Olga Grjasnowa erzählt in „Die juristische Unschärfe einer Ehe“ von einer komplizierten Dreiecksgeschichte in den Zeiten der Globalisierung. Am 14. Oktober liest sie im Literaturhaus.

Es gibt die Stimme einer neuen, jungen Generation in der deutschsprachigen Literatur. Eine ihrer Hoffnungsträgerinnen ist Olga Grjasnowa. Mit „Die juristische Unschärfe einer Ehe“ hat sie gerade bei Hanser ihren zweiten Roman vorgelegt. Er handelt von Liebe, auch von der Institution Ehe, nur hat diese hier mit der bürgerlichen Tradition eines Theodor Fontane etwa rein gar nichts mehr gemein.

War die Ehe auch lange nach Fontane vielfach ein freudloser Ort bürgerlicher Konvention, in der die Frauen häufig eingesperrte Wesen mit abgeklemmtem Lustempfinden und unstandesgemäßen Liebhabern abgaben, so ist sie hier ganz das Gegenteil. Die junge Balletttänzerin Leyla, aus einer Künstlerfamilie in Baku stammend, war einst mit glänzender Prognose am Bolschoi-Theater engagiert. Ein Unfall veränderte alles. Auf den Neuanfang zurückgeworfen, lebt sie, nunmehr verheiratet mit Altay, Psychiater auf einer Drogenstation in Wedding, im angesagten Berlin. In seiner Heimatstadt Moskau hätte Altay ohne teure Schmiergelder nie eine Stelle bekommen. Die Ehe ist symbiotisch und keineswegs unerfüllt, doch Leyla fühlt sich zu Frauen hingezogen, Altay begehrt Männer.

Gedacht war sie als das perfekte Arrangement, um die Neugier der auf Traditionserfüllung schielenden Verwandtschaft zu befriedigen. Den jungen, lebenshungrigen Leuten bietet sie einen Schutzraum, in dem sie ihre Bedürfnisse ausleben können. So scheint es zumindest. Denn die Sache mit der Freiheit in der Liebe ist so eine Sache. Das zeigt sich, als mit der jungen Israelin Janoun die Liebe in Leylas Leben tritt. Janoun, in einem indischen Ashram als Tochter einer bipolar erkrankten Hippiemutter in die Welt geworfen und schon bald in der Obhut der Großmutter gelandet, strandet nach kurzer Künstlerehe wie so viele Glückssucher ebenfalls in Berlin, wo sie sich mit Drogen beruhigend in den Kneipen Kreuzbergs verdingt. Mit ihrem Auftauchen gerät der Gefühlshaushalt des gesamten Trios aus dem Lot.

Klug entfaltet Grjasnowa in ihrem lakonischen, zugleich metaphernverliebten Stil diese unerbittliche Dreiecksgeschichte, deren Bezüge und Verweise dem Leser einige Sorgfalt abverlangen. Die Biografien ihrer Figuren enthüllen unterschiedliche Grade von Verstörung. Basierend auf dysfunktionalen Familien, Lehrinstituten, Gesellschaften, Staatsgebilden. Sie offenbaren Selbstkasteiung durch Training wie durch Körnerfraß, Flucht in die Exzesse von Sex und Drogen. Leyla lernt früh, dass Liebe aus Leistung resultiert und in der ehemaligen Sowjetunion Homosexualität als Krankheit gilt. „Also tanzte sie, und solange sie tanzte, wurde sie wie eine Prinzessin behandelt.“

Schon in ihrem gefeierten Debüt „Der Russe ist einer, der Birken liebt“, hat Grjasnowa die Liebe in Facetten gezeigt, die präzise manch heuchlerische Seite des pseudoliberalen Westens und die Abgründe der kaukasischen Provinz aufzeigten. Im Erstling war es die Selbstsuche einer jungen Deutschen, Jüdin und Aserbaidschanerin in Berlin. In „Die juristische Unschärfe einer Ehe“ wird Leyla, die ihr Leben lang mit ihrem malträtierten Körper und einer tief verwundeten Seele hadert, entdecken, dass die größtmögliche Freiheit auch eine große Last darstellen kann.

Auf der Suche nach maximaler Entgrenzung reist sie ausgerechnet in den wilden Kaukasus, nach Baku, wo sie wegen illegaler Autorennen und „Rowdytums“ in einem Horror-Gefängnis landet, aus dem ihre Satelliten Altay und auch Janoun sie retten werden. Unerschrocken und wenig beschönigend schildert Grjasnowa das postsowjetische System mit seinen brutalen Ritualen und seiner grotesk simulierten Pelz- und It-Bag-Welt, in der die Frauen wie Pamela Anderson aussehen und die Männer kastenförmige Mafiosi mit schlechten Manieren abgeben. Perfekt korrespondiert die kaputte Welt mit der Zerrissenheit und den an echten Emotionen verarmten Figuren. Leyla wird für ihre Zukunft einen Ausweg wählen, der wie ein eigenwilliges Happy End anmutet, aber trotzdem folgerichtig ist.

Im Frühjahr dieses Jahres sah sich auch Grjasnowa, die übrigens derzeit Tanzwissenschaft studiert, im Zentrum einer bundesweiten Literaturdebatte. Der akademische Literaturbetrieb produziere nur Lehrer- und Ärztekinder aus dem deutschen Bürgertum, befand der Literaturwissenschaftler Florian Kessler. Der Schriftsteller Maxim Biller rügte, dass Literaten ihre Migrationserfahrungen zu wenig in ihrer Literatur thematisierten. In einem sehr persönlichen offenen Brief hatte auch Grjasnowa, die „Literarisches Schreiben“ in Leipzig, Berlin und Moskau studiert hatte, Stellung bezogen. Vor allem für eine selbstbestimmte Literatur.

In der Auflistung fehlte sie, weil Kessler annahm, dass Literaten mit exotisch klingenden Namen auf keinen Fall intellektuelle, akademisch gebildete Eltern haben könnten. Die Grjasnowas lebten inmitten von Büchern. Und sie selbst durfte fraglos studieren, auch wenn das Geld zu der Zeit gerade knapp war. Olga Grjasnowa sucht sich ihre Themen im Privaten genauso wie im Globalen, ohne dass sie auf stereotype Migrantenliteratur abzielte.

Ja, es gibt eine neue junge Stimme in der deutschsprachigen Literatur. Man sollte sie lesen und ihr zuhören. Am 14. Oktober liest Olga Grjasnowa im Literaturhaus.

Olga Grjasnowa: „Die juristische Unschärfe einer Ehe“, Hanser, 272 Seiten, 19,90 Euro