Hamburg. Uwe Timm, seit Langem Münchner, schreibt in „Alle meine Geister“ über Eimsbüttel, das Kürschnerhandwerk und das, was ihn rettete.
Kennen Sie das, dieses Hingezogensein zum schwarz-weißen Bild, zur Vergangenheit dieser Stadt und auch anderer Städte? Wie sah es hier vor 20, 30, 40 oder 50 Jahren aus, vor 100 Jahren; Bildbände gibt es reichlich, deren Existenz sich allein der Faszination für das Früher verdankt. Was Hamburg angeht, ist immer der Junius-Verlag eine gute Adresse, das nebenbei.
Und im Hinblick auf die Literarisierung des alten Hamburgs ist der 1940 geborene Schriftsteller Uwe Timm zu nennen. Von diesem stammt zum Beispiel der Roman „Die Entdeckung der Currywurst“, eine glänzende Erzählung über das Kriegsende in Hamburg. Die Nachkriegszeit mit den Geröllbergen und der Zerstörung allerorten kann man sich immer nur in schwarz-weißer Härte vorstellen. Als Symbolbild vollendeter Tristesse. Wobei die Farblosigkeit auch täuschen kann. Eine Aufnahme vom 3. Juli 1954, die den grauen, verschatteten Jungfernstieg zeigt, hat eine eher düstere Anmutung. Aber am nächsten Tag wurde Deutschland Fußball-Weltmeister.
Uwe Timm: Das neue Buch „Alle meine Geister“ erzählt seine persönliche Geschichte
In Uwe Timms neuem Buch „Alle meine Geister“, das ausdrücklich nicht als Roman gekennzeichnet ist, kann der Icherzähler, der niemand anderes als Lessingpreisträger Uwe Timm selbst ist, von seinem Arbeitsplatz bis auf die Binnenalster schauen. Zumindest glaubt sich der Uwe Timm der Gegenwart genau daran zu erinnern. Als er die alten Wege noch einmal abschreitet, stellt er aber fest: Von der Firma „Levermann Pelze“ in der Bergstraße, wo er 1955 eine Kürschnerlehre antrat, konnte man allenfalls einen Zipfel des Jungfernstiegs sehen.
Der seit Langem in München lebende Uwe Timm hat intensiv über die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert geschrieben, weil sie idealtypisch mit seiner persönlichen Lebensgeschichte und der seiner Familie verwoben ist. In „Am Beispiel meines Bruders“ und „Ikarien“ ging es um den Krieg und die Schuld, in „Heißer Sommer“, „Kerbels Flucht“ und „Der Freund und der Fremde“ um die Studentenrevolte.
In der neuen autobiografischen Erzählung widmet sich der 83-Jährige nun seinen Kindheits- und Jugendjahren. „Alle meine Geister“ hört da auf, wo „Der Freund und der Fremde“ anfängt.
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In diesem 2005 erschienenen Buch geht es um Timms Jahre auf dem Braunschweiger Kolleg, wo er auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachholte, gemeinsam mit Benno Ohnesorg, der später auf einer Demonstration in Berlin von einem Polizisten erschossen und zur Ikone der Studentenbewegung wurde.
In „Der Freund und der Fremde“ beschrieb Timm, wie sich die jüngere Version seiner selbst einst auch mithilfe der Literatur ein neues Leben schuf. Er fing an zu schreiben, er las, er befreite sich. „Beim Schreiben geht es um Macht“, sagte er einmal im Abendblatt-Gespräch.
„Alle meine Geister“ ist das Buch der Hamburg-Jahre
Wovon er sich befreite? Das steht nun in „Alle meine Geister“ geschrieben, dem Buch der Hamburg-Jahre. Uwe Timm greift in diesem geschickt arrangierten Erinnerungstext bereits aus seinem bisherigen Werk bekannte Motive auf, es sind die Versatzstücke seiner Biografie – und verwebt sie zu einem Porträt der 1950er-Jahre in Hamburg, in denen sich ein Teenager seinen Weg durch das Labyrinth der eigenen und fremden Wünsche bahnte.
Dabei wird er von den familiären Notwendigkeiten – weil sein Bruder gefallen ist, kommt früh nur er als Erbe des väterlichen Geschäfts infrage – durch die Literatur erlöst und befreit. Er schreibt noch nicht selbst, er liest. Dostojewski, Henry Miller, Kafka retten ihn. Brehms Tierleben!
Natürlich interessiert sich der junge Timm für Tiere. Er lernt das Handwerk des Kürschners, damals noch ein vielfach betriebener Beruf. In ihrem Sylt-Buch „Ozelot und Friesennerz“ setzte ihm zuletzt Susanne Matthiessen ein Denkmal. „Pelze Timm“ im Eppendorfer Weg heißt das Familienunternehmen, das sein Vater, der das Handwerk nie selbst lernte, einst gründete.
