt gesprochen haben, haben Sie den dritten Band der warmherzigen „Sommerby“-Reihe geschrieben. Brauchen Sie das auch für Ihr eigenes Schreiben, diese Idylle, um dann wieder in schwere Themen eintauchen zu können?

Boie: Vielleicht. Manchmal wohl schon. Ich bin schon gefragt worden, ob ich jetzt immer weiter bei diesem Nachkriegs- oder NS-Thema bleiben will. Ja, wenn mich wieder ein Thema so anspringt, dann bestimmt. Aber es soll nun nicht mein Lebensthema werden. Es ist auch für mich wichtig, zwischendurch Idyllisches schreiben zu können. Ich habe ja diese „schönen“ Geschichten manchmal etwas weniger wertgeschätzt. Aber was ich da für Reaktionen kriege! Ganz viel Post, gerade von Erwachsenen! Das hat bestimmt auch mit dieser Zeit zu tun, in der wir gerade leben. Jetzt, wenn viele so deprimiert sind, ist das wohl ein Fluchtraum. Und auch das ist ja unbedingt etwas wert.