Hamburg. Josep Caballero Garcia untersucht auf Kampnagel alternative Familienmodelle: „Disparade Families“. Ein Abend, den man aushalten muss.

Die Zuschauer auf Kampnagel spielen ein Spiel. Genannt werden Begriffsdoppel, und je nachdem, ob man eher dem ersten oder dem zweiten Begriff zuneigt, macht man einen Schritt nach vorn oder einen zurück, es entsteht eine Choreografie der gemeinsamen Haltungen. Also: „Techno oder Wiegenlied?“, die Mehrheit schreitet voran. „Berge oder Meer“, großes Durcheinander. „Eltern oder Andere“, zögerliche Schritte zurück. Oha.

Sigmund Freud erkannte, dass vieles, mit dem man sich als Erwachsener herumschlägt, im Verhältnis zu den Eltern begründet ist. Das Prinzip Familie mag etwas sein, das Schutz bietet, aber dieses Prinzip ist auch voller Fallstricke, Verletzungen, Gewaltstrukturen. Einen Ausweg bieten alternative Familienmodelle, Wahlfamilien etwa, das, was der Choreograf Josep Caballero Garcia als „Disparade Families“ bezeichnet.

Theater Hamburg: Oh Mann, kann Familie nerven – durchaus auch die Wahl-Familie

Sein gleichnamiges Stück auf Kampnagel „ist eine Hommage an die selbstgewählte Loslösung vom Hineingeborenwerden“, so der Programmzettel – klingt harmonisch. Aber wer Garcias bisherige Arbeiten auf Kampnagel kennt, beispielsweise das sich ebenfalls an Familienstrukturen abarbeitende „Who’s afraid of Raimunda“ (2020), der weiß, dass dieser Choreograf es sich nicht zu einfach macht. Dem Publikum auch nicht.

Denn: Man kann sich einer Wahlfamilie anschließen, aber seine Wunden trägt man mit. Es geht also darum, „dass man sich seine Familie nicht immer aussuchen kann“, und entsprechend ist die Suche nach den Menschen, mit denen man sich gemein macht, auch eine Antwort auf die Frage, wie viel man den anderen zumuten möchte. Und wie viel man selbst bereit ist, sich zuzumuten. Heißt: Garcia und sein Team zeigen Menschen, die anstrengend sind, die nerven. Familie im positiven Sinn ist dann auch die Bereitschaft, das gegenseitige Nerven auszuhalten.

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Performt werden Zuneigung, Empathie und Hilfe. Und gedankt? Wird einem das nicht. „Das dauert mir echt zu lang hier!“, giftet Peter Frost (Der Cora) in Richtung Enis Macis, nachdem der kurz zuvor um Hilfe gebeten wurde. Tja. Und dabei ist es gleichzeitig schön, wie das Stück immer wieder die Richtung wechselt, mal spielerisch daherkommt, mal aggressiv, mal berührend. Und mal nervig. Dass das als Performance nicht in sich geschlossen wirkt, ist gewollt, dass der Abend in seinem Entwurf von Sexualität aber überraschend stark auf den Reproduktionsgedanken fokussiert, stört dann doch. Da war man schonmal weiter, oder?

Und vielleicht gehört das am Ende auch dazu: dass man sich mal gestört fühlen darf. Muss man dann eben aushalten.

Disparade Families bis 30. November, 20.30 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 20, Tickets unter 27094949, www.kampnagel.de

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