Hamburg in den 50ern: Nachkriegsszenerie mit Flüchtlingen und Jazzclub
Timm musste es, man weiß das aus früheren Büchern, verschuldet übernehmen, nachdem der Vater im „Atelier“, wie er die Geschäftsräume nannte, Ende der 1950er-Jahre tot zusammengebrochen war. Es war die Pflicht des Uwe Timm, zunächst mit seiner Hände Arbeit die Finanzen in Ordnung zu bringen. Aber „Alle meine Geister“, das prägnant die Hamburger, die Eimsbütteler Nachkriegsszenerie mit Ost-Flüchtlingen (in der Nissenhüttensiedlung am Isebekkanal) und Jazzclubs einfängt, ist eine Emanzipationsgeschichte.
Deswegen gehören die Textanalysen und Romanexzerpte, gehören die kulturellen Betrachtungsgegenstände in dieses Buch: Sie wiesen dem jungen Timm den Weg, formten den Lebensweg des Mannes, der in den vergangenen 50 Jahren ein umfangreiches Werk geschaffen hat. Aber literarisch stark und fesselnd sind die Kapitel, in denen Timm diejenigen würdigt, die ihn durch vorbildhaftes Tun und Lesestoffversorgung anleiteten.
Der später vorübergehend berühmte Pelzdesigner Dieter Zoern war kein Vorbild, sondern ein, so wie Timm ihn beschreibt, spottsüchtiger Geselle, als Timm ihm in seinem dritten Lehrjahr zugeordnet wurde: „Wenn Zoern Gedichtzeilen zitierte, waren es Kommentare und nicht Ausdruck seiner Stimmung. Nie kam es zu einem Gespräch über eines der Gedichte. Den Siebzehnjährigen störte, dass Zoern die Verse wie Einwickelpapier für seine Meinung benutzte.“
Uwe Timm: Der Zufall, der jede Biografie durchzieht
Der junge Timm war ein Literaturenthusiast. Er war umgeben von Älteren, die fast allesamt eine soldatische Vergangenheit hatten. Es war der Kürschnermeister Kruse, eine handwerklich unantastbare Autorität und schon in der Hitler-Zeit aufrechter Sozialdemokrat, der neben jüngeren Kollegen wie Erik und Johnny-Look zu seinen Lehrern und Freunden gehörte. Mit den Freunden flanierte Uwe Timm in Övelgönne an der Elbe oder besuchte mit ihnen St. Pauli. Im Kleingarten auf der Veddel dagegen erteilte ihm Kruse Politik-Lehrstunden, und er lieh ihm Eugen Kogons Buch „Der SS-Staat“ aus.
Das eminente Wissen um das Kürschnerhandwerk verbreitet sich in diesem Text ausgiebig. Timm verstand sich auf die Herstellung von Pelzmänteln, und der grundsätzliche Respekt des Autors vor dem Können in diesem Metier wird mehr als deutlich. „Alle meine Geister“ handelt aber auch von der Schüchternheit in Liebesdingen, die den gerade der Kindheit entwachsenen Jüngling hemmte. Später vollzieht der Text die zunehmend von Hamburg wegführende biografische Bewegung nach. Der Erzähler macht mit einem neuen Freund Urlaub in Schweden und lernt eine im Vergleich zu Deutschland völlig unverklemmte Sexualität kennen.
Außerdem handelt der Text vom Zufall, der diese so gut wie alle Biografen durchzieht.
„Alle meine Geister“ ist ein aufrichtiges Memoir
Was wäre passiert, hätte Timm nie von der Braunschweiger Bildungseinrichtung gehört, die ihm beides ermöglichte, den Weggang aus seiner Vaterstadt und das nachgeholte Abitur? Wenn er andere Menschen getroffen hätte? Jede Lebensbeschreibung ist wie ein Roman, es war alles genau so und vielleicht doch ganz anders.
Es gab noch einen Uwe Timm aus Hamburg, der ein komplett anderes Leben als er führte. Den „Doppelgänger“, wie Timm ihn nennt, traf er nie in Fleisch und Blut. Dieser zweite Uwe Timm war Anarchist und schrieb diesbezügliche Broschüren, die manchmal auf Lesungen neben seinen eigenen Büchern lagen, denen des Romanciers Uwe Timm. Er habe sie nie wegräumen lassen, berichtet Timm, dem mit „Alle meine Geister“ ein würdevolles und aufrichtiges Memoir gelungen ist.
Uwe Timm, der deutsche Chronist, der hartnäckige Repräsentant seiner Generation und produktive Schriftsteller, hat aber nur einmal dem Wunsch eines Besuchers einer seiner Lesungen entsprochen, ein Anarcho-Werk des „falschen“ Uwe Timms zu signieren. „Ich bin es nicht. Uwe Timm“, schrieb er in die Broschüre.
Uwe Timm stellt sein neues Buch am 20.9. auf dem Harbour Front Literaturfestival vor. Die Veranstaltung ist ausverkauft.